In der Rangliste der weltweit meist aufgeführten Opern rangiert „La Bohème“ von Giacomo Puccini seit Jahrzehnten unter den ersten zehn, fast in einem Atemzug mit Mozarts „Zauberflöte“, Bizets „Carmen“ und Verdis „La Traviata“. Ein Werk also, das jeder Opernfreund beinahe schon in- und auswendig kennt, auch in legendären Produktionen gesehen und unter den grössten Dirigenten schon gehört hat.
Geglücktes Wagnis
Das Wagnis, sich mit einem so bekannten Werk in einer Musikstadt wie Basel vorzustellen, ist also nicht gering. Die junge, erst 41-jährige estnische Dirigentin Kristiina Poska ist es am Theater Basel eingegangen und hat damit, um es in einem Wort zu sagen, auf Anhieb reussiert. Die frische Brise, die an diesem Premierenabend durch den Orchestergraben wehte, war nicht zu überhören. Was uns von Solistinnen und Solisten von der Bühne her erreicht, ist meist von deren individuellen Gesangs- und Gestaltungsvermögen abhängig.
Doch wie ein Orchester, welches sich schon längst etabliert hat und unseren Ohren vertraut ist, unter neuer Leitung klingt, ist spannend. Und hier hörte man, wie auch schon vor einem Jahr bei Poskas Gastdirigat von Strawinskys „The Rake’s Progress“, plastische Klänge, zupackend, hell und klar, eine Mischung zwischen schwungvoller Italianità und nordischer Frische (man verzeihe mir den Allgemeinplatz).
Im Niemandsland der Banlieues
Solchermassen musikalisch unterstützt, stürzten sich auch die Protagonististen auf der Bühne in eine zeitgenössische Interpretation des Bohème-Themas. Was bei dem der Oper zugrunde liegenden Buch „Scènes de la vie de bohème“ des Pariser Autors Henri Murger eine ungeschönte Darstellung des elenden Künstlerlebens innerhalb der romantisch verbrämten, vielgepriesenen Pariser Bohèmewelt von 1849 war, nahm der amerikanische Regisseur Daniel Kramer zum naheliegenden Anlass, dieselbe Szenerie 170 Jahre später innerhalb eines heutigen, bohèmehaften Überlebenskampfs anzusiedeln: eine Ecke im Niemandsland der Banlieues vor Paris, ein ärmlicher Raum und fast noch ein Baustelle im Rohzustand (Bühne Annette Murschetz).
Hier haben sich vier Künstler zu einer Notgemeinschaft zusammengefunden, hier wird gemeinsam gearbeitet, gefroren und gehungert, aber, wenn sich die Gelegenheit ergibt, auch mal gealbert und gefeiert. Allzuviel hat sich ja in der Künstlerszene bis heute – trotz des Stipendienwesens und anderer Verbesserungen – nicht wirklich verändert. Was bei Puccini bei allem einschlägigen Kolorit in grosser Melodienseligkeit 1896 noch aufblühte, waren und sind auch heute nur abgenutzte Träume, welche selten genug in schöpferischem Glück, aber oft in persönlichen Katastrophen enden.
Vielbejubelter Opernabend
Zu diesem Künstler-Kokon von Rodolfo, dem Dichter (Davide Giusti), dem Maler Marcello (Domen Krizaj), dem Musiker Schaunard (Gurgen Baveyan) und dem Philosophen Colline (Paull-Anthony Keightley) stossen die kleine Blumenstickerin Mimi (Cristina Pasaroiu) und die leichtlebige Tänzerin Musetta (Valentina Mastrangelo). Sämtliche Rollen sind in Basel ausgezeichnet besetzt, hervorstechend die ausdrucksvollen, strahlend aufblühenden Stimmen des Liebespaares Mimi und Rodolfo.
Die bei Puccini – bzw. bei dessen Librettisten Illica und Giacosa – an Tuberkulose leidende Mimi wird in Basel im letzten Akt sehr zeitgeistig zu einer kahlköpfig gewordenen, an Krebs Erkrankten uminterpretiert, was ein wenig verkrampft modernistisch wirkt, aber seine Schockwirkung nicht verfehlen dürfte. Auch die als Alltagseinbruch von heute kreirten Sound-Intermezzi (Marius und Ben de Vries) sind gewöhnungsbedürftig, können aber am Gesamteindruck dieses erfolgreichen und vielbejubelten Opernabends nichts ändern. Ob Kunst oder Liebe: Nichts von „in Schönheit sterben“ – Überleben ist alles! Wie singt es Rodolfo in seiner ersten Arie doch wieder: „E come vivo? Vivo!“
Nächste Vorstellungen: 18., 27., 31.Dezember