Ich schreibe diese Zeilen in der ländlichen Abgeschiedenheit von Alibagh, mit einem Höllenlärm in den Ohren: eine dröhnende Lautsprecherstimme, die bedächtig und sachlich beginnt und sich dann im Fünfminutentakt zum Gebrüll steigert. Sie bricht abrupt ab, es folgen einige Takte hämmernder Bass und die Melodiefahne einer krähenden Frauenstimme. Dann plötzlich Stille. Einige Sekunden lang lassen sich Vogelstimmen vernehmen, dann hebt der rotierende Kommentar wiederum an.
Nationalsport Cricket
Heute morgen besichtigte ich die Quelle dieses Lärms, das jedes Jahr den Alltag unseres Alibagh-Winters ausfüllt. Eine holprige Allmend, noch immer voller Lehmklumpen unter der Grasdecke des letzten Monsuns. Ein Kreidekreis misst ein Cricketfeld ab, am Rand ein flatterndes Zelt, darunter ein paar Stühle, und eine Wand aufgestapelter Lautsprecherwürfel.
Ausser uns scheinen sich keine Dorfbewohner davon irritieren zu lassen. Warum sollten sie, kommen damit doch ganz Awas und die Dörfer im Umkreis in den Genuss eines Live-Cricketspiels. Man kann seinen täglichen Pflichten nachgehen und trotzdem dabeisein, wenn dem Nationalsport gefrönt wird.
Der Bauer kann weiter seinen Mist über das abgeerntete Reisfeld verteilen; der Lumpensammler radelt im Takt der Stentorstimme die Dorfstrasse entlang und kündet mit der Fahrradglocke an, dass er open for business ist; die Hausfrau kann in der Sonne vor dem Haus sitzen, Erbsen schälen, und vage mitbekommen, ob ihr Team oder das vom Nachbarweiler mehr Runs zuwege und Wickets zum Fallen bringt.
Historischer Sieg der indischen Selection
Sässe Ravi Shastri in seinem Wochenendhaus im benachbarten Sasawne, könnte auch er mitbekommen, wie sich die zwei Teams im Dezibelgewitter – und vor leeren Rängen – die Bälle ablaufen. Aber er ist mit Sicherheit nicht zuhause, sondern in Sidney. Das weiss nicht nur jedermann in Sasawne, sondern ganz Indien, zumindest die ungezählten Millionen Inder, die in den letzten Wochen die Australien-Tour ihres Teams mitverfolgt haben.
Ravi Shastri ist der Chef-Trainer der indischen Selection. Und mit ihr hat er soeben seinen grössten sportlichen Triumph erlebt: Sie haben das – zuhause schier unbezwingbare – australische Team in einer Test-Serie bezwungen. Am Montag nahm Captain Virat Kohli nach dem letzten von vier Spielen in Sidney den Pokal entgegen. Es war das erste Mal, dass Indien Australien down under besiegen konnte. Es musste dafür 71 Jahre warten, d. h. seit es das demokratische Indien gibt.
Im Cricket sind Test-Spiele nicht das, was wir unter dem Wort Test verstehen. Es bezeichnet den klassischen Cricket-Match, der über vier bis fünf Tage geht, von langen Tea Breaks im Pavillon unterbrochen, bis alle Wickets auf beiden Seiten gefallen sind.
Ein Spiel für Gentlemen
In seiner Test-Variante ist Cricket nicht nur ein Ausdauersport, der Geduld und Zähigkeit verlangt. Die wechselnden Tageszeiten, Lichtverhältnisse, Rasen- und Wetterbedingungen verlangen vom Captain taktisches Gespür dafür, wie er sein Team im Rund verteilt, welchen Spieler er gegen welchen Gegner zum Batting (Schlagen) und Bowling (Werfen) aufbietet, wie eng oder weit er das Team im runden Feld staffelt.
Test-Cricket war ursprünglich ein Spiel für Gentlemen, eine Spezies Mensch, die keiner geregelten Arbeit nachgehen muss und es sich leisten kann, als Spieler oder Zuschauer ganze Nachmittage zu verbringen, ohne dass etwas passiert. Es ist nicht das Spiel für die Sorte Zuschauer und Teilnehmer, die nur am Wochenende oder am Abend Zeit haben, den weissen Flanell-Pullover überzuziehen oder sich ein Spiel anzuschauen, sei es auf den Rängen oder vor dem Bildschirm.
Doch dem Arbeitsethos der Inder scheint es entgegenzukommen. Es entspricht ihrem Zeitgefühl – Indian Standard Time ist auch Indian Stretchable Time – und sie lieben das Nebeneinander von kurzen explosiven Ausbrüchen und langen Phasen, in denen die Mehrzahl der Spieler ihren Raum decken und einfach herumstehen, bevor der Umpire seinen Sonnenhut abnimmt und damit das Signal zum Tee gibt.
Sportfernsehen verlangt Kurzformen
Mit dem weltweiten Siegeszug des Sportfernsehens schien auch die Zeit des mehrtägigen Test-Crickets vorüber zu sein. Neue, kürzere Spielformate wurden geschaffen, um den Sehgewohnheiten des Publikums und der TV-Werbung entgegenzukommen. Es kam zur Schaffung des One-Day Cricket mit 50 Spielabschnitten („Overs“) und dem etwa zweistündigen T-20.
In beiden Formaten erwies sich Indien als rasch lernende Cricket-Nation. Neben Pakistan heimste es eine Rekordzahl von Länderspielsiegen ein – mehr als die alten Cricket-Nationen England, Australien und Neuseeland, mehr auch als die hochbewerteten südafrikanischen und karibischen Teams.
Trotz der viel lukrativeren Limited Overs-Turniere hat sich das klassische Test-Cricket erstaunlicherweise gehalten, zweifellos querfinanziert durch Einnahmen aus TV-Rechten der kürzeren Formate. Es bleibt der Goldstandard, und das Prestige einer Cricket-Nation hängt bis heute davon ab, wie gut sie in jener Spielart ist, die kaum Zuschauer und bedeutend weniger hohe Einschaltquoten erreicht als One-Day Cricket und T-20.
Es gibt Experten – in meinem Gastland zählen sie in Hunderten von Millionen – die behaupten, dass die kürzeren Formate jene Spieler und Teams begünstigt, die im (defensiven) Batting stärker sind als im (offensiven) Bowling, dem Werfen des Balls. Dies gilt gerade für Indien, das nur wenige Weltklasse-Bowler hervorgebracht hat. Im Gegensatz dazu verlangt ein mehrtägiger Test-Match geduldiges, varianten- und fintenreiches Bowling, um die Verteidiger zu ermüden und auszutricksen.
In Indien kommt hinzu, dass die besten Testspieler lange Zeit gerade jenen Schichten entsprossen, mit denen englische Gentlemen auch sozial verkehrten – Maharadschas und Mitglieder städtischer Oberschichten. Stil und Eleganz waren wichtiger als der Killer Instinct und eine aggressive Körpersprache. Während andere Cricket-Nationen wie Australien und Neuseeland auch im Test-Cricket immer hemdsärmliger (und erfolgreicher) wurden, blieben Indien und lange Zeit auch England Gefangene ihrer noblen Tradition.
Echoraum für Chauvinismus
Allerdings gilt dies nicht für das Publikum. In Indien ist Cricket mehr als anderswo ein Volkssport. Wie in allen Sportarten mit Massenzulauf ist die Cricket-Arena damit auch der lautstarke Echoraum für chauvinistische Emotionen. Dies mag ein Grund sein, warum Indien in Test-Spielen zuhause oft als Sieger vom Feld ging, während es international schlecht abschnitt. Dies war besonders häufig in Australien der Fall, wo sie nicht nur einer aggressiven Spielweise begegneten, sondern auch einem feindlich gestimmten Publikum und höhnischen Medien-Kommentaren.
Lions at Home, Lambs Abroad, lautete einer der Kommentare, den sie immer wieder hören mussten. Er war scharfer Toback, auch weil er unterschwellig mit dem alten rassistischen Vorurteil aus Kolonialzeiten spielte, das Indern eine gesunde muskulöse Aggressivität aberkannte.
Es war auch dieses Vorurteil, mit dem das indische Team mit seinem ersten Sieg nun aufgeräumt hat. Keiner verkörpert das neue aggressive Selbstbild besser als dessen Captain Virat Kohli. Er ist nicht nur einer der weltbesten Cricket-Schläger. Er ist auch ein Fitness-Fanatiker, ein Grossmaul, und ein Mann, der seine Autorität auf dem Feld ohne viel Federlesens ausübt.
Kohli koppelt sein strategisches Geschick mit einer kontrollierten Wut, die dem Gegner auf dem Feld oder der Tribüne nichts schuldig bleibt. Darin gleicht er seinem Chef-Trainer Shastri. Im Gegensatz zum Fussball ist im Cricket allerdings der Captain der alleinige Spielchef, nicht der Coach. Insofern hätte Shastri gut und gern auch in Alibagh auf den Lorbeeren seines Teams ausruhen können. Aber ich hege die Hoffnung, dass der Lautsprecherlärm selbst ihn vertrieben hätte.