Nach Jahren der Einsamkeit und Entbehrungen kehrte der Mann zurück und pochte erneut an die Tür. Wiederum fragte die Stimme „Wer ist da?“ Der Mann antwortete „Du bist es.“ Da öffnete sich ihm die Tür.
Kafka?
Von wem stammt das? Vielleicht dachten Sie, so wie ich, zuerst an Kafka und hätten damit falsch geraten. Möglicherweise kam Ihnen auch Martin Buber in den Sinn, der Philosoph des Du, und Sie hätten auch damit falsch getippt. Das Geschichtchen stammt von Dschelal ed-Din Rumi (1207-1273), auch Mevlana, Meister, genannt, dem persischen Mystiker, Dichter und Begründer des sufistischen Mevlana-Ordens.
Vielleicht haben Sie auf einer Reise in die Türkei in der Stadt Konya, wo er wirkte und in einem Mausoleum begraben liegt, seine Nachfahren im Glauben, die Tanzenden Derwische, gesehen.
Die Einsamkeit des reichen Mannes
Nicht nur zu Kafka, auch zu dem schon im Alten Testament erwähnten Chassidismus liessen sich Bezüge herstellen. Unter den von Martin Buber gesammelten chassidischen Erzählungen (Zürich, 1949) figuriert die Geschichte des reichen Mannes, der sich zum Rabbiner begab und über seine Einsamkeit klagte. Er habe als armer Mann viele Freunde gehabt, aber alle hätten sich von ihm abgewandt, als er reich geworden sei.
Der Rabbiner führte ihn ans Fenster und fragte ihn: „Was siehst du?“ – „Ich sehe einen Marktplatz“, erwiderte der Mann, „viele Menschen und ihr fröhliches Treiben.“ Da nahm der Rabbiner eine Silberfolie, klebte sie aussen an die Fensterscheibe und fragte den Mann: „Was siehst du jetzt?“ – „Nur mich“, erwiderte der Mann.
Altes Testament - Mevlana – Kafka: Jahrtausende voneinander getrennt und doch ähnliche Gedanken und Gestaltungsweisen. Sie ziehen sich von wer weiss wie weit her bis in unsere Tage. Jeder Schriftsteller kann darüber seufzen, was im 17. Jahrhundert ihr französischer Kollege Jean de la Bruyère schrieb: „Alles ist gesagt, und man kommt zu spät seit mehr als siebentausend Jahren, dass es Menschen gibt, und die denken.“ (Tout est dit et l'on vient trop tard depuis plus de sept mille ans qu'il y a des hommes et qui pensent.). Er variierte damit, was zweieinhalb tausend Jahre vor ihm König Salomon gesagt hatte: Es geschieht nichts Neues unter der Sonne.
Anstösse in Troja
Neulich war ich in Troja – Steine, Mauerreste, grasbewachsen, nur dem Träumer noch bedeutungsvoll. Ich nahm die Gelegenheit wahr, Teile der Ilias wieder zu lesen. Da drängte sich mir die Frage auf, was eigentlich in heutigen Romanen steht, was nicht schon vor fast 3000 Jahren Homer beobachtet und gestaltet hat?
Weiter fragte ich mich: Was die Schauspiele von heute bieten, das nicht schon bei Aischylos und Sophokles zu lesen ist und auch im heutigen Leben beobachtet werden kann? Wer etwa hätte nicht unter Hitler oder Stalin zum eigenen Unheil gesagt, was die gefügige Chrysothemis ihrer rebellischen Schwester Elektra sagt: „Es ist nicht das Rechte, was ich tue. Recht ist was du tust; aber ich will leben, deshalb muss ich tun, was die Mächtigen verlangen.“
Von Homer bis Ramuz
Bei Homer, Aischylos und Sophokles waren Götter die Hauptakteure; bei Racine, der ihre Themen aufnahm, fielen die Götter weg, es blieben die Könige und Fürstinnen; beim Lausanner Schriftsteller Ramuz, der sich ausdrücklich darauf bezog, verschwanden auch die Kronen, und es blieben nur noch die Weinbauern. Aber die Themen sind sich über die Jahrtausende hinweg gleich geblieben: Liebe, Eifersucht, Ehre, Kampf, Mord und Rache.
Nicht anders ist es in der Philosophie: Der britische Philosoph Alfred North Whitehead (1861-1947) postulierte, der Erkenntnisweg der abendländischen Philosophie bestehe im Grunde genommen nur aus Fussnoten zu Platon. Tatsächlich, was ist seit Platon in der Philosophie geschrieben worden, das Platon nicht schon erörtert, vielfach besser erörtert hat?
Das Weinen der Maturandin
Ein Lehrer erzählte mir, er habe seinen Maturanden zu erläutern versucht, dass der Mensch zwar in der Technik enorme Fortschritte erzielt habe, aber im rein menschlichen Bereich der alte geblieben sei: Er weine, wenn er Schmerzen habe, lache, wenn er fröhlich sei. Das gelte nicht nur horizontal, wie etwa bei Shakespeare für Juden wie für Christen, sondern auch vertikal über die Jahrtausende hinweg.
Eine Schülerin widerspach ihm erregt. Sie sagte, es könne, ja, es dürfe nicht sein, dass der Mensch sich im Laufe der Zeit nicht auch entwickelt habe und zu Besserem, Höherem aufgestiegen sei. Als es dem Lehrer nach längerem reden und gegenreden gelang, die Schülerin zu überzeugen, brach sie in ein heftiges Weinen aus. Der Lehrer hatte ihr etwas vom Teuersten, das ein Mensch verlieren kann, geraubt: eine Illusion.