Stille hier bedeutet den Abtransport von Lärm anderswohin. Ge-hörgeplagte Europäer, die bei irgendeinem asiatischen Zen-Meister in die Spiritualität der Stille eingeweiht werden wollen, laden den Lärm in der Umgebung der internatio-nalen Flughäfen ab.
Nun verträgt aber der Mensch ohnehin die Stille – generell Reizentzug – erwiesener-massen schlecht. „Ist der Lärm der Maschinen nicht schrecklich?“ wurde ein Fabrikar-beiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefragt. Seine Antwort: „Ja, vor allem, wenn die Maschinen ausgeschaltet sind.“ 1999 richtete die BBC für die Buchhaltungsabteilung Räume mit doppelverglasten Lärmschutzfenstern und geräuschlosem Klimatisierungs-system ein. Die Angestellten fühlten sich in der Tonlosigkeit derart unbehaglich, dass für teures Geld eine „Plaudermaschine“ installiert werden musste, welche mit künstlichem Hintergrundgeräusch die innere Ruhe der Arbeitenden aufrechterhielt.
Eine „aurale“ Geschichtsschreibung
Stille suchen gehört zum Angebot der Wellnessindustrie. Wir suchen aber nicht Stille, sondern Abwesenheit von lästigem Ton und Geräusch. Das heisst, Lärm ist unaus-weichlich ein normatives Problem: etwas, das nicht sein soll. Lärmschutz wird immer von Reinheitsideen diktiert. Erinnern wir uns hier an die berühmte Definition der briti-schen Ethnologin Mary Douglas: Schmutz ist Materie am falschen Ort. In diesem Sinn gibt es natürlich auch Töne oder Geräusche am falschen Platz - akustischen Schmutz, unabhängig von der Dezibelzahl. Dass sich soziale und kulturelle Normen in die Defini-tionen von Lärm einschreiben, ist den Kulturwissenschaftern längst bekannt. Buchstäb-lich aufhorchen lässt freilich das neu erwachte Interesse an einer Kulturgeschichte der menschlichen Sinne und an akustischen Feldforschungen in urbanen Räumen - soge-nannten „Soundscape“-Studien. Damit knüpft man bei den Bemühungen der soge-nannten „acustic ecology“ in den 1970er Jahren an. Wenn wir den Lärm schon nicht los werden, so sollten wir ihn doch als anthropologisches Phänomen ernst nehmen. Eine „aurale“ Geschichtsschreibung macht von sich hören – zumal des Ersten Weltkriegs aus akustischer Perspektive. Der Historiker Holger Schulze spricht in der aktuellen Ausgabe des „Merkur“ von einem „kritischen Materialismus, der sich den Alltags-momenten, vielleicht trivialen Dingen, nebensächlichen Situationen zuwendet.“ Mit Ma-terialismus meint er eine Sicht, die über Klänge, Geräusche und Lärm den menschli-chen Körper und seine Sinne ins Zentrum rückt.
Der „Adel des Sehens“
Zu einer solchen Trivialität gehört das folgende Beispiel. Ein ökologiebewusster Kon-sument kauft einen teuren umweltverträglichen Kühlschrank. Die Maschine macht Lärm. Der Käufer ruft beim Kundendienst an. „Hat er einen Fehler?“ heisst es am an-deren Ende. Ja, der Kühlschrank ist eindeutig zu laut. Nein, wiederholt der Gesprächs-partner: „Hat er einen Fehler?“ Das Beispiel zeigt deutlich ein Ungleichgewicht in der Bewertung akustischer und optischer Phänomene an. Das Geräusch der Maschine gilt nicht als Fehler, ein kleiner Kratzer an der Tür dagegen vielleicht schon. Nun bringt allerdings diese Trivialität ein tiefer liegendes Ungleichgewicht zum Vorschein, ein geistesgeschichtliches. Die gesamte westliche Erkenntnistheorie, ja, Philosophie, wird dominiert von der Metapher des Auges, dem „Adel des Sehens“, wie ihn Hans Jonas genannt hat. Wir sprechen vom Auge, nicht vom Ohr, oder dem Fingerspitzengefühl, als vom „Organ des Geistes“. Wir sind aufgeklärt, weil unsere Sicht auf die Welt vom Verstand „ausgeleuchtet“ ist. Dieses Paradigma des „Visualismus“ imprägniert unseren Blick seit der Antike. Technisch aufgerüstet setzt es sich in der neuzeitlichen Wissen-schaft fort mit ihrem Regime der sehenden Instrumente: der „Skope“. Man denke nur etwa an das Stethoskop, das im 19. Jahrhundert einen Fortschritt der Medizin an der Hörfront markierte. Es dient dem Aushorchen des Brustkorbs – ist eigentlich ein „Stethophon“ - , und trotzdem wird es explizite als Instrument des Sehens charakterisiert – als ob erst seine „sehende“ Funktion ihm auch den wissenschaftlichen Status verschaffen würde.
Demokratie der Sinne
Bei allen unbezweifelten Vorzügen, die der „Visualismus“ mit sich bringt, entpuppt er sich doch als Symptom einer – man möchte sagen - tauben Tradition, und er deckt damit ein fundamentales Defizit unserer Geschichtsschreibung auf. In der Tat gibt es philosophische Würdigungen der nichtvisuellen Sinne von den Vorsokratikern bis zu Heidegger, und über ihn hinaus. Eines der ältesten und zugleich schönsten Plädoyer für die Demokratie der Sinne stammt von Empedokles, und es klingt, als hätte er es an uns Heutige gerichtet: „Doch wohlan, betrachte scharf mit jedem Sinne, wie ein jedes Ding offenbar ist; und glaube den Augen nicht mehr als den Ohren; schätze auch nicht das brausende Gehör höher als die Wahrnehmungen des Gaumens und setze nicht die Glaubwürdigkeit der anderen Sinne zurück, soweit es einen Pfad der Erkenntnis gibt, sondern suche, jedes einzelne Ding zu erkennen, so weit es offenbar ist.“
Das Organ des Mitlebens
Das Ohr ist das Organ des Mitlebens und Mitfühlens, der Konvivialität. Sich in einen andern Menschen hineinversetzen heisst immer auch: Wie hörst du dich an? 1980 be-richtete die FAZ von einem besonders brutalen Mordfall. Ein fast tauber Mann wurde von zwei ebenfalls Hörbehinderten umgebracht, weil er ihnen Geld schuldete. Die Täter waren Mord-Stümper. Das heisst, ihre Tötungsversuche erwiesen sich als ein einziger bestialischer Prolog von Torturen: zuerst einen Topf Leim, anschliessend eine Mixtur aus Parfüm, Salz und Pfeffer austrinken; dann würgen mit einer Gardinenschnur; Stromstösse erteilen mit einem Gerätekabel; mehrere Flaschen auf dem Kopf zertrümmern; spitze Werkzeuge in den Körper stechen. Als der Gequälte nach Stunden immer noch lebte, ertränkten ihn seine Täter schliesslich in einem Kübel Wasser. Der eine charakterisierte seinen Zustand bei der Tat als „verärgert und nervös“. - Die Forensiker beschäftigte vor allem der Zusammenhang von Hördefizit und Grausamkeit. Ein Experte bezeichnete dabei das Auge als „kaltes“ Sinnesorgan. Die Gefühlswelt von Gehörlosen würde sich möglicherweise nicht so wie bei anderen Menschen entwickeln, weil das Auge nur „kalte“ Eindrücke von der Welt vermittle.
Akustische Überflutung
Daraus nun auf ein Mitleidensdefizit von Hörbehinderten zu schliessen, wäre gewiss diskriminierend. Bedenkenswert bleibt indes, dass das Ohr uns andere Menschen auf spezifische Weise nahe, intim nahe, bringt. Oskar Negt und Alexander Kluge schrieben damals in einem Kommentar: „Nicht nur die menschliche Sinnlichkeit wird geboren durch den anderen Menschen, sondern auch die einzelnen Sinne gewinnen ihre spezi-fische Eigenart als menschliche Sinne durch die Arbeit der anderen Sinne. Die Isolie-rung voneinander macht die Monstren.“ Hier drängt sich nun die Frage geradezu auf: Gibt es diese Isolierung voneinander nicht auch und sogar vermehrt durch zuviel Töne und Geräusche? Die homogenisierte Ton- und Geräuschemulsion in unserem Alltag scheint so etwas wie eine spezifische Taubheit zu erzeugen, die sich in der Unauf-merksamkeit und der Undifferenziertheit gegenüber der akustischen Umwelt. Gehör-geschädigt ist auch der, der so viel hört, dass er nichts mehr vernimmt - und dadurch umso beeinflussbarer wird durch Lärmmacher aus Politik, Publizistik und Werbung.
Science Fiction: Der Verlust der Sinne
Im Science-Fiction-Film „Perfect Sense“ aus dem Jahre 2011 raubt ein insidiöses Virus der Menschheit sukzessive die Sinne. Die Geschichte endet zwangsläufig in Stille und Dunkelheit. Vor diesem Unhappy End gibt es allerdings berührende Momente, die zei-gen, wie anpassungsfähig und phantasievoll die so depravierten Menschen auf den Verlust eines Sinnesorgans reagieren. Als sie ihren Geruchs- und Geschmacksinn ver-lieren, entdecken sie den Tastsinn als Ersatz. Statt die Speisen zu riechen und zu schmecken, beginnen sie sie nun zu fühlen und zu ertasten; statt Gaumenfreuden Fin-gerspitzenlust. Der Feinschmecker wird zum Feintaster. Der Wendepunkt hin zur Kata-strophe kommt genau dann, wenn den Menschen das Hören vergeht. Das soziale Bin-degewebe beginnt sich zu zersetzen: Missverständnisse häufen sich; die Informations-übermittlung läuft schief; die Kommunikation bricht zusammen - die Welt wird zur en-gen Höhle der Vereinzelung.
Politische Ökologie der Sinne
Feinhörigkeit appelliert also nicht nur an das Ohr, sondern an den Menschen in seiner ganzen Körperlichkeit – vielleicht müsste man sagen: an den Körper als das Medium einer politischen Ökologie der Sinne. Dauernd suggerieren uns ja die mobilen Gadgets: Du brauchst nicht mehr zu schauen, zu hören, zu fühlen, wir tun das für dich. Eigentlich kannst du deinen Körper gleich abgeben! Es hat etwas grotesk Paradoxes, wenn uns heute technische Applikationen unaufhörlich als Sinneserweiterungen aufgeschwatzt werden, die sich im Grunde als Sinnesverengungen entpuppen. Sobald uns das bewusst ist, kann Lärm auch befreiend wirken. Wir entdecken durch ihn hindurch unsere eigenen Ohren wieder – uns selbst, den Souverän der Sinne. Feinhörig werden heisst deshalb, auch in einem technisch hochgerüsteten Zustand bei Sinnen zu sein. Wie ein Pionier der akustischen Ökologie – Bernie Krause – schon in der 1960er Jahren warnte, sind wir dabei, mit all den Hör-„Erweiterungen“ die Vielfalt der menschlichen Hörerlebnisse zu vermindern; will heissen: eine wichtige Quelle geglückten Lebens.