Uwe Johnsons «Zwei Ansichten» erscheinen in einer kommentierten Neuausgabe. Die von Politik ebenso überschattete wie angetriebene Liebesgeschichte, die im Jahr 1961 spielt, findet eine interessante Parallele in Sally Rooneys aktuellem Bestseller «Schöne Welt, wo bist du».
«Ich hoffe sehr, dass Du Dich in Deiner alten Atelier-Wohnung nicht langweilst und dass dort allmählich etwas entsteht», schreibt der Verleger Siegfried Unseld am 14. Juli 1963 an seine grosse Nachwuchshoffnung Uwe Johnson. Sanft übt er Druck aus auf den fast 29-jährigen Autor, von dem er im Suhrkamp Verlag schon «Mutmassungen über Jakob» und «Das dritte Buch über Achim» veröffentlicht hat.
Uwe Johnsons langer Weg zu «Jahrestage»
Aber Johnson lässt sich nicht drängen. Langsam, Schritt für Schritt, entwickelt sich die Geschichte der Krankenschwester D. und des Fotografen B., die einander kennenlernen, dann aus den Augen verlieren, durch den Bau der Berliner Mauer getrennt werden – und sich dann doch wiederfinden. Und die am Ende den Titel «Zwei Ansichten» bekommt. Eigene Erfahrungen fliessen ein. Johnson hat bis 1959 in der DDR gelebt, seiner Freundin und späteren Frau gelingt im Februar 1962 die Flucht.
Nur den Bau der Mauer selbst hat er verpasst, aber er wird in den nächsten Jahren ausgiebige Gespräche über die Situation der geteilten Stadt, vor allem aber über die Lage ihrer Bewohner führen. Als 1965 dann «Zwei Ansichten» in der Druckerei gesetzt wird, befindet er sich mit Günter Grass auf Lesereise in den USA, wo er die New Yorker Verlegerin Helen Wolff kennenlernt. Sie wird ihm in ihrem Verlag eine Stelle als Schulbuchlektor anbieten – ein Aufenthalt von 1966 bis 1968, der dann den Boden legt zu Uwe Johnsons zwischen 1970 und 1983 erscheinendem Hauptwerk, den vierbändigen «Jahrestagen». Die wiederum knüpfen in Thematik und Personen an dieses Frühwerk an und verknüpfen die Geschichte der deutschen Teilung mit den Verstrickungen der USA in den Vietnamkrieg.
«Zwei Ansichten» gilt schon den Kritikern jener Zeit als eine Parabel über eine geteilte Welt. Bipolar ist diese Welt auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung der Sowjetunion – und unübersichtlicher denn je. Ihre inneren Brüche greifen nicht selten tief in menschliche Schicksale ein, und deshalb lohnt eine Lektüre noch immer.
Zumal jetzt bei Suhrkamp die Rostocker Ausgabe der Werke Uwe Johnsons erscheint. Auf der Basis des Nachlasses des 1984 mit nur 49 Jahren verstorbenen Schriftstellers sind gerade die Bände 4 (Karsch und andere Prosa) und 5 (Zwei Ansichten) herausgekommen, beide mit reichhaltigen Nachwörtern und vielen Anmerkungen versehen. Man kann also mit Genuss und Gewinn eintauchen in eine Zeit, die uns mittlerweile etwas fern ist. Und man kann auch die minutiöse Detektivarbeit bewundern, die hinter dieser Ausgabe steht.
Sally Rooneys Porträt zweier Paare
Doch Uwe Johnson beschreibt in der ihm ganz eigenen Sprache nicht nur den Zusammenstoss von Ost und West, von Kommunismus und westlicher Demokratie. Im Zentrum steht vielmehr der Weg zweier Menschen zueinander – ein zeitlos aktuelles Thema, wie gerade wieder die Irin Sally Rooney mit «Schöne Welt, wo bist du» beweist.
Auch hier spielt das Politische eine nicht unerhebliche, wenn auch unauffälligere Rolle. Rooney, vom «Spiegel» als «Millenial-Marxistin» porträtiert, beschreibt in ihren Romanen «Gespräche mit Freunden», «Normale Menschen», und jetzt eben mit «Schöne Welt, wo bist du», die unspektakuläre Welt junger Menschen. Sie tut es in einer ebenso unspektakulären, aber sehr genauen Sprache, die Intimität erzeugt und von Melancholie durchzogen ist.
«Schöne Welt, wo bist du» handelt von vier Menschen: von den Freundinnen Alice und Eileen, die miteinander in intensivem Mailverkehr stehen, und von Felix und Simon, zu denen sie Beziehungen knüpfen. Unterschiedliche Erzählperspektiven wechseln sich ab, das gibt dem Buch einen bestimmten Rhythmus. Man spürt das Bedürfnis nach Sicherheit in einer von Unsicherheit geprägten Zeit.
Immer wieder tauschen Eileen und Alice sich darüber aus, was denn heute politisch geboten wäre. Auch hier spürt man die Sehnsucht nach Orientierung. «Ich war heute im örtlichen Laden, um mir etwas zum Mittagessen zu kaufen, als mich mit einem Mal ein sehr merkwürdiges Gefühl überkam – die spontane Erkenntnis, wie unpassend dieses Leben ist», schreibt Alice. Eileen fühlt sich ganz ähnlich. Nämlich so, «als würde ich nach unten schauen und zum ersten Mal wahrnehmen, dass ich auf einer winzigen Kante in schwindelnder Höhe stehe».
Das Leben in schwindelnder Höhe ist anstrengend, auch wenn gar nicht viel passiert. Es ist anstrengend, eine «fast wertlose oder sogar vollkommen wertlose Existenz» zu führen, wie Alice deprimiert feststellt, bevor sie von der am Anfang ebenfalls ziemlich deprimierenden Begegnung mit Felix berichtet. Trotzdem werden die beiden recht unterschiedlichen Menschen einander näher kommen, während Eileen um Simon kreist, den sie schon lange kennt.
Wie kann man Distanz in Nähe verwandeln, fragen die beiden Frauen sich in diesem Buch, das sich abseits aller Liebesromantik bewegt. Und das gerade deshalb ein sehr wahres Bild unserer fragilen Zeit und einer fragilen Generation vermittelt, die ihr Leben in einer scheinbar unerschöpflichen Warenwelt als zunehmend sinnlos empfindet.
Uwe Johnson: Zwei Ansichten, und: Karsch und andere Prosa, Rostocker Ausgabe der Werke, Band 5 und 4, Suhrkamp-Verlag 2021
Sally Rooney: Schöne Welt, wo bist du, Claassen-Verlag 2021