In wenigen Augenblicken sei Beirut so zerstört worden wie von einer kleinen Atombombe, schrieb der Chefredakteur der Zeitung, Ibrāhīm al-Amīn, Beirut sei in eine Katastrophen-Stadt verwandelt.
Eine düstere Vorgeschichte
Das Ammoniumnitrat lagerte schon seit fast sechs Jahren im Beiruter Hafen. Ende 2013 war es von Bord des unter moldawischer Flagge fahrenden Frachtschiff Rhosus in den Hangar 12 im Hafengebiet von al-Marfa᾽ verbracht worden, nachdem das marode Schiff wegen eines Maschinenschadens im Beiruter Hafen hatte festmachen müssen.
Der damalige Eigner, der russische Geschäftsmann Igor Grechushkin, erklärte seinen Bankrott und schrieb das Schiff ab; die zehn meist ukrainischen Seeleute unter dem russischen Kapitän Boris Prokoshev wurden später repatriiert. Als Pfand für die von Grechushkin eingeforderten Liegegebühren wurde die Ladung von den libanesischen Hafenbehörden beschlagnahmt. Jahre später sank das Schiff, das Ammoniumnitrat blieb im Hangar 12.
Die Hafenbeamten vor Ort schrieben mindestens sechsmal an den Eigentümer, die staatliche Hafenbehörde, und wiesen auf das hochbrisante Lager hin. Sie forderten eine schnelle Entsorgung des Kunstdüngers und sei es auf Feldern libanesischer Bauern. Doch es passierte nichts. Igor Grechushkin, der zurzeit wohl in Limassol auf Zypern lebt, verweigerte jede Kooperation. Staatliche Stellen blieben untätig.
Die Detonation
Was die Detonation des Ammoniumnitrats am 4. August 2020 um 18:08 Ortszeit letztendlich auslöste, wird noch untersucht. Die Wucht der Explosion war enorm. Schäden an Gebäuden gab es in einem Umkreis von mehr als 10 km. In einem inneren Umkreis von zwei bis drei Kilometern wurden über 100 Menschen getötet und weit über 4’000 verletzt. Fast 300’000 Menschen wurden obdachlos. Das Hafengebiet und die angrenzenden Gebiete des Stadtzentrums, das wichtigste Elektrizitätswerk und der grösste Getreidesilo der Stadt wurden von der enormen Druckwelle weitgehend zerstört. Wodurch die Getreidereserven des Landes nun nur noch knapp vier Wochen ausreichen werden.
Die Detonation war aber nicht nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, sondern das Fass ist selber explodiert. Die Verwüstungen in der Stadt sind von solch einem Ausmass, dass viele Kommentatoren von einem Krieg sprechen, der nur wenige Minuten gedauert habe. Es sei ein Krieg des Staats gegen die eigene Bevölkerung gewesen. Ohne jede Sicherheitsmassnahme war das Ammoniumnitrat durch die lange und dichte Lagerung zu einem hochexplosiven Sprengstoff geworden.
Die Hafenbehörde (Gestion et exploitation du port de Beyrouth) ignorierte alle Beanstandungen und Warnung der Beamten vor Ort. Erst nach der Katastrophe bekundete der libanesische Präsident Michel Aoun, das Ammoniumnitrat sei „illegal“ eingelagert worden, was „völlig inakzeptabel“ sei. Die libanesische Öffentlichkeit sieht darin nur eine Bestätigung des Zynismus der Regierung, die sich weigert, die Verantwortung für die ihrer Aufsicht unterstellte Behörde zu übernehmen.
Der Zusammenbruch
Für die Einwohner von Beirut wirkte die Detonation wie eine Kriegserklärung der Regierung an das eigene Volk. Der Staat wird für den Zusammenbruch der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Er könne und wolle die materielle Sicherheit der Bevölkerung nicht mehr gewährleisten. Schon im Zuge der herrschenden tiefgreifenden Wirtschaftskrise sah sich die Bevölkerung von den Staatseliten verraten, deren interne Machtkämpfe und Beharren auf der konfessionellen Machtteilung jede Bewältigung der Wirtschaftskrise verunmöglicht hätten. Der Verfall des Werts der libanesischen Währung konnte nicht aufgehalten werden, und während die alten Eliten sich mit ihren privaten Devisenreserven ihren Lebensstandard erhalten konnten, musste die Bevölkerung mit der einheimischen, nun fast wertlosen Währung auskommen.
Die zerstrittenen Staatseliten fanden kein Rezept gegen diese sich seit Monaten zuspitzende Versorgungskrise, die sich nun zu einer Gesellschaftskrise auswuchs. Leidtragende waren nicht zuletzt die 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge, deren Lebenslage immer prekärer wurde. In den sekundären urbanen Zentren wie der nordlibanesischen Stadt Tripolis mehrten sich die Stimmen für eine politische Loslösung vom Machtzentrum Beirut. Die schiitische Hizbullah wurde verdächtigt, das Militär zu unterwandern und einen Staatsstreich vorzubereiten.
Mit der Corona-Epidemie verschärfte sich die bereits prekäre Lage, die nun zur Staatskrise wurde. Das Missmanagement der staatlichen Behörden wurde allenthalben sichtbar. Im Laufe des Monats Juli hatte sich die Fallzahl der an dem Covid-19-Virus Erkrankten verdreifacht. Die Versorgung der Patienten war schon vor der Detonation, durch die zwei der grösseren Krankenhäuser der Stadt zerstört wurden, nicht mehr sichergestellt.
Völliges Staatsversagen
„Beirut ist eine Katastrophe“ titelte Nūr Niʿma von der Zeitung ad-Diyār. Man könnte auch sagen: Für viele Libanesen ist dieser Staat die Katastrophe. Die fast 9 Milliarden Dollar, die nach ersten Schätzungen der Wiederaufbau der Grundstruktur von Beiruts Hafengebiet kosten wird, gibt es nicht. Gelder, die ins Land kommen könnten, werden, so befürchtet man, wie üblich durch Korruption in den Händen der libanesischen Oligarchen landen.
Für viele libanesische Zeitungen zeigt sich, dass der Staat den „Wahnsinn“, für den stellvertretend die Einlagerung des Ammoniumnitrats im Hangar 12 stehe, systematisch deckt und daraus noch Profit zu ziehen versuche. Alle Bemühungen der Eliten, das fatale Versagen des Staats zu vertuschen, werden diesmal wohl nicht mehr helfen. So sollte z. B. am 7. August der Prozess beginnen gegen die Urheber des Bombenanschlags von 2005, bei dem der frühere Premierminister Rafīq Harīrī und 21 Menschen getötet wurden, vor einem von den Vereinten Nationen unterstützten Gericht.
Keinerlei Vertrauen in die politischen Eliten
Angeklagt sind in absentia vier Verdächtige der Hizbollah. Damit erhoffte man sich erstmals eine juristische Aufarbeitung des Anschlags, der in den Augen vieler Libanesen den Anfang einer Polarisierung der politischen und militärischen Macht im Land gemacht habe. Durch die Wirtschaftskrise sei die Polarisierung neu ausgerichtet: nun stünden sich die alten Staatseliten und „das Volk“ gegenüber. Die Gegnerschaft scheint unversöhnlich. Der Vertrauensverlust ist so gross, dass jedes politische Handeln prinzipiell als unglaubwürdig angesehen wird. Die Bevölkerung meutert und verweigert dem Staat mehr und mehr die Unterstützung.
Der seit Januar 2020 amtierende libanesische Aussenminister Nāsīf Yūsuf Hittī war einen Tag vor der Detonation zurückgetreten, weil er Libanon auf dem Weg zu einem „gescheiterten Staat“ sah. Jetzt fordern Demonstranten in den Strassen Beiruts den Rücktritt der Regierung von Hasan Diyāb, dem vollkommenes Versagen vorgeworfen wird. Es steht zu erwarten, dass die politischen Eliten Diyāb „entlassen“, sprich fallen lassen werden, um so der Bevölkerung zu zeigen, dass sie noch Herr im Lande seien. Doch genau dies wird von den Demonstranten grundsätzlich bestritten. So verwundern Meldungen nicht, manche Angehörige der politischen Eliten packten bereits ihre Koffer, um im Fall aller Fälle rechtzeitig dem kollabierenden Land den Rücken zu kehren.
Der Schrecken des Endes
Die Detonation des Ammoniumnitrats markiert in den Augen vieler libanesischer Kommentatoren den endgültigen Zusammenbruch der Staats- und Herrschaftsordnung. Für sie ist der Staat in der bestehenden Gestalt sinnlos geworden. Doch die Staatseliten werden versuchen, die Krise auszusitzen. Sie werden hierfür noch einmal ihre altbewährte Klientelordnung zu nutzen versuchen. Sie werden hoffen, dass die Bindung der Bevölkerung an ihre Clans und Familien weiterhin funktioniert und diejenigen, die in keinem Klientelverhältnis stehen, in der Gesellschaft politisch und sozial isoliert werden.
Doch dürfte es zweifelhaft sein, ob diese Haltung die aktuelle Krise überdauern kann. Eher zu erwarten ist, dass die Explosion den Anfang eines Endes eingeläutet hat.