Das Ergebnis dieser Wahlen ist vor allem ein Protest gegen die Selbstherrlichkeit vieler Partei-Grössen. „Sie leben in einem Elfenbeinturm, wissen nicht, was das Volk braucht und verprassen die Steuergelder“. So äussert sich Beppe Grillo, der Gründer und Anführer dieser „Anti-Establishment-Bewegung".
Die vielen Stimmen, die er jetzt erhalten hat, überraschen alle. Es sind nicht nur Stimmen für Grillo: es sind vor allem Stimmen gegen die traditionellen Parteien.
Nur zwei Prozent haben Vertrauen in die Parteien
Die Italiener haben kein Vertrauen mehr in ihre Politiker. Die Politikverdrossenheit hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Eine im April veröffentlichte Umfrage der bürgerlichen Zeitung Corriere della sera zeigt, dass nur zwei Prozent der Italiener Vertrauen in die politischen Parteien haben.
Schlimmer noch: Auch an die politischen Institutionen glauben die Italiener nicht mehr. Neun von zehn Italiener haben kein Vertrauen in ihr Parlament. Dies ist der tiefste Wert seit dem Zweiten Weltkrieg. Für ein westeuropäisches, zivilisiertes, demokratisches Land sind solche Zahlen einfach nur schrecklich.
„Für wen würdet ihr Schweizer denn stimmen?“ fragte uns letzte Woche ein 50-jährige Unternehmerin in der Provinz Siena. „Alles ist so hoffnungslos, es wird sich nichts ändern“.
Die Berlusconi-Partei sei korrupt, habe das Volk belogen und in langen Regierungsjahren nichts erreicht. Die Bürokratie grassiere schlimmer denn je. „Die Politiker kassieren und erhöhen die Steuern“.
Die Lega Nord von Umberto Bossi sei „einfach nur lächerlich“. Sie stecke Millionen von Steuergeldern in die eigene Tasche. „Soll ich mit meinen Steuern ein schnelles Auto von Bossis Sohn bezahlen?“
Und die Linke, die im Moment stärkste Partei Italiens? „Was schlägt denn die Linke schon vor?“ fragt die Unternehmerin. „Sie hat keine Ideen, kein Konzept, ist zerstritten und festgefahren. Seit sie ihren Lieblingsfeind Berlusconi verloren hat, ist sie nur noch apathisch“.
Und das Zentrum? „Die Zentrumsparteien sind doch ein Witz. Es geht doch nur darum, wer sich als Parteiführer aufschwingen kann. Das Volk ist ihnen doch egal“.
„Also“, fragt jetzt die Unternehmerin fast aufgebracht, „für wen würdet ihr Schweizer denn stimmen?“
Doktortitel aus Albanien
So wie diese Italienerin denken heute Millionen. Sie sind angewidert von den Parteiskandalen, Schmiereireien und Schummeleien. Fast täglich erfahren sie aus der Zeitung von neuen Korruptionsfällen, Veruntreuungen und Betrügereien.
Zu den schönsten Geschichten gehört jene, dass Renzo Bossi, der Sohn des Lega-Führers Umberto Bossi, seinen Doktortitel in Albanien gemacht hat, und zwar innerhalb von zwei Tagen. Ausgerechnet in Albanien. Seit Jahren wettert die fremdenfeindliche Lega mit übelsten Attacken gegen die „Balkanesen“.
Solche Geschichten geben Beppe Grillo Aufwind. Die jetzigen Wahlen sind der Beweis dafür. In mehr als tausend italienischen Gemeinden war am Sonntag und Montag gewählt worden. Die Ergebnisse dieser Barometer-Wahlen haben grossen symbolischen Wert.
Polit-Clown?
Beppe Grillo, ein 63-jähriger Komiker und Kabarettist aus Genua, ist lange Zeit als Polit-Clown belächelt worden. Und ein Clown ist der weisshaarige, bärtige Grillo schon ein bisschen. Im Oktober 2009 hat er seine Bewegung gegründet, die „Fünf-Sterne-Bewegung“ („Movimento 5 Stelle“). Die Organisation nennt sich bewusst nicht „Partei“, sondern „Bewegung“.
In 261 Gemeinden ist es ihm in rund zwei Jahren gelungen, eine Basis für die Fünf-Sterne-Bewegung einzurichten. Grillo setzt für seine Kampagnen vor allem das Internet ein. Er richtet sich in erster Linie an Junge, von denen ein Drittel arbeitslos ist. Sein Blog ist angriffig, manchmal witzig, oft vulgär.
Seine Anhänger werden Grillini genannt, die kleinen Grillen. Sie schwirren ihm von allen Seiten zu: von links und rechts. Die Ideologie der Bewegung ist wenig fassbar. Ein klare „Partei“-Linie gibt es noch nicht. Fest steht nur, dass Grillo aus der EU austreten und die Lira wieder einführen will.
Ein Schock für das Polit-Establishment
Die Bewegung ist sehr heterogen. Da gibt es Leute, die – wie die Lega – gegen Rom und die Ausländer wettern. Andere geben sich fast schon marxistisch. Auch starke Anlehnungen an die Piraten anderer Länder sind auszumachen. Gefordert wird die „horizontale Demokratie“, die vor allem über Internet-Abstimmungen funktionieren soll. Eine starke Strömung in der Bewegung fordert, dass die Steuern nicht bezahlt werden sollen.
Grillo ist bis heute ausgelacht und unterschätzt worden. Die wichtigen Politiker im Land, aber auch die grossen Zeitungen und Fernsehstationen nahmen ihn nur als Fussnote zur Kenntnis. Jetzt ist alles anders. Die Ergebnisse in manchen Gemeinden sind ein Schock für das Polit-Establishment.
In der Stadt Parma in der Emilia Romagna hat die Bewegung sage und schreibe 21 Prozent der Stimmen erreicht. In Genua erzielte der Grillo-Kandidat 14 Prozent. „Wir sind nicht anti-politisch“, kommentierte Grillo in einem ersten Twitter-Kommentar am Montagabend, „wir sind die neue politische Kraft“.
Auf der Grillo-Internetseite steht: „Wir sind der dritte Pol. Jetzt wollen wir die zweitstärkste Partei werden“. „Hören wir auf mit der Politik, die unser Land auffrisst“ heisst es im Internet-Blog www.beppegrillo.it. In Verona erzielte die Bewegung 9,1 Prozent, in Cuneo 8,8. Für eine Partei, die kaum Geld hat, sind das erstaunliche Werte.
Kriecht aus Käseglocke hervor
Neben dem Boom der fünf Sterne haben die jetzigen Wahlen auch andere Tendenzen deutlich gemacht. Berlusconis Partei musste an mehreren Orten herbe Verluste einstecken. Die Linke hingegen konnte zulegen. Die in Skandale verwickelte Lega Nord büsste Stimmen ein und verlor sogar in Umberto Bossis Geburtsort. In Verona gewann der Lega-Kandidat, doch er steht auf Kriegsfuss mit Bossi. In mehreren Gemeinden muss eine Stichwahl durchgeführt werden.
Der überraschende Aufschwung der Grillini ist eine Warnung an die grossen Parteien: Beschäftigt euch endlich nicht nur mit euch selbst, sondern mit den Nöten des Volkes. Kriecht aus eurer Käseglocke hervor, verteidigt nicht nur eure grotesken Privilegien, hört auf, das Volk zu belügen. Ob die Politiker diese Warnung verstehen, ist fraglich. Die etablierten Parteien täten gut daran, die Ergebnisse der jetzigen Gemeindewahlen sorgfältig zu analysieren.