Den Blick der Flüchtlinge, der Durchreisenden und der Fremden, die dann bleiben, braucht jede Stadt. Sonst stockt der Teig der Einheimischen. Manchmal werden die Blicke erst nach Jahrzehnten sichtbar, wie in dieser eben erschienenen Edition.
Zürich, zum Beispiel, aus den Augen eines Emigranten, der im März 1933 aus Berlin dorthin fuhr; er mochte die Stadt schon länger, die Mischung aus Großstädtischem und Natur. Es war zwar im fremden Land, aber hier sprachen sie noch Deutsch. Er wäre gern geblieben; bekam eine sofort fällige Steuerforderung noch bevor sein Antrag auf Aufenthaltsbewilligung Wochen später – abgelehnt wurde. Aber bis er ins Londoner Exil im Juli weitermusste (und im Jahr darauf, während seines letzten Sommerurlaubs in Zürich) schrieb er Dutzende von Briefen, in denen er den Tagesablauf eines Müßiggängers in der bunten Stadt erzählt, von Spaziergängen, Schiffsfahrten, Kneipen, Zirkus und täglichen Begegnungen. Das Zürich der durchreisenden politischen Flüchtlinge auch, geängstigter Menschen, die sich von den ersten Selbstmorden unter Emigranten erzählten, und die in Paris, Prag oder in der Türkei und den USA dann aufgenommen wurden. Eine Kostprobe:
«Ich lungerte etwas um den Zirkus herum, wo die Musik zur Reklame spielte, ging dann bis Zürichhorn, saß dort in praller Sonne auf einer Bank, auf der Höhe von Küsnacht waren elf weiße Segel, im Hintergrund kamen schneebeladen die Berge hervor, die Wasser glucksten und ich träumte zu Dir hinüber (…) Nachher ging ich also ins Cornichon-Kabarett, der Baschwitz war schon da, wir hatten ganz hinten schlechte Plätze, da sah mich aber der Dr. Weissert, der ja das Ganze leitet, und tauschte sie mir gegen zwei an Tisch 1, erste Reihe, um … Das Kabarett war äußerlich ganz ähnlich wie die Retorte seligen Angedenkens, bürgerlicher Bierausschank, und bombenvoll mit gutem Publikum, da saß ich also endlich wiedermal in einem Kabarett, seit wie lange? zum ersten Mal wieder! Und dann war es wirklich sehr amüsant, das ging wirklich auf der Linie wilde Bühne und Tingeltangel, fing gleich mit einer guten Sache an: ‹Weißt du, wie viele Schweizer Zeitungen verboten sind? … nur der Goebbels hat sie gezählt› (…) Nummern, alle frisch, selbständig, wagemutig, ein scharfes ‹Lied von den großen Führern›, eine Parodie gegen den ‹Schweizer Bundesrat›, also gegen das eigene Nest gerichtet. Hier, in der viel verlästerten Schweiz, existiert also zumindest ein aggressives, kulturpolitisch kämpfendes, geistiges Kabarett – und in dem Welt-Nest London?» (31.8.1934, nach dem ersten Londoner Jahr).
Schlankweg gesagt; wenn Sie Freunde haben, die sich über eine unterhaltsame wie gewichtige Lektüre übers ältere Zürich erfreuen könnten, dann wäre dies ein Appetizer gewesen. Wenn Sie Berlin-Erfahrene bedenken wollten, hier:
Zuvor die Roaring Twenties in Berlin
«Für mich war der Mittwoch einer der besten Tage meines Lebens. Nämlich ich ging mit Karl Valentin, Liesl Karstadt und Wiesenthal mittags essen, im Bärenstübl, das war schon lustig, hernach zu Mampe am Kurfürstendamm ‹auf a Mulpen!›, um 7 ins Kino zu Chaplins Zirkus-Film, ein ganz großes Erlebnis, herrlich, dazu Valentins Bemerkungen, dann mit Valentin und der Karstadt in den Burgkeller, schließlich zur Nachtvorstellung, wo Valentin was Neues spielte, eine Radioszene, ganz ungeheuerlich, dass ich wie vorher bei Chaplin schrie vor Vergnügen, zuletzt noch allesamt im Klaussner (…). Ein ganz glückhafter Tag – ohne Erotik.» Ein Februartag zwischen zwei Weltkriegen, Berlin 1928. Der 42-jährige Max Hermann-Neiße fasst ihn in einem seiner Briefe, die nun auf mehr als 2000 Seiten sichtbar werden: Nahsicht auf den Treibsand einer Kulturgeschichte. Eine private Mitschrift ohne Gedanken an Archive, alltagsgenau, emotional. Er schreibt meist an einen Freund aus der schlesischen Heimatstadt oder die geliebte Frau. Man kann diese Briefe nun neben die Briefe stellen von Franz Jung – der mit ihm befreundet war – und von Gottfried Benn – den er nach dessen Schulterschluss mit den Nazis verachtete. Die zwei dicken Bände sind eine Großtat des Verbrecher Verlags. («Verbrecher»? – ein Juxname aus der Startphase, die mit dem ersten Roman des damals 25-jährigen Dietmar Dath loslegte.) Seit über fünfzehn Jahren zeigt Verbrecher von Berlin aus, was Verlegerei sein kann, wenn es um eigenwillige Zeitsichtung, anarchische Neugier und Rückbindung an abgedrängte Traditionen geht.
Neben Alfred Döblin auf dem Podium
«– ohne Erotik»: der Schlussseufzer verweist auf Unerfülltes, das der von Geburt an gnomenhaft verwachsene Mann quer durch die Jahre beklagt; der Adressat des Briefs versorgt ihn öfter mit erotischen «Bildchen». Wenn Max Hermann an seine Frau Leni schreibt, liefert er auch Innenansichten von Puffs. Erotik interessiert ihn so wie die Fassung eines seiner tausend Gedichte, wie das Wetter, Geselligkeit in Kneipen, die Lektüre des druckfrischen «Der Mann ohne Eigenschaften». Seine weit ausgreifende, genießerische Aufmerksamkeit macht diese Briefe zur Fundgrube einer Epoche. Max Hermann aus Neiße, Studienabbrecher, früh zu einem Leben als freier Autor entschlossen, war 1928 als Lyriker, Romanautor und Varieté/Theater-Kritiker auf der Höhe seines Ruhms. Auf Podien saß er neben Alfred Döblin. Im Vorjahr wurde er (als Dramatiker) mit dem ersten Gerhart Hauptmann-Preis ausgezeichnet; den Eichendorff-Preis hatte der S. Fischer-Autor bereits. Wenn die Umstände danach sind – ein cantus firmus vieler Briefe –, steht er lieber spät auf und lässt den Tag erst weit nach Mitternacht mit Bier und Gin absinken. Einer der genüsslich notiert, was er isst: Er hat genügend Hungerjahre hinter sich, in denen er für wenig mehr als das tägliche Essen in Varietés mit eigenen Gedichten auftrat.
Fünf Jahre später begann sein Niedergang im Exil. Ein Schlesier aus Berlin, den seine Frau Leni im März 1933 nach Zürich verfrachtete, als er Deutschland «von den verbrecherischen Barbaren einstweilen okkupiert» sah. Und der sich nach 7 Jahren im ungeliebten London, mitfinanziert vom Zweitmann seiner Frau, vergeblich um einen britischen Pass bemühte mit der Präzisierung: er sei «the only firm and true, no Jewish, no communistic Antihitler Poet of the German Emigration».
Ein Dichter wird vergessen
Nach seinem Tod 1941 fiel Hermann-Neiße lange aus dem Traditionszusammenhang deutscher Lyrik, wo er zwischen den Stimmen von Heym und Kästner, Kaleko und Benn gehört werden müsste. Erst in den 80er-Jahren brachte ihn Klaus Völker mit einer zehnbändige Werkausgabe zurück. Sie war von Hannes Jähn schön gestaltet, mit Einbandmotiven von Johannes Grützke. An die Ästhetik dieser «Zweitausendeins»-Ausgabe schließen die Briefbände des Verbrecher Verlags nun an.
Lob des Verbrecher Verlags
Dass der Verleger Jörg Sundermeier – Lesern von taz und Jungle World durch seine kühle, brennende Beobachtung der Literaturbranche bekannt – für ein solches Projekt in Frage kam, hängt mit dem Renommee dieses wilden Lesers zusammen; die Edition der Tagebücher von Erich Mühsam in sorgfältig gestalteten Büchern, parallel zum wachsenden Netzprojekt, wurde weithin gewürdigt. In der Ambition, mit der sein Verlag die Werkausgaben von Giwi Margwelaschwili, Rudolf Lorenzen und Gisela Elsner ausbaut, Gedichte von Peter Chotjewitz auch posthum sammelt, zeigt sich eine selten gewordene Verlegertugend: Themen zu setzen, mit langem Atem.
Max Hermann-Neiße
Briefe. Ausgabe in zwei Bänden
Herausgegeben von Klaus Völker und Michael Prinz
Verbrecher Verlag 2012
Bd. 1, 1906–1928, 1088 Seiten
Bd. 2, 1929–1940, 1096 Seiten