
Die Szene im Oval Office mit dem bedrängten, wenn auch wehrhaften Wolodymyr Selenskyj vom vergangenen Freitag weckt dunkle Erinnerungen an einen Mann, den die Welt längst vergessen hat. Und sie war weit mehr als ein diplomatischer Ausrutscher.
Wir sind im Jahr 1938. Hitler sieht, dass sich «ein Zeitfenster zu schliessen beginnt, in dem die Gelegenheit für seinen Krieg günstig sein würde», wie der amerikanische Historiker Benjamin Carter Hett in seinem Buch «Eskalationen. Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang» (Reclam, 2021) schreibt. Die Tschechoslowakei steht im Zentrum seiner Pläne, zuerst greift er nach dem deutschsprachigen Sudetenland, dann nach dem Ganzen. Fingierte Vorfälle werden fabriziert, und während Hitler die Lage gezielt eskaliert, ist der englische Premierminister Neville Chamberlain entschlossen, eine Balance zu finden zwischen Warnung und Mässigung. Er will Hitler treffen, worüber dieser nicht glücklich ist. In einem Vier-Augen-Gespräch, mitverfolgt einzig vom Dolmetscher, tobt Hitler, während Chamberlain ruhig bleibt.
Vielleicht ein leichter Herzinfarkt
Hitler sagt, er wünsche nicht, die Tschechen ins Reich aufzunehmen, es gehe ihm nur um die Deutschen. Chamberlain glaubt es. Er überredet sein Kabinett und die verbündeten Franzosen, dem ausgehandelten Abkommen zuzustimmen. Mussolini macht den Vorschlag einer Vier-Mächte-Konferenz, man trifft sich in München. Dort rettet Chamberlain den Frieden, wie er meint. Seine osteuropäischen Verbündeten sind entsetzt, ebenso jene Widerständler in der deutschen Armee, die einen Putsch vorbereitet haben.
Doch trotz des Abkommens eskaliert Hitler weiter. In letzter Not ersucht der tschechische Staatspräsident Emil Hácha um ein Treffen. In Berlin wird er im März 1939, wie Bejamin Carter Hett die Szenerie beschreibt, «mit der Art von Schikane und Einschüchterungstaktik konfrontiert, die Hitler schon vielen anderen, wie etwa dem österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg im Jahr zuvor, hatte angedeihen lassen». Hácha wird ohnmächtig, erleidet vielleicht sogar einen leichten Herzinfarkt, und unterschreibt, wieder zum Leben erweckt, ein Papier, das sein Land zum deutschen «Protektorat» macht.
Die inszenierte Eskalation
Natürlich hat sich das Zusammentreffen von US-Präsident Donald Trump, seinem Vize J. D. Vance und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom vergangenen Freitag im Oval Office etwas zivilisierter abgespielt als jenes zwischen Hácha und Hitler. Aber der Einschüchterung hat auch die Washingtoner Inszenierung gedient, und, wie Erich Gysling überzeugend nachgewiesen hat: inszeniert war diese Eskalation vor laufenden Kameras auch. Sie sollte abschrecken – zunächst Selenskyj und seine bedrängte Nation, danach die aufsässigen Europäer. Und sie soll wohl vorbereiten auf jenen Friedensplan, dessen Inhalt Trump absichtsvoll im Dunkeln lässt (im Gegensatz zum Rohstoffabkommen, über das er ausgesprochen gerne spricht). Putin im Hintergrund wird sich sehr freuen über das Powerplay seines neuen, vorderhand noch heimlichen Verbündeten.
Was ist zu lernen, nicht nur mit Blick auf die Geschichte, sondern auch auf das Geschehen der vergangenen Wochen? Bevor er jetzt Selenskyj der Undankbarkeit bezichtigt hat – wobei der, wie CNN nachgerechnet hat, sich beim amerikanischen Volk bereits 33-mal bedankt hat –, hat J. D. Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz bereits seinen Auftritt gehabt. Dort hat er auf tief brüskierende Weise insbesondere dem Verbündeten Deutschland kräftig in die Innenpolitik hineingeredet. Da sei, hat er gesagt, ein neuer «Sheriff in town», und dieser Sheriff namens Trump scheint sich nun von Grönland über Panama und Gaza bis in die Ukraine hinein für alles zu interessieren, womit sich Geld verdienen lässt – und Ehre, denn vom Friedensnobelpreis träumt der Unersättliche auch.
Trump erhebt Zölle ohne Rücksicht auf Verluste; kein Tag, da er nicht irgendwelche Dekrete unterzeichnet, um seinen Machtrausch zu zelebrieren. Und an den Stützen der ältesten Demokratie sägt er dabei auch ganz gern. Putin herrscht seit einem Vierteljahrhundert über Russland, warum also nur gerade zwei lumpige Amtszeiten für Donald Trump?
Eine neue Kraft: der Rechtspopulismus
Noch einmal: Was ist zu lernen? Erstens: Nachgeben lohnt sich nicht, weder gegenüber Russland bezüglich der Ukraine noch gegenüber den USA. Das Verteidigungsbündnis, das nach 1945 die Demokratien des Westens in der Nato zusammengeführt hat, existiert nur noch auf dem Papier. Und: Mit dem Rechtspopulismus hat eine politische Kraft die Weltbühne betreten, der mit herkömmlicher Diplomatie nicht beizukommen ist.
Zweitens: Gegenüber so dominanten Mächten wie den USA, Russland und China bedarf Europa dringend einer inneren Stärkung. Es muss militärisch aufrüsten, seine tonangebenden Staaten müssen sich politisch und wirtschaftlich finden. Dabei gilt: Wirtschaftlichen und politischen Konflikten mit den USA auszuweichen ist keine gute Idee.
Drittens: Zur Lackmusprobe, ob sich Europa einer sich neu formierenden Staatenordnung gewachsen zeigt, wird die Ukraine. Hier muss das Vordringen Russlands gegen den Westen gestoppt werden, mit Waffen, die nicht mehr die unzuverlässigen USA liefern, sondern die Europäer. Insbesondere die Deutschen müssen dringend ihre reale und mentale Abhängigkeit von den USA abschütteln. Das bedeutet auch: Sie brauchen sehr rasch eine arbeitsfähige Regierung. Die dann auch – mit andern – mitreden kann bei einem Friedensabkommen für die Ukraine.
Die Schweiz, Hort der Ruhe?
Und was bedeutet das Ganze für die Schweiz? Kann sie sich weiter als Hort der Ruhe gebärden in einem aufgewühlten Europa? Das wäre wohl die falsche Politik. Denn die Schweiz will ja nicht nur neutral sein. Sie will auch jene Werte der Demokratie vertreten und schützen, aus denen sie lebt. Das bedeutet: Auch sie muss aufrüsten. Und sie muss stärker zusammenarbeiten mit den umliegenden Demokratien. Sie ist Teil eines nicht nur von Osten, sondern neuerdings auch von Westen her bedrohten Ganzen, auch wenn sie ein besonderer Staat ist und bleibt.
Wolodymyr Selenskyj aber darf nicht alleingelassen werden. Ihm und seinem Volk muss unser Engagement gelten. Durchaus in unserem eigenen Interesse.