Dieser Plan kann nur dem Kalkül entsprungen sein, in Libanon die dortigen Spannungen zwischen dem pro-iranischen und schiitischen Block des Hizbullah und dem bisher pro-saudischen und sunnitischen der „Zukunftspartei“ Hariris dazu auszunützen, einen Kampf heraufzubeschwören, der die beiden Blöcke gegeneinander mobilisieren sollte. Der pro-saudischen Block sollte dabei so von Riad unterstützt werden. Auf diese Weise wollte man versuchen, die Macht des Hizbullah zu schwächen, wenn nicht ganz auszuschalten.
Gegen Hariris bisherigen Kurs
Saad Hariri verfolgte seit einem knappen Jahr eine Politik der Zusammenarbeit, nicht der Konfrontation, der beiden Blöcke. Er steuerte auf Wahlen im kommenden Frühling hin, deren Ergebnis, wie immer es in den Einzelheiten ausfallen mochte, eine demokratische Machtteilung im Lande gefördert hätte, nicht eine mehr oder weniger blutige Konfrontation. Die Saudis hatten offenbar vor, ihn zu entfernen
und ihn durch eine Figur zu ersetzen, die den Hizbullah herausforderte,
statt mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das deutlichste Anzeichen, dass dies der Zweck der Manöver um Saad Hariri war, kann man in der absurden Behauptung sehen, die offiziell in Riad lanciert wurde und die besagte: „Libanon hat Saudi-Arabien den Krieg erklärt!“ Wobei unter „Libanon“ ein angeblich voll unter der Domination des Hizbullah stehendes Land angesprochen wurde.
Zusammenschluss gegen fremde Einmischung
Doch die Reaktionen in Libanon auf den saudischen Schachzug, genauer jenen des dort allmächtigen Kronprinzen, waren das genaue Gegenteil dessen, was er bezweckte. Statt eine Konfrontation zwischen den beiden politischen Polen herbeizuführen, bewirkten sie einen zuvor kaum denkbaren Zusammenschluss der Bevölkerung. Er löste eine Reaktion bei der libanesischen Bevölkerung aus, die auf energische Ablehnung der Einmischung Riads hinauslief. „Wir wollen unseren
Ministerpräsidenten zurück!“ war der Grundton der libanesischen
Reaktion. „Das saudische Ausland hat ihn, unseren Ministerpräsidenten, respektlos behandelt. Das wollen wir uns nicht bieten lassen!“ Die Libanesen erkannten, dass sie benützt werden sollten für Zwecke Saudi-Arabiens. Viele vermuteten: „und dazu gleich auch noch Israels!“
Keine Kriegserklärung Hizbullahs
„Wir wollen unseren Ministerpräsidenten zurück haben, Gott behüte ihn!“ stand auf den Plakaten, die überall in Beirut auftauchten. Natürlich
wusste jeder, dass „der Staat“ sie aufgehängt hatte, wenn nicht sogar „Le Deuxième Bureau“, wie der Geheimdienst seit der französischen Zeit immer noch heisst. Doch sie fanden viel Zustimmung. Es half, dass auch Hizbullah aus dem Mund seines Führers Nasrallah schon am ersten Tag der Fernsehdemission und trotz der heftigen Worte gegen die Schiitenpartei und gegen Iran, welche die Rücktrittserklärung enthielt, öffentlich aussprach: „Wir haben die Entfernung Saad Hariris nicht gewollt!“
Damit vermied Hizbullah jene Konfrontation mit den libanesischen Sunniten, die Riad anstrebte. Es half auch, dass die Libanesen durch ihren vergangenen Bürgerkrieg, der ja auch zu grossen Teilen ein Stellvertreterkrieg war und mindestens nachträglich als ein solcher erkannt wurde, gewarnt und einigermassen immunisiert waren. So rasch wollten sie sich nicht mehr von fremden Interessen ausnützen lassen und ihr eigenes Blut für sie vergiessen.
Die sehr entschiedene Haltung des libanesischen Präsidenten Aoun, eines Verbündeten der Hizbullah-Partei, brachte Klarheit. Er setzte die Autorität seines Amtes und die der ihm unterstehenden Dienste (wiederum „das Deuxième Bureau“) sofort dafür ein, zu unterstreichen, dass der Ministerpräsident in der ausländischen Fernsehstation möglicherweise nicht sein eigener Herr sei.
„Kein Spiegel der Wahrheit“
Nach dem zweiten Fernsehauftritt Hariris aus Riad vom vergangenen
Sonntag, diesmal in einem anderthalbstündigen Interview, das der
Sender seiner eigenen Partei in Libanon ausstrahlte, erklärte Hariri,
er sei frei zu reisen, wohin er wolle, und er gedenke „schon bald, in
wenigen Tagen“ nach Libanon heimzukehren, um seinen Rücktritt dem
Staatspräsidenten offiziell vorzulegen. Er sagte auch, seine Demission
habe er in Riad ausgesprochen, „um einen Schock in Libanon zu
auszulösen“.
Die libanesische Präsidentschaft reagierte darauf schärfer und klarer
als je mit der Aussage: „Alles was über Ministerpräsidenten Hariri
bekannt wird, oder von ihm selbst verlautet an Positionen und
Schritten, oder alles, was ihm nachgesagt wird, spiegelt nicht die
Wahrheit wider. Es ist vielmehr das Resultat der mysteriösen und
zweifelhaften Lage, in die er in Saudiarabien hineinmanövriert wird. Es kann nicht ernst genommen werden“.
Zusammenschluss der Libanesen
Die Zeitungen stimmen mit dieser Analyse ziemlich einstimmig überein,
obwohl sie normalerweise als die Sprachrohre der einander
entgegenstehenden politischen Blöcke dienen, und alle Beobachter sind sich einig darüber, dass die saudische Hariri-Episode zu mehr
Einigkeit unter den Libanesen geführt hat, als sie seit vielen Jahren
bestand. Demonstrationen für die Rückkehr des Ministerpräsidenten
wurden angekündigt. Doch das Innenministerium riet davon ab. Die
Organisatoren der Demonstration sprachen mit Vertretern der
Sicherheitskräfte und der Armee, woraufhin sie ihre Demonstrationspläne aufgaben.
Es ist anzunehmen, dass die Armee- und Sicherheitsverantwortlichen ihnen klar machten, dass Demonstrationen zu Unruhen führen könnten und dadurch möglicherweise die saudischen Pläne fördern würden. Die Sicherheitskräfte warnen auch vor der Gefahr von wechselseitigen politischen Morden, wie sie während der Jahre 2013 und 2014 in Libanon häufig waren, und sie sagen, in den Palästinenser
Flüchtlingslagern könne es möglicherweise Zellen geben, die sich zur
Ausbreitung von Unruhen missbrauchen liessen.
Wird der Kronprinz den Druck erhöhen?
Saudi-Arabien steht vor der Wahl, entweder den politischen Rückschlag
hinzunehmen, der dadurch gegeben ist, dass die Libanesen sich bisher
nicht haben instrumentalisieren lassen, oder aber den Druck auf
Libanon zu erhöhen in der Hoffnung, doch noch eine Konfrontation der
sunnitischen mit den schiitischen Kräften herbeizuführen. Viele der
libanesischen Kommentatoren weisen darauf hin, dass dies zweite sehr
wohl geschehen könnte. Saudi-Arabien besitzt viele Möglichkeiten,
negativ auf die Wirtschaft Libanons einzuwirken, und bis heute hat der
dort allmächtige Kronprinz sich eher bereit gezeigt, seinen Einsatz zu
erhöhen, wenn ihm Hindernisse entgegentreten, als nachzugeben.
In der Aussenpolitik hat er sich in Jemen und in Katar als unnachgiebig
erwiesen, obwohl er seine Ziele bisher nicht erreichen konnte. Im
Inneren des Königreiches hat er sehr hart gegen seine vermuteten
Gegner zugeschlagen, zunächst erfolgreich, jedoch mit erhöhtem Risiko für die Zukunft seiner Herrschaft und seiner weitgehenden Pläne für den Umbau der saudischen Gesellschaft und Wirtschaft.