„An Liberalismus gehen die Völker zugrunde“ – dieser Satz des „Dritte-Reich“-Theoretikers Arthur Moeller van den Bruck kursiert heute in der Szene der Neuen Rechten. Und das Unangenehme daran ist, dass er an Plausibilität gewinnt. Vor allem, wenn man einen Rundblick in die politische Gegenwart wirft. Nicht nur greift faktisch in zahlreichen Ländern ein politischer Autoritarismus Platz, auch theoretisch steht die Legitimation des Liberalismus zur Debatte.
Gegen die Liberalen
Ein Autor, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Gedankengut Moeller van den Brucks wieder aufgriff und propagierte, war der gebürtige Basler Philosoph und Journalist Armin Mohler, der sich zurzeit in Kreisen der „konservativen Revolutionäre“ einer Wiederentdeckung erfreut. Man hat ihn auch als den geistigen Vater von Pegida und der AfD bezeichnet. 1988 schrieb er sein Pamphlet „Gegen die Liberalen“, dem van den Brucks Zitat als Motto vorangestellt ist. Der Antaios Verlag, Vertreiber rechter bis rechtsextremer Literatur, hat es 2010 in erweiterter Version neu publiziert. [1] Das 80-seitige Büchlein bietet den Vorteil der schlanken Lektüre. Man liest es zum ersten Mal schnell als eloquent-exaltierte Suada über die Liberalen, um es aber dann gleich noch einmal – langsamer – zu lesen. Und bei der Relektüre bleibt man an Haken hängen, die uns aufschlussreichen Einblick in das rechte Denken geben. Mohler starb 2003, und wenn er heute etwas bewirkt, dann dies: Er schreckt uns in unserer liberalen Gemütlichkeit auf und zwingt uns, ein inzwischen schon fast banal gewordenes liberales Vokabular – „Freiheit“, „Individuum“, „Gleichheit“, „Demokratie“, „Universalität“ – neu zu überprüfen. Wir sollten Mohler für sein Bild „des“ Liberalen dankbar sein, denn es führt uns durch die antiliberale Munitionsfabrik. Machen wir eine kleine Tour.
Die ungleiche Gleichheit
Rechtes Denken hebt die Partikularität und Lokalität, die „Verwurzelung“ des Menschen in besonderen, „eigenen“ Lebenswelten hervor. Deshalb ist Mohler die „Gleichheits-Ideologie“ ein Dorn im Auge. Er beruft sich auf den in rechten Kreisen bekannten Soziologen Robert Hepp, der richtig feststellt, dass Gleichheit ein relativer Begriff ist – man muss stets fragen: gleich in Bezug auf was? Je weniger Vergleichsmerkmale man an die Objekte anlegt, desto grösser wird die Menge gleicher Objekte. In Bezug auf die beiden Merkmale Zweibeinigkeit und Ungefiedertheit kann man die meisten Menschen als gleich betrachten.
Das ist ziemlich trivial, aber daraus lässt sich eine Logik der Ungleichheit zimmern. Hepp nennt die Anzahl der Merkmale die „Intensität“ der Gleichheit. Ich ziehe den Begriff der Qualität vor. „Alle Menschen sind gleich“ drückt eine wenig qualifizierte Gleichheit aus. Ihr stellt Hepp eine Gleichheit gegenüber, die sich über viele Merkmale – ethnische, kulturelle, historische, geographische und weitere – definiert. „Alle Deutschen sind gleich“ ist so gesehen eine „bessere“, eine qualifiziertere Gleichheit. Qualifizierte Gleichheit gibt es nur unter „gleichartigen“ Menschen, in einer Gemeinschaft, die sich durch eine hinreichend grosse Zahl von Merkmalen identifiziert und gegen andere Gemeinschaften abgrenzt. Man nennt das heute Identitätspolitik.
Dieser Gleichheitsbegriff entpuppt sich als ein verkappter Ungleichheitsbegriff: „Unseresgleichen“ ist nicht gleich „anderesgleichen“. Deshalb kann Hepp schliessen: „Wenn unsere Superdemokraten (...) die ‚Menschheit‘ als Tertium Comparationis ihres weltweiten Vergleichs anvisieren, verwirklichen sie also nicht mehr, sondern weniger Gleichheit und Demokratie.“ Das heisst, es gibt eigentlich nicht „die“ Menschheit, sondern „Menschheiten“: ethnische, kulturelle, historisch gewachsene partikuläre Einheiten. Jeder Universalismus vermindert „echte“ Demokratie.
Das Grundübel: die Abstraktion
Woher stammt die Gleichheits-Ideologie? Für Mohler ist die Antwort klar: aus „der Abstraktion“ – der Urwurzel liberaler Missstände. Nichts ist Mohler verhasster als der „Abstraktionen verfallene Liberale“. Und die schlimmste Abstraktion ist „die Vorstellung eines ‚autonomen‘ Individuums“, das in den aufgeklärten Gesellschaftsentwürfen vorkommt. Sie entspringt dem „Intelligibilitäts-Wahn“, der unter Liberalen „verbreitetsten Geisteskrankheit“: „Sie besteht darin, dass man das, was man im Kopf hat, mit der Welt als Ganzem identifiziert. Was natürlich eine gewaltige Überschätzung des Menschen ist. Wie kann ein Mensch, der stündlich an seine Endlichkeit, seine Unzulänglichkeit und Sterblichkeit erinnert wird, auch nur auf die Idee kommen, er könne mit seinem Gehirn den Gang der Welt auch nur bis in alle seine Verästelungen nachvollziehen?“
Ja, wirklich, wie kann man nur? – Der rhetorische Trick ist offensichtlich. Indem Mohler „dem“ Liberalen einen „Intelligibilitäts-Wahn“ unterstellt, munitioniert er zugleich Vorurteile beim „normalen“ Menschen – dem endlichen, unzulänglichen, sterblichen. Und wer ist das nicht? „Der“ Liberale steht da, krankhafter Überheblichkeit überführt. Er theoretisiert, er ist naiv, weltfremd, realitätsblind, er redet nur, er hat – wie das erste Kapitel betitelt ist – „nix wie gute Absichten“, während der „normale“ Mensch in Situationen lebt, „in denen es nur verschiedene Arten von Scheitern gibt, in denen keine Gerechtigkeit möglich ist, wo nur Wunden bleiben – das vermag der Liberale sich gar nicht zu denken“. Was Mohler hier im feineren Ton anstimmt, ist letztlich nichts anderes als Intellektuellen-Bashing, das heute bis hinunter zur schwiemeligen Turnhallenversammlung betrieben wird.
Das „Drei-Uhr-morgens-Denken“
„‚Individuum‘, wie die Liberalen es sich vorstellen, ist (der Mensch) höchstens mitten in der Nacht, wenn er um drei Uhr erwacht, alles um ihn reglos ist, alle Fäden zum Leben abgeschnitten (...) – und er das Gefühl hat, in nichts verwoben und verwickelt zu sein.“ Mit anderen Worten: Das Individuum ist eigentlich ein Nachtmahr. Alle liberalen Gesellschaftsentwürfe entspringen einem solchen „Drei-Uhr-morgens-Denken“.
Mit seiner Kritik des Abstrahierens und „Drei-Uhr-morgens-Denkens“ zielt Mohler auf die erkenntnistheoretische Basis des Liberalismus. Wiederholen wir seinen Grundvorwurf in aller Kürze: „Der“ Liberale erhebt einen Anspruch auf eine allgemein verbindliche, „universalistische“ Welterklärung, den er letztlich nicht rechtfertigen kann. Damit bauen insbesondere die liberalen Gesellschaftsmodelle auf einem „unbegründeten“ Grund. Sie setzen sich über historisch gewachsene, ethnische, kulturelle, regionale Eigenheiten der Menschen hinweg und werfen sie allesamt in den grossen vereinheitlichenden Topf des „Individuums“.
Die „nominalistische Wende“
Was kann man intellektuell dagegen tun? Zur Antwort holt Mohler in einem anderen Aufsatz mit grosser philosophischer Geste aus. Er spricht von der „nominalistischen Wende“. [2] Das klingt zunächst einmal ziemlich abgehoben, führt aber direkt ins Herz neurechten Denkens. Mohler rüstet eine alte, aus der scholastischen Tradition stammende Unterscheidung um, jene zwischen Universalismus und Nominalismus. Für den Nominalisten besteht die Welt aus lauter Einzeldingen, aus Steinen, Bäumen, Pferden, Tischen, Staubsaugern. Das Wort „Staubsauger“ vereinigt alle einzelnen Geräte unter einem universellen Gesamtbegriff, aber das eigentlich Reale sind die einzelnen Staubsauger.
Man erkennt sogleich, worauf dies hinausläuft: auf die Abstraktion. Der Universalismus abstrahiert von den Besonderheiten, welche die Einzeldinge auszeichnen. Wenn ich „Staubsauger“ sage, und einige allgemeine physikalische Merkmale des Apparats meine, dann bin ich Universalist. Wenn ich mit „Staubsauger“ den eigenen meine, dann bin ich Nominalist. Die spezielle Brisanz der Unterscheidung wird natürlich nicht bei Staubsaugern, sondern bei Menschen offenkundig. Der Universalist neigt zu einer „abstrakten“ Charakterisierung des Menschen, der Nominalist sieht ihn immer in seiner konkreten Besonderheit, in seinen Verstrickungen ins soziale Leben, und das bedeutet: in seiner Zugehörigkeit zu einem besonderen Kollektiv. Aus dieser Perspektive leuchtet auch sogleich Mohlers Aversion gegen den Begriff des Individuums ein. Er ist genau jenes konzeptuelle Instrument, mit dem „der“ Liberale – und das will jetzt heissen: der Universalist – den Menschen aus seinem zugehörigen, angestammten, „realen“ sozialen und kulturellen Ort herauszureissen sucht, um einer übernationalen, kosmopolitischen Gemeinschaft willen.
„Notfalls den Gegenspieler vernichten“
Nun lokalisiert Mohler hier ganz scharf eine wunde Stelle des Universalismus. Dieser ist im Grunde immer ein Anspruch, ein Appell. Das zeigt zum Beispiel die von Hannah Arendt so genannte „Aporie der Menschenrechte“: sie werden universell postuliert, können aber nur unter partikulären, nationalstaatlichen Rechtsbedingungen realisiert werden. Und das ist letztlich ein ständiger Kampf, nicht zuletzt gegen Übergriffe auf die persönliche Freiheit vonseiten des Staats, der Tradition oder Religion. Es kann unter Umständen eben durchaus wichtig und vital sein, diese Freiheit im Namen einer supranationalen oder suprakulturellen „Abstraktion“ zu schützen, die notwendigerweise nicht in lokalen Sitten „geerdet“ ist. Und die Fähigkeit, über den Zaun seines eigenen Gärtchens der Partikularität hinauszublicken, kann selbst dem Nominalisten zugemutet werden.
Aber das will Mohler gar nicht, er sucht einen anderen, einen nicht-philosophischen Kampf: „Der nominalistische Mensch weiss, dass dem Kampf nicht immer ausgewichen werden kann, und er scheut ihn auch nicht. Und er liebt ihn sogar. Deshalb weiss er auch den guten Kampf beim Gegner zu schätzen. Um vom abstrakten Humanitarismus befallene Zeitgenossen vollends zu verstören, sei auch gleich hinzugefügt, dass dieser sich agonal verhaltende Mensch keineswegs davor zurückschreckt, notfalls seine Gegenspieler zu vernichten – dann nämlich, wenn sich die Frage ‚du oder ich’ stellt.“
Ein neurechter Ernstfall-Prober
Die Frage stellt heute Götz Kubitschek explizit, Mohler-Adept, Chef des Antaios Verlags: „... wenn der seit Jahrzehnten abwesende Ernstfall im Grossen und im Kleinen den sozialen, staatlich finanzierten Reparaturbetrieb zum Erliegen bringt (gemeint ist die Integration von Ausländern, Anm. E. K.), wird sich jeder sofort daran erinnern, wer ‚Wir’ ist und wer ‚Nicht-Wir’.“ Vielleicht – Krisen verstärken das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit. Aber ob dieser Ernstfall, den Kubitschek und Konsorten proben, notwendig eintritt, darf immer noch bezweifelt werden. Nicht so Kubitschek: „Die Gruppenexistenz des ‚Wir’ im nationalen und damit auch ethnisch gebundenen Sinn ist unhintergehbar.“
„Unhintergehbar“, voilà. „Im Grunde“ dreht sich Politik um Freund und Feind. Man hat das auch schon als „heroischen Realismus“ bezeichnet. Wenn’s kracht und knallt, kippen wir wieder ins Vormoderne und Völkische, zählt nur die Zugehörigkeit zum jeweiligen „Wir“, zur Ethnie oder Nation. Dass diese Ethnie oder Nation in der komplexen gegenwärtigen Weltlage ein windiges Produkt des neurechten „Intelligibilitäts-Wahns“ ist – also eine „Abstraktion“ im Sinne Mohlers –, fällt dabei unter den Tisch. Die Abstraktion bleibt „unhintergehbar“, das heisst, sie ist eine undiskutierbare pseudoargumentative Keule, mit einer Funktion: sie schwört uns ein auf potenzielle – ob reale oder imaginäre – Feinde.
Schlechtes Philosophieren
Schlechtes Philosophieren zeugt von einseitiger geistiger Diät. Mohlers Denken krankt an diesem Grundübel. Was er „den“ Liberalen vorwirft, erweist sich als Bumerang. Er tut genau das, was er mit Furor bekämpft: er abstrahiert. Er zeichnet eine Karikatur des Gegners, und was ist Karikieren anderes als Abstrahieren? Nur schon die Rede von „dem“ Liberalen macht das Defizit offensichtlich. Es treten keine konkreten Gegner auf. Wie wäre es mit Judith Shklar, Hannah Arendt, Karl Popper, Ralf Dahrendorf, Isaiah Berlin, Richard Rorty, John Rawls? Hätte sich Mohler auf solche Kaliber eingelassen, hätte er feststellen müssen, dass seine Kritik „des“ Liberalen grösstenteils schon von liberalen Kritikern durchgeführt worden ist – und zwar deutlich stringenter. Allein schon die Lektüre Poppers – um nur ein Beispiel zu nennen – würde Mohlers Behauptung widerlegen: „Dass man erst das Falsche tut und dann nur das Halb-Richtige, weiss (der Liberale) nicht.“ Doch, das weiss er. Popper nannte die Einsicht, dass wir mit unseren Erklärungsversuchen immer scheitern, „Fallibilismus“.
Ein philosophischer Kasper
Darum foutiert sich Mohler. Er, der gerne den Agon, den edlen Wettstreit, beschwört, ist ein philosophischer Kasper. Seine Kritik „des“ Liberalen demonstriert keinen Agon der Argumente. Mohler ist Propagandist eines verquasten „heroischen“ Menschentypus und Meister des tendenziösen Zerrbildes, ganz dem Freund-Feind-Denken seines geistigen Vorbildes – besser: Verführers – Carl Schmitt verpflichtet. Er kämpft gegen die Strohpuppe „des“ Liberalen. Lassen wir ihn sie getrost verbrennen. Das Strohfeuer erzeugt mehr Rauch und Gestank als Licht und Klarsicht.
[1] Armin Mohler: Gegen die Liberalen. Schnellroda, 2011.
[2] Armin Mohler: Der Streifzug. Blicke auf Bilder, Bücher und Menschen. Schnellroda, 2001.