Cuno Amiet hat sie 1937 porträtiert. Germaine Richier ihr Name. Eine ungewöhnliche Künstlerin, die der Plastik des 20.Jahrhunderts neue Dimensionen verlieh. Im Kunstmuseum Bern ist ihr Werk zu bestaunen. *.
Germaine Richier (1902 – 1959) ist eine der wenigen Frauen, die in der Welt der Kunst universale Bedeutung und Anerkennung erlangt hat. Mit Louise Bourgeois (1911 – 2010) und Meret Oppenheim (1913 – 1985) hat Richier neue Massstäbe gesetzt und die Plastik nachhaltig geprägt. Matthias Frehner, Direktor des Kunstmuseums Bern, zählt sie zu den „Pionierfiguren der Avantgarde des 20. Jahrhunderts“. Richier ist in der Tat eine Ausnahmekünstlerin. Sie hinterliess ein äusserst vielseitiges, faszinierendes und aussagestarkes Werk. Das Kunstmuseum Bern widmet der Dame d’Arles eine fabelhafte Retrospektive, die als künstlerisches Ereignis angesehen werden darf. Für Kunstfreunde ein Muss.
Die Einzigartigkeit der Berner Ausstellung widerspiegelt sich schon in einer ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte. „Nie ist eine Ausstellung schneller beschlossen worden, als die Retrospektive Richier“, berichtet Frehner. Während einer Sitzungspause des Stiftungsrates der Fondation Gianadda in Martigny /VS (dem Frehner angehört) erholten sich die Mitglieder im wunderschönen Skulpturenpark in dem auch Germaine Richier vertreten ist. Da kam die Idee auf, Richier eine Ausstellung zu organisieren. Zugegen war auch der renommierte französische Richier-Spezialist und Ausstellungsmacher, Jean-Louis Prat (er hatte Ende der 90er Jahre in St Paul de Vence eine vielbeachtete Richier-Präsentation durchgeführt. Prat griff nun auf der Stelle zu seinem Handy und rief die Nichte von Germaine Richier, Françoise Guiter an, die als Nachlassverwalterin das Atelier in Paris betreut. In wenigen Minuten wurde aus dem Wunsch ein konkretes Vorhaben.
Grossartige Ausstellung
Die Ausstellung wurde von Daniel Spanke dem Kurator des Museums, zusammen mit Prat und der Mitarbeit von Françoise Guiter, mit extremen Feingefühl und gösster Sachkenntnis meisterhaft aufgebaut. In acht Räumen wird erstmals in der Schweiz ein nach Themen gegliederten Überblick über das Schaffen der französischen Künstlerin vermittelt. Im Zentrum stehen Schlüsselwerke aus der Sammlung des Kunstmuseums Bern und der Kunsthalle Mannheim (die die Ausstellung nach Bern übernimmt) aber auch Werke aus dem Nachlass der Künstlerin. Das Kunstmuseum Bern besitzt u.a das Hauptwerk La Sauterelle (1955/56).
Neben grossformatigen Figuren, deren verwandtschaftlichen Spuren zu Auguste Rodin (1840 – 1917) nicht zu übersehen sind, beeindrucken vor allem die typischen, eigenwilligen Richier-Kreationen. Es sind Mischwesen aus Tier-Mensch, Ameisen, Heuschrecken und Spinnen mit menschlichem Gesicht und menschlichen Gesten. Richier kreiert eine ganze Welt aus seltsamen Gestalten wie Vögel-, Baum-, Wetter- und Nachtmenschen, die aus einer Science-Fiction-Welt hervorzukriechen scheinen. Die menschlichen Gestalten sind oft auch gezeichnet von der Verletzlichkeit, den tiefen Wunden des Krieges. Die Körperoberflächen sind aufgekratzt und zeugen von Leid und Schmerz. Germaine Richier ist in ihrem ganzen schöpferischen Schaffen dem Menschen zugetan. Sie lässt auch erahnen, wie sehr der Mensch gefangener seiner selbst und in Fäden verstrickt sein kann wie eine Spinne. Genial ist die Feinheit ihrer plastischen Sprache. Die Ausdrucksformen sind von höchster Präzision und wirken manchmal wie St. Galler-Spitzen. Die universelle Bedeutung des Oeuvre der Plastikerin wird in Bern besonders wahrnehmbar gemacht, in dem Daniel Spanke bewusst Arbeiten von wesentlichen Zeitgenossen in die Retrospektive einbezogen hat.
In Paris berühmt - im Süden zuhause
Germaine Richier wurde 1902 in Südfrankreich geboren. Nach erstem Studium an der Ecole des Beaux-Arts in Montpellier, beim ehemaligen Rodin-Mitarbeiter Louis-Jacques Guigues, fand sie 1926 als Privatschülerin Aufnahme im Atelier des Rodin-Schülers, dem Bildhauer Antoine Bourdelle (1861 – 1929). Hier konnte sie ihre Kenntnisse weiterentwickeln. Sie lernte von Bourdelle eine Technik der Bildhauerei, die sie „Formenanalyse“ nannte, wie Spanke betont. Dem Schriftsteller Paul Guth hatte sie kurz vor ihrem Tod erklärt: „Alles was ich weiss, habe ich von ihm. Er lehrte mich Formen zu lesen, sie zu sehen“. Bourdelle hat ihr plastisches Schaffen eindeutig beeinflusst. Hier traf sie auch Alberto Giacometti und fand Anschluss an die große Künstler-Familie. Richier fand mit ihren Arbeiten rasch Aufmerksamkeit. Bereits 1934 wurde ihre erste Einzelausstellung eröffnet. An der Weltausstellung in Paris 1937 wurde ihr für das Werk La Méditerranée eine Médaille d’Honneur verliehen. Es folgten Ausstellungen in Paris, Brüssel und New York.
Germaine Richier (1902-1959) ist gegenwärtig auch in Lausanne präsent (bis 24.April 2014). Das Musée cantonal des Beaux Arts der Waadtländer Metropole stellt die französische Künstlerin mit zwei weiteren Vertretern der modernen Bildhauerei aus. Es sind drei Weggefährten, die sich abseits der klassischen Strömungen der Plastik etabliert haben. An der Seite der Frau zwei Männer, der Schweizer Alberto Giacometti (1901-1966) und der Italiener Marino Marini (1901-1980). Alle drei haben einen eigenwilligen, persönlichen Stil und stehen doch in enger künstlerischer Verwandschaft. Sie haben die plastische Sprache des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt und verändert. Jeder hat auf seine Art ein neues Menschenbild kreiert. In der Ausstellung unter obigem Titel – eine sinnvolle Ergänzung zur Berner Retrospektive - sind 70 Werke der drei international angesehenen Künstler vereinigt. Pf.
Paris, die Weltstadt, wurde aber nie zur.Heimat. Zu sehr blieb sie doch das Mädchen vom Lande. Zeitlebens blieb sie der südländischen Landschaft verbunden und stark von der Natur geprägt. Ihre Nichte berichtet, wie in ihrem Atelier in Paris Insekten, Hölzer, Steine und Kräuter jeder Art, und alle unmöglichen Dinge wie Knochen, Drähte usw. aufbewahrt sind. Das meiste stamme aus ihrer Heimat, aufgelesen an den Stränden von les Saintes Maries de la Mer, eine bevorzugte Inspirationsquelle Richiers. Das Gesammelte wurde vielfach zu Bestandteilen der Plastiken. Kein Zufall, wenn Richier heute als eine der ersten ökologisch denkenden und fühlenden Künstlerinnen angesehen wird
Richiers Schweizer Zeit
Im Pariser Atelier lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann kennen, den Zürcher Bildhauer Otto Charles Bänninger (1897 - 1973), der ebenfalls bei Bourdelle beschäftigt war. Im Dezember 1929 heirateten die beiden. Es war dies auch der Beginn einer engen Beziehung zur Schweiz. Das Paar entwickelte vorerst in Paris nach dem Tode Bourdelle’s eine rege künstlerische Tätigkeit und knüpfte Kontakte mit anderen Künstlern. Die beiden verfügten über ihre eigenen Ateliers.
Während eines Ferienaufenthaltes 1939 in der Schweiz wurde das Paar vom Ausbruch des zweiten Weltkrieges überrascht. Die beiden beschlossen, nicht nach Frankreich zurückzukehren. Für die Dame aus Arles begann in der Schweiz eine neue Epoche. Am Hirschengraben in Zürich richtete sie ihr Atelier ein und entfaltete eine recht rege und erfolgreiche Schaffensperiode. Als Lebensgefährtin Bänningers wurde Germaine Richier von dessen Schweizer Künstler- und Sammlerfreunde herzlich aufgenommen. Bald wurden auch Kontakte zur damaligen Avant-garde geknüpft. Es waren vorwiegend Künstler, die die Kriegsjahre ebenfalls in der Schweiz verbrachten wie beispielsweise Hans Arp, Le Corbusier, Alberto Giacometti, Marino Marini usw. Sie beteiligte sich an einer Gemeinschaftsausstellung in der Kunsthalle Basel. Auch in Winterthur, Bern und Zürich konnte Richier ihre Werke zeigen. Sie erteilte auch Unterricht, erhielt Porträtaufträge und verzeichnete Ankäufe durch Museen und Private
Zurück nach Paris
Doch bereits anderthalb Jahre nach Kriegsende, im Oktober 1946, kehrte sie nach Paris zurück. In den Schweizer Kunstkreisen wurde der Wegzug mit Enttäuschung und Unverständnis zur Kenntnis genommen. Ihr Gatte und nahe Freunde sprachen gar von einem „Sündenfall“ und bekundeten Mühe, den Wechsel zu verstehen. Das Paar trennte sich. Die Trennung hatte Richier allerdings als Trauma empfunden. Die beiden gingen eigene Wege, blieben jedoch trotzdem eng verbunden. Die zweite Schaffensperiode in Frankreich bildete eine tiefgreifende Wende. Vom Realismus wandte sie sich ab. Ihre plastische Sprache trug nun radikale expressionistische Züge. Sartres Existentialismus zieht Spuren…
Auch in ihrem privaten Leben gab es ein Neubeginn.1954 heiratete sie den Schriftsteller René de Solier. Schwer krank arbeitet sie weiter. Bei der Einrichtung ihrer letzten Ausstellung brach sie zusammen. Mit ihrem Mann zieht sie 1957 in die Nähe von Arles, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1959 lebte. Eines ihrer letzten Werke heisst „L’Echiquier“ .Das Schachspiel ist ein Spiel des Lebens, wo ein König dem Unausweichlichen zu entgehen sucht. Ein grossartiges Werk (in der Berner Retrospektive zu sehen).
Das Kreuz von Assy
Ein Höhepunkt in ihrer letzten Schaffensperiode war sicher die Mitarbeit an der Ausgestaltung der Chapelle du Plateau d’Assy in Savoyen. Le Christ d’Assy, ein Altarkreuz, wurde zu einem Begriff. Es ist ein schlichter Kruzifix, der nicht gleichgültig lässt. Das zentrale Werk hat Richier 1950 geschaffen. In der Berner Ausstellung hängt eine kleine Version, wenn auch fast etwas abseits versteckt, doch unübersehbar an der Wand im Raum mit dem Titel:„Das Göttliche im Menschen“. Die Kapelle war einer der ersten modernen Sakralbauten in Frankreich nach dem Krieg und galt als Zeichen eines spirituellen Aufbruchs. Neben Germaine Richier waren weitere namhafte Künstler wie Georges Braque, Marc Chagall und Fernand Léger in Assy beteiligt. Von dem Modell erzählt Germaine Richier: „Gestern bin ich in mein Atelier gekommen, es war 5 Uhr morgens, als ich dort den Christus aus Gips hängen sah, und wie er seine Arme über diese Welt aus Gips und Bronze ausbreitete, erkannte ich darin eine Aufforderung zu glauben“.
Das Kreuz von Assy war für die Künstlerin ein starkes Zeichen des Göttlichen in ihrem Schaffen. Es wurde zu ihrem Entsetzen ein Skandal. Konservative Kreise waren empört, sahen eine Verunglimpfung ihres Glaubens und forderten und erreichten mit heftigen Protesten die Entfernung von Richiers Werk. Die Künstlerin war sehr betroffen. Sie beklagte auch das Desinteresse, dass Ihr Gatte dem Werk gegenüber geäussert hatte und schrieb ihm: „Du scheinst tatsächlich nicht zu verstehen, dass dies für mich eine wirklich wichtige Sache ist“. Der Streit hat Richier und ihrem Werk keinesfalls geschadet. Durch den Skandal wurde man auch in Kreise ausserhalb der Kunst auf Richier aufmerksam. Ihr Ansehen und Bekanntheitsgrad wurden dadurch grösser Von den geistigen Dimensionen ihres Schaffens zeugen übrigens noch andere Werke (Die Gottesanbeterin usw.). Das Kruzifix von Germaine Richier hat übrigens 1971, diesmal ohne Aufsehen, seinen Platz wieder gefunden. Zwölf Jahre nach ihrem Tod.
*Germaine Richier. Retrospektive. Kunstmuseum Bern. Bis 6 April 2014. Katalog 35 Fr.
Kunsthalle Mannheim, vom 9.Mai bis 24. August 2014