Welche Bücher möchten Sie schenken, welche möchten Sie selber lesen? Wie jedes Jahr empfehlen Ihnen Autorinnen und Autoren von Journal21.ch einige Werke, die sie besonders beeindruckt haben.
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
Dem Buch zugrunde liegt eine jener Poetikvorlesungen, in denen Autorinnen und Autoren von den Bedingungen ihres Schreibens berichten. Im Falle von Judith Hermann sind dies die Kindheit in einer zerrütteten Familie, die Depressionen des Vaters, eine lange Psychoanalyse und das Leben im geteilten Berlin. In erschütternder, doch stets dezenter Offenheit schreibt Hermann hier erstmals über all das Nicht-Gesagte und Nicht-Sagbare, das sich hinter ihren literarischen Texten verbirgt, ja, diese, wie jetzt nachzulesen ist, erst eigentlich hervorgebracht hat. Bei aller Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber bleibt jedoch auch hier vieles in der Schwebe zwischen Authentizität und Fiktion und gibt den Texten jene geheimnisvolle Aura, die schon ihre Erzählungen so unvergleichlich machte.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2023, 192 Seiten
Jenny Erpenbeck: Kairos
Der Roman «Kairos» erzählt von der Liebe eines jungen Mädchens zu einem 34 Jahre älteren verheirateten Mann: von einer unmöglichen und doch unausweichlichen Liebe zwischen Abhängigkeit und Begehren, zwischen Gewalt, Hass und namenlosem Glück. Angesiedelt ist die Geschichte, die zweifellos autobiografische Züge trägt, im Milieu jener Kultur-Schickeria, die sich in der DDR trotz Anpassungsdruck und Überwachung hatte entwickeln können. Die Autorin nennt keine Namen, aber man meint sie zu erkennen, wie sie sich mit der Zensur herumschlagen, Privilegien geniessen und am Ende halb willentlich, halb ohnmächtig zum Untergang des Staates beitragen. Wie Jenny Erpenbeck gegen Ende des Romans die Verlorenheit ihrer Protagonisten mit der Zerfallsgeschichte des Staates zusammenführt, ist ebenso beeindruckend wie überzeugend. Kairos, der Titel des Buches, meint jenen schicksalhaften Augenblick, da alles zu Ende geht: das Land, das Gesellschaftssystem und die Liebe gleich mit.
Penguin, München 2021, 384 Seiten
Yvonne-Denise Köchli: Eine kurze Geschichte der Frauen
Kaum eines der 32 Kapitel ist mehr als zehn Seiten lang. Die meisten sind kürzer und zeugen von einer Präzision, die die Handschrift der guten Journalistin erkennen lässt. Dank dieser Verknappung gelingt es der Verlegerin und ehemaligen Weltwoche-Redaktorin Yvonne-Denise Köchli, die Geschichte der Frauen und ihres Ringens um Gleichstellung und Emanzipation von Olympe de Gouges’ Frauenrechtserkärung aus dem Jahr 1791 bis zu den #MeToo- und Gender-Debatten unserer Tage ebenso prägnant wie informativ wiederzugeben. Sie habe, so schreibt die Autorin im Vorwort, die Geschichte der Frauen anhand von Impulsen erzählt: ein Prinzip, das sich als äusserst fruchtbar erweist. Denn so gewinnen Ereignisse wie etwa das Erscheinen von Simone de Beauvoirs Werk «Le deuxième sexe», die Erfindung der Antibabypille, Emma Schwarzers Aktion «Ich habe abgetrieben» oder die Amtseinsetzung von Angela Merkel als erster Bundeskanzlerin eine Bedeutung, die die Frauen insgesamt angeht. Dass es dabei immer auch Rückschläge gegeben hat, verschweigt Köchli nicht und macht dadurch deutlich, dass der Kampf noch längst nicht zu Ende ist.
Xanthippe, Zürich 2024, 223 Seiten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Yaroslav Hrytsak: Ukraine – Biographie einer bedrängten Nation
Die ukrainische Originalausgabe erschien 2022, kurz nach Beginn des russischen Angriffs. Dieser historische Moment bestimmt die Optik Hrytsaks. Sein Augenmerk gilt den geopolitischen Verkettungen. Die Ukraine liegt seit jeher auf der Ost-West-Bruchlinie, die sich zunehmend auch mit dem Antagonismus zwischen dem globalen Süden und dem Westen überlagert. Bei aller wissenschaftlichen Sorgfalt ist Hrytsaks Darstellung auch eine brillant erzählte Historie. Die Position des Chronisten ist dabei von Anfang an klar: Es ist die eines um Fairness und Verstehen bemühten Beobachters der historischen Entwicklungen mit ihren ethnischen und kulturellen Spannungen. Zugleich aber plädiert Hrytsak für den Weg zu einer westlich orientierten Demokratie, den er für die Ukraine als richtig und letztlich historisch stimmig erachtet.
C. H. Beck, München 2024, 480 Seiten
Isabelle Lehn: Die Spielerin. Roman
Die knisternde Geschichte führt in die Welt von Big Finance und organisierter Kriminalität. Die Protagonistin – sie heisst nur A. – ist bei der Deutschen Bank in Zürich als Sales Managerin tätig. Sie steigt so lange auf, bis sie den Boys Konkurrenz macht und kaltgestellt wird. Als sie darauf von einem Kunden das Angebot erhält, für die N’drangheta Finanzströme zu steuern, greift sie zu. A. bleibt stets die Frau ohne Eigenschaften und schafft es, im entscheidenden Augenblick unsichtbar zu sein. Doch nachdem die Europol zusammen mit den italienischen Behörden einem als Gemüsehandel getarnten Drogenkartell auf die Spur kommt, fliegt auch A. auf. – Die wie eine wilde Phantasie erscheinende Geschichte beruht auf einem vom deutschen Journalisten Sandro Mattioli, einem Mafia-Spezialisten, recherchierten und publizierten Fall.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2024, 271 Seiten
James Baldwin: Kein Name bleibt ihm weit und breit
Er war einer der wichtigsten amerikanischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert: James Baldwin (1924–1987), Kämpfer für die Gleichberechtigung der Schwarzen und der Homosexuellen. Sein Gross-Essay von 1972 wurde anlässlich seines 100. Geburtstags von Mirjam Mandelkow neu übersetzt. Ijoma Mangold hat eine kluge Einleitung beigesteuert. Kaum ein Autor hat die rassistische Demütigung so eindringlich beschrieben wie Baldwin. In seiner Haltung zur Rassenfrage schwankt er zwischen seinen Freunden Martin Luther King und Malcolm X, die beide ermordet wurden. Der eine stand für den kämpferischen Versöhnungswillen, der andere für die unausweichliche Militanz der Bürgerrechtsbewegung. Trotz aller Rückschläge hielt Baldwin an der Vision einer Überwindung der ethnischen Diskriminierungen in den USA fest.
dtv, München 2024, 272 Seiten
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Daniela Krien: Mein drittes Leben
Die Ich-Erzählerin Linda, eine etwas über vierzigjährige Kuratorin für eine Kunststiftung, führt mit ihrem Mann Richard, einem Maler, und ihrer gemeinsamen Tochter Sonja in Leipzig ein erfülltes, glückliches Leben. Den plötzlichen Tod ihrer 17-jährigen Tochter durch einen Unfall kann sie aber nicht verkraften. Sie verlässt ihren Mann und zieht weg auf einen heruntergekommenen Hof auf dem Lande. Dort gelingt es ihr nur ansatzweise, wieder etwas Halt im Leben zu gewinnen. Sie zieht zurück nach Leipzig. Durch unerwartete Wendungen kommen Linda und Richard einander wieder näher. In einfühlsamen Szenen berichtet Daniela Krien von den Erfahrungen einer verstörenden Trauer und der damit verbundenen Ehekrise. Es ist der vierte Roman dieser ostdeutschen Autorin, in dem sie sich neben ihrem Erzähltalent über profunde Lebenskenntnisse ausweist.
Diogenes Verlag, Zürich 2024, 294 Seiten
Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Die Protagonistin dieses Romans heisst Juno. Sie lebt als Schauspielerin und Tänzerin in einer Altbauwohnung in Leipzig, zusammen mit ihrem Mann, einem an Multipler Sklerose leidenden Schriftsteller, der Jupiter genannt wird. Nachts, wenn sie nicht schlafen kann, chattet sie mit sogenannten Love-Scammern. Das sind Heiratsschwindler aus Afrika oder anderen Gegenden, von denen man annimmt, dass sie auf Geldquellen bei einsamen Internet-Surferinnen erpicht sind. Nicht ohne selbstironische Zwischentöne wird von den sehr konkreten Lebensproblemen, melancholischen Erinnerungen und beschwingten Phantasien einer älter werdenden Frau im deutschen Sozialstaat erzählt. Für den autobiographisch inspirierten Roman ist Martina Hefter mit dem diesjährigen deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden.
Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 220 Seiten
John Williams: Stoner
William Stoner ist der einzige Sohn armer Farmer. Seine Eltern schicken ihn an die Universität von Missouri, um Landwirtschaft zu studieren. Doch er entdeckt dort seine Liebe für Literatur. Er wird Assistenzprofessor, führt eine unglückliche Ehe, muss erleben, wie seine geliebte Tochter zur Alkoholikerin wird, zerstreitet sich mit einem missgünstigen Kollegen und erlebt eine kurze beglückende Liebe. Er stirbt vereinsamt, in stoischer Resignation. Dieser Roman ist bereits 1965 erschienen, fand aber wenig Beachtung. Erst mit dem neuen Jahrtausend sind seine Qualitäten prominent gewürdigt worden. Der britische «Economist» zählt ihn zur Kategorie der «Great American Novels». Die eindringliche Schilderung von Stoners stillem, unauffälligen aber einer ernsthaften Sache gewidmeten Leben stellt eine Art Gegenwelt dar zum Schauplatz der lauten amerikanischen Erfolgs- und Absturzgeschichten.
Ex Libris-Verlag, Zürich 2014, 352 Seiten
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Boris von Brauchitsch: William Turner. Biografie
Die Wucht der Bilder von William Turner ist bis heute überwältigend. Allein die Farben üben einen unglaublichen Bann aus, und die Kraft dieses Malers, der mehr und mehr die Konventionen aufsprengte und als Pionier erste Schritte in die Moderne wagte, teilt sich bis heute mit. Turner war zu seiner Zeit unbestritten ein Star, zugleich bewundert und geschmäht, geliebt und gehasst. Boris von Brauchitsch, ausgewiesener Experte für Kunstgeschichte, beschreibt in seinem hervorragend recherchierten und fesselnd geschriebenen Buch die Zeitgeschichte, das Leben Turners und sein Ringen um Form und Stil. Dazu gibt es zahlreiche Abbildungen, die die Ausführungen des Autors sehr schön veranschaulichen.
Insel Verlag, Berlin 2024, 255 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen
Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Roman
Sechs Astronauten, vier Männer und zwei Frauen, umkreisen die Erde. Was geht in ihnen vor, wie wirkt diese Extremsituation des Ausgesetztseins in der lebensfeindlichen Umgebung des Alls auf sie? Samantha Harvey hat ein Buch geschrieben, als wäre sie selbst an Bord gewesen. Die Tagesabläufe sind vom Kampf um die Erhaltung der Gesundheit in der Schwerelosigkeit, den zahllosen wissenschaftlichen Experimenten und den überwältigenden Eindrücken im Blick auf den Heimatplaneten bestimmt. Ihre Beschreibungen schaffen eine Atmosphäre, dass sich der Leser wie ein Teilnehmer dieser Raumfahrt fühlt. Er möchte weiter und weiter fliegen und ihrer wunderbaren Sprache in der Übersetzung von Julia Wolf folgen. Für dieses Buch hat sie in diesem Jahr den Booker Prize bekommen.
dtv, München 2024, 224 Seiten
Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand
Dieses Buch ist eher ein Vademekum. Es ist schmal, aber es enthält Wahrheiten, die man sich wieder und wieder vorsagen sollte. Dabei entsteht auch so etwas wie Trost. Denn der Einzelne kann aus den «Zwanzig Lektionen für den Widerstand» ableiten, dass es nicht egal ist, wie er sich im Grossen und Kleinen verhält. Mit Recht ist dieses Buch, das Jahr für Jahr neue Auflagen erlebt, weltweit zum Bestseller geworden. Nicht alles darin ist gleich wichtig. Aber anderes um so mehr. Zum Beispiel Lektion 18: «Bleib ruhig, wenn das Undenkbare eintritt.» Im Fliesstext heisst es dazu unter anderem: «Wenn es zu einem Terroranschlag kommt, dann denk daran, dass Autoritäre solche Ereignisse nutzen, um ihre Macht zu festigen.» Und die Medien?
C. H. Beck, München 2023, 9. Auflage, 127 Seiten
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Paul Lynch: Das Lied des Propheten
Zu Recht hat der irische Autor Paul Lynch für seinen Roman «Das Lied des Propheten» den renommierten Booker Preis bekommen. Schritt für Schritt entwickelt Lynch eine Dystopie, die sein Irland zur Hölle werden lässt. Eine autoritäre Regierung hat die Macht übernommen, macht aus Irland einen unberechenbaren Willkürstaat, in dem demokratische Regeln nicht mehr gelten. Im Mittelpunkt steht eine Familie, Mutter und vier Kinder, deren Mann verhaftet wird. Sie verliert ihre Lebensgrundlagen, kämpft ums Überleben. Lynch versteht es, Einzelschicksal und Niedergang einer ganzen Gesellschaft eng und logisch zu verbinden. Man liest einen spannenden Roman und bekommt gleichzeitig die schlimmstmögliche Entwicklung eines politischen Systems mit.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024, 320 Seiten, aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Arno Geiger: «Reise nach Laredo»
Eine eigenartige Geschichte hat sich der Österreicher Arno Geiger ausgedacht – aber sie geht auf. In seinem Roman «Reise nach Laredo» werden wir nach Spanien, ins 16. Jahrhundert geholt und erleben, wie sich der kranke, lebensüberdrüssige König Karl, der sich aus der Öffentlichkeit verabschiedet hat und in einem abgelegenen Kloster dahinvegetiert, aufmacht, um noch einmal das Leben zu erforschen und in kleinen Rationen zu geniessen. Der elfjährige Geronimo begleitet ihn, Pferd und Maulesel werden gesattelt und auf geht es in eine unbekannte, abenteuerreiche Welt. Geiger versteht es, in seinem spröden Erzählstil, seinen knappen, tiefschürfenden Sätzen mittelalterliche Atmosphäre in modernem Sprachgewand zu vermitteln.
Carl Hanser Verlag, München 2024, 272 Seiten
Benedict Wells: Die Geschichten in uns
Übers Schreiben ist schon sehr viel geschrieben worden – und trotzdem wagt sich der deutsche Autor Benedict Wells an das Thema. Ganz zur Zufriedenheit des Lesers. Denn wenn uns Wells auch nichts Neues berichten kann, versteht er es doch meisterhaft, das Thema frisch aufzubereiten. Dabei mischt er virtuos Persönliches mit Theoretischem, sucht sich Vorbilder und Zeugen in der Literaturgeschichte, widmet sich ausgiebig den vielen Varianten des Scheiterns, die zum Schreiben gehören, und führt uns vor, wie aus autobiografischem Material Prosa entstehen kann. Das Existentielle am Schreiben wird behutsam freigelegt, das Entstehen von Geschichten dokumentiert.
Diogenes Verlag, Zürich 2024, 400 Seiten
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Ta-Nehisi Coates: The Message
Das jüngste Werk des schwarzen Schriftstellers Ta-Nehisi Coates war 2024 in den USA eines der kontroversesten Bücher des Jahres. Coates schildert eine Reise nach Dakar, der Hauptstadt Senegals, auf den Spuren von Vorfahren, die einst als Sklaven von Westafrika nach Amerika verschifft waren. Er besucht eine Bibliothekarin in Columbia (South Carolina), die sich dagegen wehrt, dass sein Buch im konservativen Südstaat verboten wird. Und er wird im Westjordanland Zeuge der israelischen Besatzung, deren vage Einschätzung in den USA nicht den Realitäten am Boden entspricht – gemäss Noura Erakats Diktum: «Wir sind alle über viel zu viel angelogen worden.» Die schonungslose Schilderung seiner Eindrücke in den Palästinensergebieten hat Coates in Amerikas Medien zu Unrecht teils heftige Kritik und Vorwürfe eingetragen, ein Antisemit oder gar Terroristensympathisant zu sein. Dabei erinnert der dem «New Yorker» zufolge «intellektuell furchtlose» Autor lediglich an den historischen Kontext, ohne den der aktuelle Nahostkonflikt nicht zu verstehen ist.
One World, New York 2024, 235 Seiten
Magnum America. The United States
Die 1947 von Kriegsfotografen in New York gegründete Fotografenkooperative Magnum war bei aller Weltläufigkeit stets eng mit den USA verbunden. Ihr jüngster Bildband zeichnet auf 482 Seiten mit über 600 Aufnahmen, nach Jahrzehnten arrangiert, die bewegte Geschichte einer Nation von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart nach. Kuratiert hat das umfangreiche Werk der amerikanische Fotograf Pete van Agtmael, den als 19-Jährigen der Bildband «Magnum Degrees», eine fotografische Chronik der 1990er Jahre, in seinen Bann schlug: «Ich erhielt eine unmittelbare Erziehung, was Schönheit, Gewalt, Geheimnis, Komplexität und Einfachheit der Fotografie betrifft.» Van Agtmael zufolge soll «Magnum America» keine definitive visuelle Geschichte der Vereinigten Staaten sein, sondern ein Erkunden und Hinterfragen der amerikanischen Kultur, ihrer Mythen und der nationalen Identität. Unter den aus insgesamt 227’450 Bildern ausgewählten Aufnahmen befinden sich denn auch welche, die Pete van Agtmael beim Sturm auf das US-Capitol am 6. Januar 2023 selbst geschossen hat.
Thames & Hudson, London 2024, 471 Seiten, 3,964 Kilogramm
I. S. Berry: The Peacock and the Sparrow
I. S. Berry gehört zu jenen Autorinnen, welche den Stoff, den sie erzählen, aus eigener Anschauung kennen. Die Amerikanerin war sechs Jahre lang als Agentin der CIA in Europa und im Nahen Osten unterwegs, unter anderem während des Arabischen Frühlings zwei Jahre lang im kleinen Öl-Emirat Bahrain, wo ihr Spionage-Thriller, ein Erstling, auch spielt. Der Roman erzählt die Geschichte eines alternden CIA-Agenten, der auf der Insel im Persischen Golf seinen letzten Auftrag erfüllt: Herauszufinden, wie der Iran den Aufstand im mehrheitlich schiitischen Emirat gegen das sunnitische Herrscherhaus unterstützt. Doch er gerät in einen Loyalitätskonflikt gegenüber seinem Arbeitgeber in Washington DC, als er eine geheimnisvolle lokale Künstlerin kennenlernt, die ihn mit einer Seite Bahrains vertraut macht, welche die in ihren Compounds isolierten Expats nie kennenlernen. Der Thriller erlaubt Einblicke in den wenig glamourösen Alltag eines modernen Spions und dessen Praktiken sowie über die Realität des Arabischen Frühlings, in dessen Wirren er wider Willen gerät.
No Exit Press, London 2024, 338 Seiten
- GISELA BLAU EMPFIEHLT
Thomas Knellwolf: Enttarnt
Thomas Knellwolf, einer der besten Reporter, hat im Zürcher Tages-Anzeiger allein oder im Verbund mit anderen hervorragenden Journalisten, so manche Spionage-Affäre der Schweiz aufgedeckt. Nun hat er seine interessantesten Fälle in einem Buch zusammengefasst. Es liest sich spannend wie ein Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legt. Knellwolf scheut sich nicht, die laxen Methoden der Schweizer Behörden zu kritisieren. Die Schweiz, so der Autor, ist dank der Behörden ein Paradies für Spione.
Wörterseh Verlag, Lachen 2024, 256 Seiten
Bärbel Retz: Meret Oppenheim. Wandlungen
Die grosse Künstlerin Meret Oppenheim wurde berühmt durch ihre pelzige Kaffeetasse. Weniger bekannt ist, dass sie und ihre Schwester weitgehend ihre Kindheit und Jugend in der Schweiz verbracht haben, bevor Meret in Paris im Hexenkessel progressiver Kunst und Künstler eintauchte. Die zahlreichen Biografien über sie stammen meist aus kunsthistorischen Quellen. Doch hier liegt eine gesellschaftliche Biografie vor, die den Lebensweg der grossen Künstlerin ganz anders nachzeichnet. Ein Vergnügen, der Lebensgeschichte dieser Grande Dame nachzuspüren.
rüffer & rub, Zürich 2024, 280 Seiten
Norman Ohler: Der Zauberberg. Die ganze Geschichte
Vor genau 100 Jahren erschien Thomas Manns Zauberberg und machte Davos berühmt. 100 Jahre später reiste Norman Ohler mit seiner 14jährigen Tochter aus Berlin nach Davos in die Skiferien. Doch anstatt sich mit den noch unbekannten Brettern die Hänge hinabzustürzen, stürzt sich der Schriftsteller in die Geschichte dieses einst bitter armen Bauerndorfs, das durch teilweise zweifelhafte Kurmethoden in eleganten Sanatorien zu Reichtum kam. Davos, das noch vor Jahren niemandem Einblick in seine Archive gewährte, führt heute offenbar eine zugängliche Dokumentationsbibliothek. Darin fand der Berliner Schriftsteller Unterlagen über den Kuraufenthalt von Katja Mann, die ihren Gatten zu seinem Roman inspiriert haben soll. Der Autor, der auch überaus amüsante Diskussionen mit seiner Tochter und deren Freundinnen beschreibt, erzählt aber auch über die Hinrichtung des Obernazis Wilhelm Gustloff durch den jüdischen Studenten David Frankfurter, so anschaulich, als wäre er dabei gewesen. Davos müsste Ohler zum Ehrenbürger ernennen.
Diogenes Verlag, Zürich 2024, 272 Seiten
- ROLF APP EMPFIEHLT
Chris Inken Soppa: Leo Daly & James Joyce – Eine literarische Irlandreise
James Joyce hat seine Heimat Irland früh verlassen, doch seine Bücher leben von und in ihr. Leo Daly, Schriftsteller auch er, ist immer wieder den Spuren seines berühmten Vorfahren gefolgt. Die Konstanzer Schriftstellerin Chris Inken Soppa und der Grafiker Ralf Staiger nun sind auf einer Reise quer durch die grüne, windumtoste Insel auf den Wegen beider gewandelt: in Dublin, nach Mullingar, Galway, auf die Aran-Inseln. Und machen daraus ein witziges, grosses, auch wunderschön illustriertes Erlebnis. Es ist ein schmales Buch voller Phantasie, der Joyce und Daly durchaus würdig. Und, nicht zu vergessen, auch Nora Barnacles, deren Bedeutung für Werk und Leben von James Joyce man nicht hoch genug einschätzen kann.
Edition Karo, Berlin 2024, 146 Seiten
Philipp Blom: Hoffnung – Über ein kluges Verhältnis zur Welt
Bei Lesungen und Vorträgen wird der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom des öfteren gefragt, ob es denn in unserer krisengeschüttelten, in eine dunkle Zukunft blickende Zeit noch Grund gebe zu hoffen – oder ob dies nicht eitler Selbstbetrug sei. In seiner Antwort an einen jungen Menschen holt Blom weit aus, denkt nach über das denkende Tier namens Mensch, das sich nicht abfinden mag mit seiner Sterblichkeit. Und kommt zum Schluss: Wenn man es klug macht, also nicht von billigem Optimismus getrieben, dann macht Hoffnung Sinn. Die Hoffnung fordert uns auf, ihr zu glauben und ihr zu folgen, «auch wenn die Vernunft davon abrät». Ein kluges, vielschichtiges, zum Mitdenken aufforderndes Buch.
Hanser, München 2024, 182 Seiten
Robert Harris: Abgrund
Ein zutiefst melancholisches Buch, das ganz gut in unsere Zeit und ihre Stimmung passt. Robert Harris, Meister des packenden historischen Romans, taucht ab in den Vorabend des Ersten Weltkriegs und in seine blutigen ersten Jahre, und erzählt von einer Affäre, die es tatsächlich gegeben hat. Den englischen Premierminister Herbert Asquith hat eine tiefe Leidenschaft für die junge Venetia Stanley ergriffen. Unablässig schreibt er ihr Briefe, fährt mit ihr spazieren, besucht sie, schickt mit seinen Briefen geheime Depeschen mit. Was geht da vor, fragt sich der Geheimdienst, ist etwa Spionage im Spiel? Und fängt den Premierminister an zu überwachen.
Heyne, München 2024, 510 Seiten
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Bob Woodward: Krieg
Manchmal sind auch Bestseller lesenswert. Dieser ist es ganz besonders. Es ist Bob Woodwards 23. Buch. Er hatte 1972 zusammen mit Carl Bernstein in der «Washington Post» die Watergate-Affäre aufgedeckt. Gibt es eine Persönlichkeit in Washington, die Woodward nicht interviewt hat? Eher nicht. Er tischt keine Vermutungen auf, keine Verschwörungen: er gibt Fakten und Belege. Tief blickt er in den Maschinenraum der Mächte. Es geht um internationale Politik, um die Ukraine, um den Nahen Osten. Verblüffend und vielsagend die Beschreibungen von Putin, Trump und Netanjahu. Manches ist bekannt, aber Woodward erzählt es anders und stellt es in teils überraschende Zusammenhänge. Biden kommt bei Woodward eher gut weg. Mit Trump hat er mehrmals gesprochen. Er zeigt den früheren und neuen Präsidenten in einem etwas anderen Licht, als es viele tun. Keineswegs in einem besseren. Und: Wer nach der Lektüre dieses Buches immer noch Sympathien für Putin hat – der wird wohl in der nächsten Zeit eines Besseren belehrt. Bob Woodward ist 81 Jahre alt – er kann es noch immer.
Hanser, München 2024, 464 Seiten
Adriano Bianchi: Die Brücke von Falmenta
Im Juli 1943 landen die Alliierten in Süditalien. Die italienische Armee steht vor der Kapitulation. Mussolini wird verhaftet, doch die Deutschen befreien ihn und setzen ihn in der «Republik von Salò» am Gardasee wieder ein – ein von den Nazis dominiertes Schrumpfgebilde. Der 1922 im Piemont geborene Adriano Bianchi erhält von den faschistischen Truppen einen Marschbefehl. Er flüchtet in die Schweiz und darf in Genf studieren. In seiner hier vorliegenden Lebensgeschichte beschreibt er das zwar zurückhaltende, aber «liebe und schöne Genf» auf wunderbare, einfühlsame Weise. Dann will er gegen die Faschisten kämpfen, schliesst sich oberhalb von Brissago einer Partisanenbrigade an und wird Kompaniekommandant. Die Kämpfer erobern den Raum nördlich von Domodossola. Bianchis teils sehr emotionale und literarische Aufzeichnungen vom Partisanenleben sind einfach nur schrecklich: Erschöpfung, Hunger, Kälte, Hoffnungslosigkeit, interne Streitereien. Die besten Freunde sterben. Schnell bricht die «Partisanenrepublik Ossola» zusammen. Bianchi wird schwer verletzt, er wird in die Schweiz gebracht und in Lungern und Genf gepflegt. Er ist des Lobes voll über die Schweizer Hilfsbereitschaft. Das Buch beschreibt erschütternde, kaum bekannte Ereignisse, die sich gegen Ende des Krieges nahe der Schweizer Grenze abgespielt haben.
Edition 8, Zürich 2024, 288 Seiten
Markus Frenzel: China Leaks
Das Buch ist ein Hammer. Mit einer umfangreichen, soliden Recherche deckt ein Netzwerk, dem der deutsche Investigativjournalist Markus Frenzel angehört, die arrogante und skrupellose chinesische Einschüchterungspolitk im Westen auf. 21 Journalistn aus zehn Ländern hatten über ein Jahr lang recherhiert. Frenzel gibt Details, wie Regimekritiker in Deutschland terrorisiert werden. Einer Frau wurde mit dem Tod gedroht. Als sie sich nicht drohen liess, wurde sie mit 100'000 Euro gelockt. Als auch das nichts brachte, wurde sie im Internet als Prostitierte mit persönlicher Adresse verunglimpft – was viele Freier anlockte. Unter Xi Jingping verschärft China nicht nur seine Politik zu Hause, sondern auch im Ausland, schreibt Frenzel. Teilnehmer antichinesischer Demonstrationen werden fotografiert, ihre Adressen ausfindig gemacht und ihre Angehörigen in China terrorisiert. Der Autor weist nach, wie China einen Laptop einer Bundestagsabgeordneten knackte. Wir im Westen würden «in grenzenloser Naivität leben», schreibt der Autor. Die wenigsten ahnten, «wie gezielt und skrupellos das chinesische Regime grosse Teile der Gesellschaft in Deutschland unterwandert». Jene, die es nicht wahrhaben wollen, werfen Frenzel vor, er würde Hass gegen China schüren. Dazu sagt er: «Das ist ein altbekanntes Totschlagargument, um die Recherchen zu diskreditieren.» Das Buch handelt von Deutschland, wie steht es in der Schweiz? Auch wir leben wohl in einer grenzenlosen Naivität. Wie war das schon, als die Chinesen das Hotel Rössli direkt neben dem Militärflugplatz Meiringen betrieben?
C.H. Beck, München 2024, 380 Seiten
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