Als Bachir Gemayel Ende August 1982 zum Präsidenten Libanons gewählt wurde, fragte ich sogleich um ein Treffen mit dem designierten Staatschef an, in der Absicht ihn über diverse ernsthafte Schwierigkeiten bei unserer Arbeit zu informieren und um seine Unterstützung zu ersuchen.
Allerdings hatte der zukünftige Präsident nicht gerade den Ruf, ein ausgesprochener Freund des IKRK zu sein, war er doch in der Vergangenheit wiederholt als skrupelloser Kriegsherr und Kritiker unserer Organisation aufgefallen. Trotzdem gelang es unserer bestens vernetzten libanesischen Beraterin Nayla Hachem ein Treffen mit ihm zu vereinbaren, wobei sie sich auch bereit erklärte mich zu begleiten. Nachdem wir mehrere von schwerbewaffneten Kämpfern bemannte Strassensperren passiert hatten, erreichten wir sein Hauptquartier im Familiensitz der Gemayels in Bikfaya, einer veritablen Festung am Hang des Libanongebirges mit Blick über Beirut. Dort brachte uns ein Wächter durch einen Tunnel zu einem unterirdischen Warteraum, wo meine Begleiterin angewiesen wurde sich zu gedulden, während ich allein weitergeführt wurde. Zuerst wunderte ich mich darüber, aber nicht für lange.
Eher unüblich für ein derartiges Treffen, befand sich der designierte Staatspräsident ganz allein in seinem fensterlosen Büro und er schien offenbar in Eile und nicht eben bester Laune zu sein. Ebenso ungewöhnlicherweise stellte er sich im Kampfanzug vor mir auf, mit einem zweifellos geladenen Revolver an der Hüfte. Ohne mir auch nur einen Stuhl anzubieten setzte er sogleich mit erregter Stimme zu einer Anti-IKRK-Tirade an, wobei er gegen unsere Organisation und deren Vertreter schwere Anklagen erhob: „Das IKRK ist weder neutral, noch unparteiisch, noch humanitär“, bellte er und fuhr mit seiner Standpauke fort, wobei er mich belehrte, wie und wo genau sich unsere Leute in der Vergangenheit hätten betätigen sollen und wo und wie nicht. Völlig verdutzt stand ich vor diesem zornigen jungen Mann, ohne je auch nur die geringste Chance zu haben auf seine Vorwürfe einzugehen, geschweige denn ihm die Anliegen zu unterbreiten, derentwegen ich eigentlich hier war.
Während ich mich fragte, was wohl noch kommen würde, beendete er dann plötzlich seinen lautstarken Monolog mit folgenden Worten: „Sobald ich in Baabda bin (Ort, wo sich der Präsidentenpalast befindet), werde ich die gesamte IKRK-Delegation anweisen das Land umgehend zu verlassen, mit Ausnahme von Ihnen, denn von jetzt an wird die Präsenz an diplomatischen Cocktails ihre einzige Aktivität in diesem Lande sein.“ Damit war unser Treffen beendet, und mir wurde umgehend die Türe gezeigt. Nayla hatte im Vorraum einiges vom Gezeter mitbekommen und begleitete mich hochverlegen und besorgt nach Beirut zurück. Mein Rapport nach Genf war kurz und prägnant, war doch dieses Treffen mein bisher wohl unkonstruktivstes in meiner jahrelangen Tätigkeit fürs Rote Kreuz.
Alexandra Issa-el-Khouri, couragierte und hochgeachtete Präsidentin der libanesischen Rotkreuzgesellschaft, war vielleicht eine der raren Persönlichkeiten im Lande, deren Meinung und Rat von mächtigen Kriegsherren wie den Gemayels oder Chamouns gehört und respektiert wurde. Ich wusste, dass ich mich ihr ganz offen anvertrauen konnte, und tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie dafür sorgen würde, dass diese Angelegenheit keineswegs in dem mir eben angedrohten Sinne ausartete.
Wir hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, dass dieses Treffen Bachir Gemayels allerletzte Begegnung mit einem ausländischen Vertreter einer humanitären Organisation gewesen war und dass er auch nie als Präsident Libanons in den Baabda-Palast einziehen würde.
Wenige
Tage danach, am 14. September 1982, wurde seine Befehlszentrale im Ashrafieh-Quartier in Ost-Beirut durch ein fürchterliches Bombenattentat völlig zerstört. Zusammen mit sechsundzwanzig seiner Getreuen und engsten Mitarbeiter verlor dabei der zum Landesführer ausersehene Kriegsherr nicht einmal 35-jährig sein Leben.
DAS SABRA-SCHATILA-MASSAKER
Die Antwort auf das Rätsel, wer nun tatsächlich für die brutale Ermordung des jungen designierten Präsidenten Libanons und seiner Kumpane verantwortlich war, hängt ganz von der politisch-religiösen Zugehörigkeit der Befragten ab. Zwar wurde der mutmassliche Bombenleger, ein libanesischer Maronit und Mitglied der nationalsozialen syrischen Partei, verhaftet und zum Tode verurteilt, Letzteres allerdings über dreissig Jahre später und – inzwischen – „in absentia“ … Ein Urteil übrigens, welches bis anhin nie vollstreckt werden konnte, denn der Angeklagte versteckt sich offenbar bis heute noch irgendwo in Syrien. Über die Identität der wahren Hintermänner des Verbrechens gibt es etliche Theorien, doch wurde keine davon je offiziell bestätigt.
Da sich das Attentatsopfer in seiner jungen Karriere als Kriegsherr schon zahllose Feinde gemacht hatte, kamen im Prinzip all die üblichen Verdächtigen als mögliche Auftraggeber in Frage, angefangen bei den berüchtigten Geheimdiensten gewisser Nachbarländer. Unter den weiteren Kandidaten befinden sich palästinensische, muslimische oder rivalisierende christliche Milizen, wie zum Beispiel die Marada-Brigade von Ex-Präsident Frangieh, dessen Frau, Sohn und 3-jährige Tochter gut vier Jahre zuvor von Bachir Gemayels und Samir Geageas Falangisten zusammen mit über dreissig seiner Freunde und Wächter in seinem Heim in Ehden, Nordlibanon, massakriert worden waren.
Der umgehend als neuer Präsident Libanons ernannte Amin Gemayel schwor jedenfalls unerbittliche Rache für die Ermordung seines jüngeren Bruders, und es wurde bald klar, wem die Schuld dafür zugeschoben werden sollte. Nach der Flucht der PLO-Führung ins tunesische Exil und dem Abzug ihrer Truppen aus Beirut galten zwar die Palästinenser wohl kaum als die wahrscheinlichsten aller Tatverdächtigen, doch waren sie sowohl für die Falangisten wie auch für die Israeli das bevorzugte und wohl auch leichteste Ziel.
Inzwischen patrouillierten Ariel Sharons Truppen auch in West-Beirut, wo sich unsere Delegation befand, und eine der schwerbewaffneten israelischen Einheiten machte sich daran, in unser Gebäude einzudringen, um es nach geflohenen Kämpfern zu durchsuchen. Ich versuchte natürlich diesen rechtswidrigen Einbruchsversuch in ein neutralisiertes, garantiert waffenloses Rotkreuz-Territorium mit möglichster Überzeugungskraft und der Nennung meiner sämtlichen Tsahal-Kontakte in Tel Aviv zu verhindern. Obwohl Sharon dem IKRK gegenüber deutlich weniger entgegenkommend war als sein Vorgänger Weizmann, liess schliesslich sein hoher Offizier nach diversen Rücksprachen per Funk von seinem illegalen Vorhaben ab. Das war auch gut so, denn in unserem Untergeschoss hielten sich Dutzende von verängstigten libanesischen Rotkreuz-Mitarbeitern mit ihren Familien auf sowie mehrere Flüchtlinge, die um ihr Leben bangten.
Tags darauf, am Mittwoch, dem 15. September, wurde eine totale Ausgangssperre für West-Beirut angekündigt und auch rigoros durchgesetzt, denn im Falle einer Nichtbeachtung wurde scharf geschossen. An den Kreuzungen gingen Panzerfahrzeuge in Stellung, die Zahl der libanesischen und israelischen Strassensperren hatte sich über Nacht verdoppelt und sie waren jetzt mit schwerbewaffneten Kampftruppen bemannt. Es gab kein Durchkommen, weder für die UNO, noch für Diplomaten oder Journalisten, und sogar der amerikanische Sonderbeauftragte Morris Draper und die IKRK-Delegierten wurden angewiesen, ihre Gebäude auf keinen Fall zu verlassen.
Für zwei Tage und Nächte waren wir in unserer Delegation völlig blockiert und beobachteten nachts, dass gewisse Quartiere im Süden der Stadt in ein seltsames weisses Licht getaucht waren. Auch wenn wir die Bedeutung dieses Phänomens damals nicht völlig verstanden, hatten wir dabei doch ein höchst ungutes Gefühl.
Am frühen Morgen des Samstags, 18. September, schafften wir es endlich die Strassensperren zu passieren. Zwei oder drei Journalisten kamen ebenfalls durch und zusammen mit dem norwegischen Botschafter waren wir unter den Ersten, welche die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila erreichten. Erst dann realisierten wir mit Entsetzen, dass hier in den letzten 72 Stunden ein schreckliches Blutbad stattgefunden hatte und dass Hunderte von unbewaffneten Zivilisten, Männer und Frauen, Alte und Kinder, von einer offenbar bestens organisierten, grausamen Mörderbande niedergemetzelt worden waren. Wir begaben uns umgehend zum Gaza-Spital, wo wir Zeugen der Horrorsituation wurden: Schwerverletzte und Tote lagen in den Gängen, mit Schuss- und Stichwunden, zerschlagenen Köpfen und verstümmelten Körpern, und überall war Blut und Wehklagen. Medikamente und medizinisches Material waren aufgebraucht und Ärzte und Pfleger am Rande der Erschöpfung – sie benötigten sofortige Hilfe.
Die Ausgangssperre war inzwischen offiziell aufgehoben, und während ich per Radio die dringendst benötigten Medikamente, Verbandstoffe und medizinischen Geräte aus unserem Warenlager herbeibringen liess, alarmierten wir auch das Libanesische Rote Kreuz, welches sofort zur Stelle war. Zusammen mit seinen Helfern versuchte Françoise, eine beherzte Delegierte aus Chêxbres bei Lausanne, die zahlreichen, in den engen Gassen und Häusern des Quartiers herumliegenden Leichen systematisch zu sammeln, zu zählen, wenn möglich zu identifizieren und dann zu bedecken. Schwärme von Fliegen und ein unerträglicher Gestank zeigten ihnen jeweils den Weg. Am Ende des Tages waren es weit über dreihundert Opfer, während viele andere nach Angaben von Überlebenden bereits zuvor weggebracht und bestattet worden waren. Zudem wurden mehrere Massengräber in den folgenden Tagen von freiwilligen Rotkreuzhelfern gefunden und markiert.
Zwar wurde nie endgültig und offiziell bestätigt, wer genau diese Gräueltat ausgeführt hatte, doch ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es sich hauptsächlich um falangistische Kämpfer von Eli Hobeika handelte, dessen Familienmitglieder Jahre früher, zusammen mit mehreren hundert Bewohnern des südlich von Beirut gelegenen Dorfes Damur, von PLO-Einheiten massakriert worden waren. Auch gibt es Hinweise, dass eine Anzahl von Major Haddads Soldaten der südlibanesischen Armee ebenfalls am Verbrechen beteiligt waren. Hingegen wurde die exakte Rolle der israelischen Armee nie eindeutig und vollständig ausgewiesen, wenn es auch keinen Zweifel gab, dass Sharons Truppen die beiden palästinensischen Lager vollständig umzingelt hatten und dass seine Offiziere die Ereignisse vor Ort von diversen nahegelegenen Beobachtungsposten aus rund um die Uhr verfolgten.
Auch wurde offiziell bestätigt, dass die unwirkliche nächtliche Beleuchtung des ganzen Quartiers von den Israeli zur Verfügung gestellt wurde, vom Boden aus mit Scheinwerfern und aus der Höhe mit starken Leuchten, welche von Ballonen und Fallschirmen in der Luft gehalten wurden.
Wenige Tage nach diesen schrecklichen Ereignissen wurde ich gebeten, mich in einer Vorstadt Ost-Beiruts mit Anne-Marie Lambert zu treffen, einer hohen Beamtin des israelischen Aussenministeriums, die während dem 2. Weltkrieg der französischen Résistance angehört hatte und jetzt mit einem Chirurgen aus Zürich verheiratet war.
Schon während meiner Zeit in Tel Aviv und Jerusalem hatten wir zu einer vorbildlichen Arbeitsbeziehung gefunden und ich hatte hohen Respekt für ihre Integrität und Zivilcourage. Nun war sie eben per Helikopter eingeflogen, um herauszufinden „was hier wirklich geschehen war“. Ich hielt nicht zurück und erzählte ihr im Detail alles, was ich von den Ereignissen der letzten Tage mitbekommen hatte und wusste. Auch erwähnte ich das lamentable Benehmen einiger von Sharons Truppen, die ich persönlich beim Plündern privater Häuser von Libanesen und Palästinensern beobachtet hatte, als sie TV-Sets und Teppiche auf Armeelastwagen luden und Richtung Süden davonfuhren – dies war definitiv nicht mehr die stolze, respektierte Tsahal früherer Jahre. Den Tränen nahe dankte sie mir am Ende des Treffens und versuchte mich später als Zeugen für die Kahan-Kommission zu gewinnen, welche die Ereignisse im Auftrag der israelischen Regierung untersuchte. Doch war es leider IKRK-Delegierten nicht vergönnt, unter derartigen Umständen öffentlich auszusagen.
Am 8. Februar 1983 veröffentlichte dann diese Kommission ihren Bericht, in dem sie Verteidigungsminister Ariel Sharon persönlich verantwortlich machte, „keine angemessenen Massnahmen getroffen zu haben, um das Blutbad zu verhindern“. Ähnliche Urteile wurden gegen den Armeechef General Rafael Eitan und weitere Tsahal-Offiziere wie auch gegen mehrere hohe Geheimdienstbeamte ausgesprochen. Zwar musste „King Arik“ Sharon als Verteidigungsminister zurücktreten, blieb aber trotz alledem Regierungsmitglied, um schliesslich viele Jahre später zu Israels Regierungschef gewählt zu werden.