Bei der Einführung des Euro gab es zur Kompensation für die fehlende politische Einheit Europas das Wort „Automatismus“. Gemeint war: Der Euro werde eine Automatik freisetzen, die quasi hinter dem Rücken der handelnden Politiker die von ihnen selbst verfehlte Einheit bewerkstellige.
Der Mensch als Störfaktor
Das Wort „Automatismus“ hat einen weitaus tieferen Sinn bekommen, als die damals Verantwortlichen ahnten. Von Automatik spricht man in der Technik dann, wenn etwas ohne menschlichen Eingriff funktioniert. Dazu müssen die jeweiligen technischen Systeme eine entsprechende Komplexität erreichen. Der Trend geht dahin, dass technische Systeme nicht nur immer perfekter funktionieren und sich selbst überwachen, sondern am Ende ganz ohne den Menschen auskommen. Denn der Mensch tritt im Zuge der technischen Perfektion zunehmend als Fehlerverursacher auf.
Die Institutionen der Europäischen Union, das Weltfinanzsystem im Allgemeinen und der Euro im Besonderen liegen im Trend aller Systeme: Sie reichern Komplexität an. Insofern hatten die Politiker, die von Automatismus sprachen, absolut recht. Allerdings haben sie sich diesen Automatismus viel harmloser vorgestellt. Nämlich so, dass es da für Politiker noch etwas zu entscheiden oder beschliessen gäbe.
Die Angstreaktion
Das gab und gibt es immer weniger, und auch dafür haben die Politiker einen Ausdruck gefunden, der ins Schwarze trifft: „alternativlos“. Die „Rettung“ des Euro ist tatsächlich „alternativlos“, wenn das ganze Finanzsystem nicht gefährdet werden soll. Daher ist es auch nur konsequent, dass die Politiker dafür die wichtigsten Regeln brechen, die sie am Anfang in rechtlich verbindlicher Form selbst beschlossen haben.
„Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“, lehrte einst Hegel, der dem deutschen Idealismus zugerechnet wird. Da der Mensch aber nicht nur aus intellektueller Einsicht besteht, dreht er dabei die merkwürdigsten Pirouetten. Anders lässt sich das, was derzeit in den deutschen Medien veranstaltet wird, nicht verstehen. Wir beobachten dort eine Übersprunghandlung nach der anderen.
Der Begriff Übersprunghandlung stammt aus der Verhaltensforschung und bezeichnet ein sehr merkwürdiges Phänomen. Dann nämlich, wenn sich Tiere einer übermächtigen Gefahr ausgesetzt sehen, ergreifen sie nicht etwa die Flucht oder gehen zum Angriff über, sondern sie machen etwas, das mit der Bedrohung selbst in keinem ersichtlichen Zusammenhang steht. Eine Katze fängt zum Beispiel an, sich zu putzen.
Die Ablenkung in den Medien
In den deutschen Medien wird geputzt, was das Zeug hält. Der volkstümliche, mehr bewunderte als geliebte Fussballstar und Vereinsmanager, Wurstfabrikant und Börsenspekulant Uli Hoeness, der Steuerhinterziehung bezichtigt, wird jeden Tag aufs Neue vom Himmel in den Orkus gejagt. Und da Bayern und speziell die CSU immer wieder für Klamauk gut sind, wird entdeckt, dass einzelne Abgeordnete der CSU Familienangehörige für sich arbeiten liessen und dafür Staatsgelder in Anspruch nahmen. Wer zählt die Talkshows im öffentlich-rechtichen Fernsehen zu Uli Hoeness? Und wie schädlich sind die Mauscheleien für das Gemeinwesen wirklich? Der Präsenz in den Medien nach zu urteilen, gibt es kaum etwas Wichtigeres.
Soweit die Medien. Was aber machen Politiker in Zeiten der „Automatismen“, die immer bedrohlicher werden? Die Steuern für die „Besserverdienenden“ müssten jetzt dringend erhöht werden, erklären die Grünen und erfreuen sich damit breiter Zustimmung im Wahlvolk. Die Gegenseite wiederum weiss genau, dass dieser Weg nur ins Verderben führen kann. Gerade jetzt sei es notwendig, „am Sparkurs“ festzuhalten, sagt vor allem die deutsche Bundesregierung. Andere wollen wieder mehr Geld in die Wirtschaft „pumpen“.
Wer setzt das Schiff auf Grund?
In Anbetracht der gigantischen Schulden, die täglich wachsen und die unsere Gesellschaften in ihrer Existenz bedrohen, geht es beim Streit um Steuern und Sparen um kosmetische Beträge. Und dass staatlich finanzierte Programme oder noch billigere Kredite – noch billiger? - nichts bringen, sollte inzwischen auch bemerkt worden sein. Aber dieser Streit hat etwas Beruhigendes. Denn er knüpft an Auseinandersetzungen an, die wir seit Jahrzehnten nur zu genau kennen. Unserer Erinnerung nach haben wir diese Zeit nicht schlecht überstanden. Daher erzeugen diese – vertrauten – Auseinandersetzungen ein Gefühl der Sicherheit in der Unsicherheit. Das ist eben der Sinn von Übersprunghandlungen.
Sie erscheinen allemal erträglicher als die direkte Konfrontation mit der Bedrohung. Die Systeme der Wirtschaft und der Finanzen lassen sich politisch nicht mehr steuern. Das Fluten der Märkte mit Geld ist wie das Füllen von Ballasttanks: Das Schiff wird für den Moment zwar stabilisiert, sinkt aber tiefer. Dadurch verschärft sich die Situation von Mal zu Mal. Aber wer mag den Befehl geben, es auf Grund zu setzen? Wer weiss, wie tief der genau ist?
Systemunterbrechung
Auf komplexe selbststeuernde Systeme angewendet, müsste man von Systemunterbrechung sprechen. Bestrebungen wie die von der „Alternative für Deutschland“ AfD, das System des Euro zu unterbrechen, sind der grösste denkbare politische Tabubruch. Denn sie richten sich gegen die Automatismen, die derzeit als politisches Axiom von allen im deutschen Bundestag vertretenen Parteien geteilt werden. Nur eine gut informierte Minderheit der Stimmbürger dürfte in der Lage sein, die gemessen am gemeinsamen Axiom minimalen Meinungsunterschiede der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Grünen klar zu benennen
Entsprechend gross ist der rhetorische Aufwand, mit dem diese Parteien ihre Wahlkampfaussagen zu Grundsatzfragen stilisieren – es klingt wie Topfschlagen oder das Pfeifen im Dunkeln. Die Wahlkampfstrategen empfehlen ihnen zudem dringend, die Alternativen der Eurokritiker oder Gegner schlicht zu ignorieren, um sie nicht „aufzuwerten“. Und wenn das nicht hilft, sollen deren Argumente als populistisches Geschwätz abgetan werden. Dass neuerdings Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht von der Partei "Die Linke" Sympathien für den Ausstieg aus dem Euro erkennen lassen, dient als weiterer Beleg für die mangelnde Seriosität des Bestrebens.
Massnahmen um der Massnahmen willen
Zusätzlich ist interessant, wie die Tatsache, dass die Gruppe der Eurogegner und ihre Partei AfD einen weit überdurchschnittlichen Anteil von auch international renommierten Wirtschaftswissenschaftlern hat, gedeutet wird: Es handele sich hier um Akademiker, die noch nicht verstanden hätten, dass Wirtschaft und Gesellschaft anders funktionierten als die Modelle in ihren Lehrbüchern. - Wer Tabus bricht, ist nie satisfaktionsfähig: Entweder ist er ein Laie, dann weiss er nicht, wovon er spricht, oder er ist ein Experte, dann ist er weltfremd. Oder er ist ein Populist, der so tut, als liesse sich Komplexität reduzieren.
Wie aber steht es um das Expertenwissen der Regierenden? Für ihre Massnahmen liefern sie ständig neue Begründungen. Sie erklären aber nicht, warum keine der ergriffenen Massnahmen bislang funktioniert hat. Geht es vielleicht nur darum, Massnahmen um der Massnahmen willen zu ergreifen? Wird das Retten selbst zur Übersprunghandlung?
Die Komplexitätsfalle
Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass unsere Gesellschaft in einer Komplexitätsfalle sitzt, aus der sie keinen Ausweg kennt. Wer Alternativen zur Diskussion stellt wie die durchaus unterschiedlichen Positionen der Eurokritiker bis hin zu den expliziten Eurogegnern, bricht damit das grosse Tabu der deutschen Politik. Hinter diesem Tabu steht die würgende Angst: Gerade der Versuch, der Komplexitätsfalle zu entkommen, kann dazu führen, dass diese endgültig zuschnappt.
Diese Angst ist unerträglich. Deswegen beschäftigt man sich lieber mit den mehr oder weniger grossen Gaunern, die das Vermögen des Einzelnen nicht im entferntesten so bedrohen wie die lautlosen Mechanismen der Finanzwelt und die politischen Konferenzen hinter sorgsam verschlossenen Türen.
Vielleicht werden uns spätere Generationen danach beurteilen, ob unsere Demokratie die Kraft hatte, ihre derzeit grösste Bedrohung offensiv anzugehen und Irrwege zu verlassen, oder ob sie, gebannt von Angst und Schrecken, sich einem unbegriffenen „Automatismus“ unterwarf. Im Rückblick lassen sich klar und scharf die zeitgenössischen Verblendungen erkennen. Man sieht die Katze, wie sie sich putzt.