Das Pegambhalla-Tal ist beinahe menschenleer und die wenigen Behausungen sind vom Dschungel zugedeckt. So auch die paar Hütten von Vikram und Manisha, obwohl sie den Wald hier gelichtet haben, damit das Halbdunkel der Monsunmonate nicht das ganze Jahr über anhält. Und damit die Tiere keine Deckung erhalten. Sie kommen dennoch – Wildschwein, Bär, Stachelschwein, Büffel, Hirsch, Schlangen. Andere Tiere markieren zumindest Präsenz. Ein Elefant, Männchen und Einzelgänger, tat es mit reichlichem Dung am Rand des Anwesens und Trompetenstössen in der Nacht. Und beim frühmorgendlichen Pranayama war Manisha einmal das starke Schnaufen der Teilnehmer aufgefallen. Bis sie realisierte, dass es der Leopard war, der aus dem Tal heraufkeuchte.
Das Leben ist einfach in Hairpin 34/43. Die Badehütte ist ein Freilicht-Modell mit drei Wänden aus Palmblättern, die Wasserhahnen sind ein abgedrehtes Schlauch-Ende mit einer Plastic-Halterung. Im ganzen Anwesen gibt es nur einen Klappstuhl, dafür reichlich Sitz-, Yoga- und Hängematten. Ein Pelton-Motor spendet abends während zwei Stunden 300 Watt fürs Küchenlicht und das Aufladen der Stirnlampen-Akkus. Das Brot wird in einer ausgetüftelten Gugelhopf-Form über dem Feuer gebacken, und das Reismehl für die Idlis stampfen Alamma und Govindamma vierhändig mit einem schweren Mörserstock. Die Butter ist, dank fehlendem Kühlschrank, immer angenehm weich.
Ein Minimum an 'body comforts'
Ein idealer Ort für zehn Tage Hatha Yoga, Pranayama, Meditation. Er bietet Einfachheit, Konzentration, ein Minimum an ‚body comforts‘, um mit dem eigenen Körper (und dessen Widerständen) zu arbeiten. Für die Sesshaften allerdings ist das einfache Leben in Wahrheit ein komplexes Überlebensspiel. Man muss nur die Areka-Nuss-Palmen ansehen, die der Elefant spasseshalber gefällt hat. Und die Bevölkerungsvermehrung unter den Tieren, sowie die Vergandung der Reisterrassen sind nur die Kehrseite der Entvölkerung der Bauern, denen der Landbau die Existenz nicht mehr sichert.
Ein bisschen gilt dies auch für den Retreat. Der langjährige Yoga-Dilettant, der ich bin, realisiert rasch, dass die Praxis ebenso kompliziert sein kann wie die Namen der Asanas, die von den Lippen Judiths perlen. ‚Adhomukhasvanasana‘ ist so eine. Man könnte es auch einfacher sagen – der ‚Hund‘. Es würde die Einfachheit der Stellung besser wiedergeben: Gestreckte Beine, gestreckte Arme, alle Vier fest im Boden verankert. Denkt sich der dilettierende Yogabhakt. Doch so unpräzise wie die Haustier-Metapher ist die Idee einer einfachen Asana. Judiths Instruktionen hören sich anders an: „Gewicht weg von der linken Zehe auf die grosse Zehe ... den kleinen Teil des Mittelfussknochens zum inneren Fersknochen hin ... der äussere Fuss-Ballen stark ... das äussere Knie nach innen .. die innere Leiste scharf wie eine Messerschneide ... dr Buuch-Nabu zrügg zum Steeissbeei ... die Femurknochen ins Gesässbecken fallen lassen, das Brustbein zum neunten Wirbel ... die fliegenden Rippen zum Boden hin, die Zwischenrippenmuskulatur weich, elastisch, der Rippenbogen hoch, die oberen äusseren Schultermuskeln zurück“. Und dabei ruhig ein- und ausatmen. Es ist schliesslich nur die Ruheposition für kompliziertere Klimmzüge.
Unbekannte Dimensionen der eigenen Anatomie
Eine eigene ‚Yoganatomie‘ öffnet sich mir in dieser Woche. Als wäre ich vierbeinig und ein Wiederkäuer, höre ich zum ersten Mal vom inneren und äusseren rechten Knie, von der oberen und unteren linken Leiste, vom linken Bauch und dem rechten Bauch. Ich habe ein westliches Hirn (vorne) und ein orientalisches, genauso wie eine Zweizahl von Körpern, nur dass der westliche diesmal meine Hinterseite ist, und der östliche die Vorderseite. Besonders lieb wurde mir die Vorstellung des inneren und äusseren Körpers, und Judiths Rat, den äusseren nur so lange leiden zu lassen, als der innere noch lächelt. Es wurde mein Rettungsring. Jedesmal wenn das Lächeln erstarb, legte ich mich erschöpft auf die Matte. Judith ist, genauso wie die Mehrzahl der Teilnehmer, eine Schülerin von B.K.S.Iyengar. Der 94-jahrige Meister, der immer noch – freihändig – auf dem Kopf steht, lehrt ein anspruchsvolles, asketisches Yoga. Es basiert auf einem Körperverständnis, das weit subtiler ist als meine grobe Vorstellung von ‚Fuss‘ und ‚Arm‘ und ‚Rippe‘.
In seinem Klassiker ‚Light on Yoga‘ spricht Iyengar zwar nur vom Verrenken, Beugen, Strecken dieser Gelenke und Muskeln. Aber im persönlichen Arbeiten soll ‚Guruji‘ einen wahren Röntgenblick haben, der jede Faser und jeden Sehnenansatz erspäht, und damit arbeitet. Seine Schüler lernen, mit dem Bewusstsein so systematisch von ihrem Körper Besitz zu nehmen, dass sie jede Faser zu spüren und zu kontrollieren beginnen – das Fallenlassen des Femurs etwa, genauso wundersam wie die Fähigkeit, mit den Ohren zu wackeln.
Iyengar verspricht keine Abkürzungen auf dem Weg zu einem durch und durch bewussten – und damit gesunden – Körper. Für Leute, die einen Schnellkurs in Erleuchtung absolvieren wollen, ist Hairpin 34/43 wohl eine zu enge Kurve. Nichts von den fliegenden Astanga-Stellungen, nichts vom hektischen ‚Power Yoga‘ oder der Gewächshaus-Atmosphäre von Bikram Chaudhurys ‚Hot Yoga‘. Natürlich redet man während der Mahlzeiten oder beim Schwimmen im Bach auch über diese jüngsten Verwerfungen in der Yoga-Szene. Selbst in Indien hat Chaudhury’s ‚Bikram Yoga‘ inzwischen Wellen geworfen. Sein Versuch, den 26 wichtigsten Yogastellungen bei vierzig Grad Raumtemperatur sein Copyright aufzudrücken, hat sogar die Regierung auf den Plan gerufen. Auf einer Website namens ‚Traditional Knowledge Digital Library‘ hat sie 1300 Asanas als integralen Bestandteil der Kultur Indiens – und damit der Menschheit - eingefordert, dokumentiert mit Video-Aufnahmen und Hinweisen auf die schriftlichen Quellen, in denen sie erstmals erwähnt werden.
In Iyengars Philosophie ist das Ziel von Hatha-Yoga nicht die perfekte Dehnung des Körpers, sondern „die Dehnung des Bewusstseins“. Die Asanas sind eine Körpermeditation, sie öffnen den Raum, in dem das Bewusstsein schliesslich das göttliche Selbst spiegelt, „wie der Mond das Licht der Sonne“, wie es Iyengar in ‚Tree of Yoga‘ schön beschreibt. Die Konzentration auf den Körper hat Iyengar weltweiten Respekt gebracht. Doch der Ruhm fordert seinen Preis. Hatha-Yoga ist nur eine der acht Sprossen des Yoga-Wegs zur Erleuchtung. Aber die hartnäckige Schwerkraft des Körperlichen bringt es mit sich, dass es sich selbst in Iyengars Praxis verselbständigt hat. So konnte daraus eine Körpergymnastik werden, gierig aufgegriffen von einer körpervernarrten Welt. Auch ich ging die Kurve in Hairpin 34/43 wohl zu schnell an. Jedenfalls öffnete sich mir das Dritte Auge der Erkenntnis nicht. An dessen Stelle brannte dort, bescheiden, weiterhin das milchige Licht der Stirnlampe.