Vielleicht war es ein Schock, sicher war es ein herber Verlust für das Kunstmuseum St. Gallen: Seit Jahren gehörten neun Ölbilder und drei Zeichnungen Giovanni Segantinis (1858–1899) zum eisernen Bestand des Hauses. 2001 aber transferierte die Besitzerin der Kollektion, die in St. Gallen domizilierte Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung, die Werke ins Segantini-Museum in St. Moritz.
Obwohl das Kunstmuseum St. Gallen über einige weitere Werke Segantinis verfügt, war der Abzug der Werkgruppe ein Aderlass, denn der St. Galler Industrielle Otto Fischbacher (1874–1953) besass einige der berühmtesten Bilder Segantinis – so „Ave Maria bei der Überfahrt“, „Bündnerin am Brunnen“ oder „Mittag in den Alpen“ und damit drei der meist publizierten Bilder des ausgehenden 19. Jahrhunderts überhaupt. Vor allem das „Ave Maria“ diente in Tausenden Ehe-Schlafzimmern in halb Europa als frommer Wandschmuck. In St. Moritz begleiten die von Otto Fischbacher erworbenen Werke Segantinis Triptychon „La vita, la natura, la morte“, für die Architekt Nicolaus Hartmann 1908 den Zentralbau errichtet hat.
Einen Nerv getroffen
Segantini, der seit 1886 in stiller Abgeschiedenheit Graubündens malte, in Savognin zuerst, dann in Maloja, feierte in den grossstädtischen Salons europäischer Weltstädte Erfolge. Das bezeugen frühe Ankäufe oder Schenkungen monumentaler Malereien durch die Walker Gallery in Liverpool (1893) oder durch die Berliner Nationalgalerie (1901). Für diesen Erfolg steht auch, obwohl das Unternehmen an der Finanzierung scheiterte, Segantinis Plan eines riesigen Engadiner Panoramas für die Pariser Weltausstellung (1900), der schliesslich zum erwähnten Triptychon führte.
Giovanni Segantini gab in seinen dem Symbolismus verpflichteten Malereien der Utopie eines in der unendlichen Harmonie der Natur eingebetteten Zyklus menschlichen Daseins in lichtvollen Farben Ausdruck. Damit traf er um die Wende zum 20. Jahrhundert einen Nerv. Dass er das künstlerisch auf der Höhe seiner Zeit tat und Vergleiche weder mit Pointilisten wie Seurat noch mit den Protagonisten des Impressionismus scheuen musste, sicherte ihm einen prominenten Platz in der Kunstgeschichte.
Nun sind die Werke der Fischbacher Segantini Stiftung wenigstens für kurze Zeit in St. Gallen – in der Ausstellung „La Luce Alpina“. Die Restauration des Segantini-Museums in St. Moritz, welche die Schliessung des Hauses bis Beginn der kommenden Wintersaison bedingt, ermöglichte die temporäre Rückkehr der Gruppe nach St. Gallen. Die neun Ölgemälde sind im Oberlichtsaal zu sehen, wo sie von prominenten Segantini-Leihgaben der Museen von Basel und Zürich oder des Segantini-Museums St. Moritz begleitet werden. Das Triptychon ist nicht dabei: Leider liess die Gottfried-Keller-Stiftung als Besitzerin das Werk nicht nach St. Gallen bringen, wohl aus konservatorischen Gründen. Allerdings war es im Frühsommer in Lugano zu sehen; eine St. Galler Zwischenstation des wichtigsten Werkes des Künstlers auf dem Weg vom Tessin ins Engadin wäre doch wohl machbar gewesen.
Sinnlichkeit und Farbqualität
Schön ist, dass das Kunstmuseum St. Gallen auf die vielerorts leider übliche Extrem-Beleuchtung der Werke durch Spots verzichtet. Schön ist auch, dass die Werke der Fischbacher Stiftung ohne Glas gerahmt sind. Beides ermöglicht eine intime Begegnung mit den Bildern, deren Sinnlichkeit und Farbqualität sich vor allem dann erschliessen, wenn man die Nahsicht auf den dicken Farbauftrag sucht und sich auch die Zeit nimmt, diese Nahsicht zu geniessen und Segantinis malerisches Hauptthema seiner Bündner Jahre, „La Luce Alpina“, auf sich wirken zu lassen.
Gegenseitige Befruchtung
Die Kuratoren, Museumsdirektor Roland Wäspe und Lorenzo Benedetti, betten Segantini in einen Kreis von zeitgenössischen Kunstwerken ein, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit Segantini berühren. Heute würden viele junge Menschen Giovanni Segantinis Werke kaum mehr kennen, meinte Wäspe im Gespräch. Von einer Omnipräsenz etwa des „Ave Maria“ oder des Triptychons könne – im Gegensatz zur Wende zum 20. Jahrhundert – keine Rede mehr sein. Eine Intention der Ausstellung ist zweifellos, jüngere Besucherinnen und Besucher über die Gegenwartskunst hin zum „alten Meister“ zu führen. Umgekehrt können Segantinis blendend leuchtende Bergbilder einem älteren Publikum die Augen öffnen für die Art und Weise, wie sich Künstlerinnen und Künstler heute mit Landschaft, Licht und Klima auseinandersetzen.
Zeit-Investition
Die Vorarlbergerin Siegrun Appelt (geboren 1965) führt im ersten Museumsraum den Besucherinnen und Besuchern vor Augen, dass eine fruchtbare Begegnung nicht nur mit Segantinis Kunst, sondern mit Kunst generell ohne Investition von Zeit kaum je möglich ist. Im Raum ohne Kunstlicht steht, wie ein abstraktes Tafelbild, ein LED-Panel mit langsam fliessenden Veränderungen der Farben und der Lichtintensität. „Abstrakte Formulierungen“ nennt Appelt das Objekt, das sich erst in der Dauer erschliesst und auch in den Raum ausstrahlt. Hier gibt es acht sehr dunklen Landschaftsfotografien Licht – schwach dosiertes bei düsterem Wetter, intensiveres bei Sonnenschein. Auch die Wahrnehmung dieser Nacht-Bilder erfordert Zeit und wohl auch Lust auf eine abenteuerliche Entdeckung der „Segantini-Landschaften“ am Julier und in Savognin.
Das dunkle, verdichtete und beinahe unergründliche Bild ist auch das Thema der Arbeiten des 1972 geborenen Parisers Dove Allouche, der sich alchemistisch anmutender Techniken bedient, um die Frage der Bild-Wahrnehmung zu akzentuieren. Die Ausstellung zeigt diese Werke im gleichen Raum mit zwei extrem dunklen und von den Betrachtenden einige Energie abfordernden Bildern Segantinis, die, in Anlehnung an Mantegnas „Beweinung Christi“, den „Toten Helden“ in stark verkürzender Perspektive zeigen.
Blendendes Weiss
Nicht um Dunkelheit, sondern um die Helligkeit des Lichtes geht es im Raum, den der Westschweizer Künstler-Architekt Philipp Rahm (geboren 1967) eingerichtet hat. Rahm ist ein Tüftler, was Klima, Lichtintensität, Atmosphäre und die damit verbundenen Veränderungen betrifft. Einen St. Galler Museumsraum (Höhe über Meer: 669 Meter) taucht er in jene Licht-Intensität, die er in St. Moritz (Höhe über Meer: 1822 Meter) gemessen hat. Blendend weisse Bodenplatten zeichnen das Wandern des durch die Fenster in den Raum fallenden Lichtes nach. Blendend weiss sind auch die fünf gipsernen Berg-Skulpturen, in denen Not Vital (1948 in Sent) den Formen von fünf markanten Berggipfeln seiner Unterengadiner Heimat nachspürt.
Landschaft als Prozess
Weniger um das Licht der Alpen geht es in den Arbeiten des 1959 geborenen Patrick Rohner, wohl aber um den alpinen Lebensraum, in dem der Künstler lebt – zuhinterst im von Steilhängen, Runsen und Wasserläufen geprägten Kanton Glarus. Sein Interesse gilt der Entstehung dieser Welt, die auch jene Segantinis ist, und ihren Veränderungen. Beidem spürt er in seinen Werken nach, ohne allerdings mit einem Landschaftsbild oder einer Wiedergabe des real Gesehenen aufzuwarten. Seine riesige und über Jahre entstandene Ölmalerei verweist im Prozess ihrer Entstehung auf Geologie und Landschaft der Alpen – und wirkt aus der Nähe, als sei sie Segantinis dickem Auftrag der Farbmaterie auf die Leinwand nachempfunden.
Die „Wasserzeichnungen“ sind, was der Titel benennt: Während Monaten wirkt mit Erdmaterial durchsetztes Wasser auf weiches und sich wellendes Papier ein, sodass die Ablagerungen auf dem Papier zu erdfarbigen Zeichnungen der Malereien führen. Patrick Rohner visualisiert so natürliche Prozesse der steten Veränderung. Ebenso sind die „Steinzeichnungen“, was sie konkret benennen: Rohner belegte im Sardona-Gebiet (2150 Meter über Meer) zwischen Glarner und St. Galler Berglandschaft während eines ganzen Sommers weiches und dickes Büttenpapier mit Felsbrocken. Die Ablagerungen dieser Wind, Regen und Sonneneinstrahlung ausgesetzten Steine bildeten auf dem weissen Papier spontan wirkende Zeichnungen als Spuren oder „Protokolle“ natürlicher Verwitterungsprozesse.
Kunstmuseum St. Gallen, bis 1. Dezember 2019