Was seit Mittwochabend in der und um die syrische Stadt Aleppo herum geschieht, kann man kaum entwirren. Zu unterschiedlich sind die Interessen, zu widersprüchlich das Vorhaben der Hintermänner dieser eigenartigen Entwicklung. Ein Erklärungsversuch.
Man kann meinen, was einem gefällt – die Wahlmöglichkeiten sind groß genug. Man kann wählen zwischen Begriffen wie überraschend, unerwartet, unerklärlich, oder auch ganz umgekehrt: geplant, durchdacht und folgerichtig. Die Bandbreite ist ausreichend.
Was momentan im syrischen Aleppo geschieht, öffnet ein breites Tor für allerlei Vermutungen, Verschwörungen und Verunsicherungen. In Zeiten der Unübersichtlichkeit, in denen niemand die Wahrheit sagt, bastelt man sich eigene Erklärungen zusammen, je nach dem, wo man gerade steht.
Niemand hilft einem, zu verstehen, warum gerade jetzt, genau an dem Tag der Feuerpause in Libanon, die obskurste Gruppe aller Jihadisten, ausgerüstet mit schweren Waffen und Drohnen, in das Zentrum Aleppos einzieht. Weder Assad noch Erdogan, weder Putin noch Khamenei oder Netanjahu sagen, was sie tun oder lassen, obwohl alle ihre Hände tief in diesem schmutzigen und sehr blutigen Spiel stecken. Die Gotteskrieger kommen aus jenem Teil Syriens, in dem hauptsächlich die Türkei das Sagen hat.
Ebnet Netanjahu den Weg der Jihadisten?
Die Augen dieser Herren, wie die der übrigen Welt, sind auf das magische Datum des 20. Januar 2025 gerichtet. Was gerade in Aleppo geschieht, scheint ein Teil der Vorbereitung der Inauguration des neuen Weltveränderers zu sein. Nicht nur Washington rüstet sich offenbar für diese Amtseinführung, auch die Herrscher des Nahen Ostens sind emsig dabei.
Mohammad Dschaulani, Chef der هیات تحریر الشام – der „Front zur Befreiung der Levante“ – war gerade im Zentrum Aleppos angekommen, als Netanjahu Assad warnte, nicht mit dem Feuer zu spielen. Ob das eine mit dem anderen zu tun hat, sei dahingestellt. Wenige Stunden später aber hören wir, Assad habe seinen Truppen den sicheren Rückmarsch befohlen. Manche sagen, sie seien kampflos geflüchtet und hätten viele Waffen zurückgelassen.
Aleppo war deshalb schutzlos, weil die Stadt nach ihrer „Befreiung“ hauptsächlich von der libanesischen Hisbollah bzw. den iranischen Garden geschützt wurde. Ali Khameneis „Achse des Widerstands“ – geknüpft mit vielen Milliarden und Menschenleben in vier Dekaden, löst sich derzeit rapider auf, als er es sich je hätte vorstellen können.
Putin, der dritte Beschützer der Stadt, ist im Gegensatz zu 2015 momentan mit der Ukraine zu beschäftigt und nicht in der Lage, sich wie einst mit all seinen Möglichkeiten Assads Macht widmen zu können.
Netanjahu wiederum hat in den vergangenen Monaten nicht nur in Libanon, sondern auch in Syrien vieles beiseite geräumt. Kurz vor dem Vormarsch der Jihadisten in Aleppo bombardierte seine Armee den wichtigsten Stützpunkt der Revolutionsgarden in der Nähe der historischen Stadt Palmyra. Den Rückzug seiner Feinde nach Aleppo erlaubt er nicht. Seine laute Warnung an Assad, nicht mit dem Feuer zu spielen, versteht dieser genau: Er dürfe sich nicht wieder auf die Hisbollah und die Garden stützen.
Wann erreicht die blutige Schneise Teheran?
Der blutige Weg, den die Hamas am 7. Oktober 2023 in Gaza ebnete, führte zunächst nach Libanon, wo nach Tausenden Toten und massiver Zerstörung nun ein sehr fragiler Waffenstillstand existiert. Jetzt erreicht dieser Weg Syrien. Und auf der Teilstrecke nach Aleppo finden wir die obskuren Gestalten dieser Jihadisten, die die gesamte Levante „befreien“ wollen. Wie sie es schaffen wollten, woher und warum sie kamen – und warum jetzt -, wer sie und wer ihre wahren Hintermänner und Ausrüster sind, wird die Zukunft erweisen. Oder auch nicht. Netanjahu, Erdogan und Khamenei wissen mit Sicherheit viel.
Ahnungslos kann nur Putin sein, der momentan mit seinem anderen blutigen Spiel in der Ukraine sehr beschäftigt ist.
Assad war am Mittwochabend, kurz nach der Offensive der Jihadisten, nach Moskau gereist. Ob und was er dort erreicht hat, wissen wir nicht. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sagte danach bezeichnenderweise, Assad müsse die Jihadisten zurückschlagen. Aber dieser Diktator, der seine Macht mit Hunderttausenden Toten und Millionen Geflüchteten sicherte, steckt nun in einer ausweglosen Zwickmühle. Denn die Rückkehr der Iraner bzw. der Hisbollah kann er sich nicht leisten. Er will es auch nicht; es ist nicht allein Netanjahu, der dies mit aller Macht verhindern wird. Auch Assad möchte nicht, er will so schnell wie möglich salonfähig werden und in die Arabische Liga einziehen. Die Hisbollah und die iranischen Garden stehen ihm dabei im Weg.
Wann und wie die mörderische Schneise, die in Gaza eröffnet wurde, Teheran erreicht, werden wir in nicht allzu lange Zeit erfahren.
Am selben turbulenten Tag des Einzugs der „Befreier“ der Levante in Aleppo klärte uns Sadegh Zibaklam, der bekannteste und lauteste Politologe aus Teheran, auf, Netanjahu habe seine offene Rechnung vom 7. Oktober mit Iran noch nicht beglichen.
Zufall oder nicht: Das ist derselbe Tag, an dem aus Genf die Meldung kommt, die Atomgespräche zwischen Iran und der EU-Troika seien Ergebnislos zu Ende gegangen. Parallel dazu erklärt die IAEA, die internationale Atomenergiebehörde, Iran plane, Tausende neue Zentrifugen zur Urananreicherung zu installieren.
Und wenn der Weltveränderer dann im Weißen Haus angekommen ist, wird Netanjahu die notwendige Bein-, Hand- und Kopffreiheit haben, um mit diesen Atomanlagen machen zu können, was er will. Dass er kann und schnell handeln würde, wenn er Gefahr im Verzug sieht, daran hat er nie Zweifel gelassen.
Dabei ignoriert er, und mit ihm die gesamte Welt, dass Russland der beste Garant dafür ist, Iran von der Bombe fernzuhalten. Das mag, angesichts der engen Verbindungen zwischen Khamenei und Putin, verwunderlich klingen. Doch Moskaus Beziehungen zu Teheran sind berechnender, durchdachter und genauer kalkuliert, als man gemeinhin denkt.
Seit genau sechs Jahren fleht die Islamische Republik vergeblich, Russland solle endlich das versprochene, teils sogar bereits abbezahlte Kampfflugzeug Suchoi liefern. Gewissheit darüber, ob diese modernen Kampfjets schon im Iran gelandet sind, gibt es bis zur Stunde nicht. Wer glaubt, Putin würde zulassen, dass sich unmittelbar an seiner südlichen Grenze ein islamistisches Regime eine Atombombe beschafft, der wäre nicht von dieser Welt. Zumal Russland ein vitales Interesse daran hat, seine intakten, nützlichen und fruchtbaren Beziehungen zu Israel, zu Saudi-Arabien, den Emiraten oder der Türkei nicht zu gefährden. Und all diese Staaten möchten auch keine iranische Atommacht in ihrer Nachbarschaft.
Niemand ist über ein iranisches Atomvorhaben besser informiert als die Herren in Moskau, die das AKW in Bushehr am Persischen Golf bauten, betreiben und beaufsichtigen.
Machterhalt, auch gegen das Gottesgebot
Ali Khamenei mag viel von Jenseits, Jihad und Endsieg schwafeln, er bleibt ein hartgesottener Machtpolitiker von dieser Welt. Schon jetzt mehren sich eindeutige Signale, Pläne, Skripte und Konzepte, wie man mit dem neuen Herrn im Weißen Haus umgehen soll, wie man auf Diplomatie umschaltet. Und das, was wir dazu hören und lesen, sind mehr als vorsichtige Annäherungsversuche. Die verschiedenen Think-Thanks und Zirkel, die dem harten Kern der Macht verbunden sind, offenbaren diese Tage unglaubliche Tabubrüche.
Vergessen sind jedenfalls längst die Erklärungen, Absichten, sogar Pläne zur Tötung Trumps, aus Rache für den Mord an Qassem Soleimani, dem beliebtesten General der Revolutionsgarden. Ohne Diplomatie sei das Schlachtfeld nutzlos, sagte am Samstag Irans Außenminister Abbas Araghchi vor den Revolutionsgarden. Er kündigte zugleich an, sich bald auf den Weg nach Damaskus zu machen.
Der Satz von Araghchi ist ebenfalls ein Tabubruch. Khamenei darf man nicht unterschätzen.
Der Schutz der Islamischen Republik sei das wichtigste Gebot Gottes, wichtiger als das tägliche Gebet, das Fasten im Ramadan oder die Pilgerfahrt nach Mekka. Nichts dürfe man tun oder lassen, was diese Ordnung in Gefahr bringen könnte, sagte einst Ayatollah Khomeini – sogar, wenn es sich um Gottesbefehle handele. Das ist und bleibt die höchste Maxime seiner Machtausübung: Nicht Gottes, sondern der Macht wegen. Im Ernstfall, wenn diese Gottesordnung oder besser gesagt: wenn der Machterhalt wackelt, legt man sich weder mit Trump noch mit sonst jemandem an, auch mit Netanjahu nicht.
Mit freundlicher Genehmigung von IranJournal