Die Schule erweist sich als ein besonders sensibles Wahrnehmungsorgan für abweichendes Sozialverhalten. In den letzten Jahren treten immer öfter schwierige beziehungsweise aggressive Schüler und Schülerinnen mit immer grösseren individuellen Problemen in Erscheinung. Dabei zeigen sich sowohl die Lehrkräfte als auch die Eltern zunehmend überfordert. Diese Überforderung führt in der Regel zu Gefährdungsmeldungen an die Schulbehörden und nicht selten zu einem Schulausschluss der betreffenden Jugendlichen.
Was soll mit den sozial auffälligen beziehungsweise aggressiven Jugendlichen geschehen? Die Schulen suchen nach gangbaren Wegen und die verzweifelten Eltern klopfen alle möglichen Instanzen nach geeigneten Stellen ab, die Hilfe anbieten könnten. Beide, sowohl die Eltern als auch die Lehrer fühlen sich meistens nicht richtig ernst genommen und entsprechend im Stich gelassen. Die Folgen sind nicht selten Verzweiflung bei den Eltern und Burnouts bei den Lehrern.
Die überforderte Familie
Welches sind die eigentlichen Ursachen dieser Fehlentwicklung? Diese liegen zum grössten Teil in den gesellschaftlichen Veränderungen begründet. Fast alle verhal-tensauffälligen Jugendlichen stammen aus zerfallenen Familien. Bei einer Stichprobe von 37 erstellten Gutachten liess sich das Fehlverhalten bei 85% der Jugendlichen auf zerrüttete, verwahrloste oder geschiedene Familienverhältnisse zurückführen. Bei 24% der verhaltensauffälligen Jugendlichen musste eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vermutet oder eine andere erbgenetische beziehungsweise geburtstraumatische Mitverursachung angenommen werden. Bei 30% der untersuchten Fälle stammte mindestens einer der beiden Elternteile aus einem aussereuropäischen Kulturkreis.
In einer Familie gibt es zentrale zwischenmenschliche und gruppendynamische Interaktionen, die für den Aufbau beziehungsweise die Verinnerlichung der psychi-schen Strukturen eines Kindes verantwortlich sind. Die Interaktion zwischen den Eltern, speziell deren Gewohnheiten, Einstellungen, Verhaltensmuster, Überzeugungen usw. werden im Rahmen der Sozialisation von den Kindern gelernt und zur eigenen Ich-Struktur verinnerlicht. Diese Mechanismen gelten selbstverständlich auch für die Entstehung von Defiziten. Die Entwicklungsdefizite der Eltern und die fehlende Interaktion zwischen ihnen beziehungsweise zwischen den Eltern und den Kindern werden von den Kindern zu einem ich-strukturellen Defizit, einem sogenannten „Loch im Ich“, verinnerlicht. Der Versuch, dem Leiden an diesem „Loch im Ich“ aus dem Wege zu gehen, führt schliesslich zu einem ganzen Kanon von Abwehr-, Vermeidungs- beziehungsweise Kompensationsbemühungen. Anstelle von Minderwertigkeitsgefühlen treten dann Grösse- beziehungsweise Gewaltphantasien. Weitere Kompensationsversuche sind zum Beispiel das Stören in der Schule, das aggressive Provozieren der Mitschüler und das gewaltsame Ausagieren auf dem Pausenhof. Nicht selten stellen diese Verhaltensmuster ein von den Eltern und Lehrern nicht richtig verstandenes Alarmsignal dar.
Als zusammenfassendes Ergebnis kann festgestellt werden, dass sich viele Familien den Anforderungen einer adäquaten Kindererziehung nicht gewachsen zeigen.
Der Zerfall der Kleinfamilien, die Überforderung der Eltern, der Verlust an familiärer Geborgenheit, die Überschwemmung mit Informationen, die Dynamik destruktiver Jugendgruppen, übersteigertes männliches Machogehabe, der unkontrollierte Um-gang mit elektronischen Geräten und das Eindringen kulturfremder Wertvorstellun-gen führen nicht selten an die Grenzen des Verkraftbaren. Sowohl das familiäre Lebensmilieu als auch der schulische Erziehungsraum erscheinen zunehmend als gefährdet.
Es braucht ein professionell organisiertes Netzwerkmanagement
Es gibt kaum eine staatliche Instanz, die diesen Problemen auf adäquate Weise begegnen und ein professionell organisiertes gesamtheitliches Konfliktmanagement zur Verfügung stellen könnte. Die angesprochenen Probleme dürfen aber nicht als individuelle Fallgeschichten aufgefasst werden, sondern können nur im Rahmen eines komplex organisierten Netzwerkmanagements angegangen werden. Zu diesem Netzwerk gehören an erster Stelle professionell geführte und möglichst offiziell zertifizierte sozialpädagogisch beziehungsweise sozialtherapeutisch arbeitende Institutionen, die mit Heimen beziehungsweise mehreren Pflegefamilien zusammenarbeiten und ein entsprechend professionelles Netzwerkmanagement zur Verfügung stellen. Weiter gehören einem solchen Netzwerk von Fall zu Fall die Eltern der Jugendlichen, die betroffenen Jugendlichen selber, die Geschwister, die Lehrer, die Schulen, die Lehrerkollegien und die entsprechenden Schulbehörden, die Sozialämter und gegebenenfalls die Vormunde beziehungsweise Beistände, die Spezialisten wie Erziehungsberater, Schulpsychiater, Schulpsychologen, Psychotherapeuten und nicht zuletzt die unabhängigen psychologischen beziehungsweise psychiatrisch-psychologischen Begutachter an.
Die Aufgaben des Netzwerkmanagements
Zu den Aufgaben dieses Netzwerkmanagements zählen zum Beispiel die Organisation eines sogenannten „Time-Outs“, die differenzierte schul-, berufs- und persönlichkeitsspezifische Abklärung, die Massnahme-Beratung, das konkrete Angebot an Familien- beziehungsweise Fremdplatzierungsmöglichkeiten, die Durchführung von sogenannten „School“-, „Home“- beziehungsweise „Job“-Coachings und schliesslich die anhaltende Überwachung beziehungsweise pädagogische Begleitung der entsprechenden Massnahmen.
Diese Aufgaben können nur in spezialisierten Teams mit ausgewiesenen Fachkräften mit breiter Erfahrung in den Bereichen der Heimpädagogik, Sozialpädagogik und nicht zuletzt der Unternehmensführung geleistet werden. Im Rahmen des „Time-Outs“ wird der Jugendliche aus dem ursprünglichen Familienumfeld herausgenommen und zeitlich begrenzt in einer Pflegefamilie oder in einem geeigneten Heim beziehungsweise in einer Klinik platziert. Das Verhalten während dieses Aufenthaltes ist bereits Teil der diagnostischen Erhebung. Zudem wird zum Beispiel im Rahmen eines Abklärungs-„Time-Outs“ ein psychologisches beziehungsweise psychiatrisch-psychologisches Gutachten erstellt, das zusammen mit der Verhaltensbeobachtung die wichtigsten Entscheidungsgrundlagen für die zu treffenden Massnahme-Entscheiden liefert. Das Gutachten soll einerseits die Ergebnisse der Verhaltensbeobachtung, der anamnestischen Untersuchungen und der psychologischen Test enthalten. Im Ein-zelnen sollten neben der körperlichen Entwicklung und des körperlichen Allgemeinzustandes gegebenenfalls die Psychopathologie des Jugendlichen, die spezifische Persönlichkeitsstruktur, die Ich-Struktur und deren Defiziten, die Ausprägung einzelner Ich-Funktionen, die der Psychodynamik zugrunde liegende Verhaltensmuster, die intelligenzbezogenen Voraussetzungen und möglicherweise auch die Berufsinteressen beziehungsweise die berufsspezifische Eignung untersucht und im Hinblick auf geeignete Massnahmen dargestellt werden.
Familiencoaching, Fremd- und Heimplatzierung
Im Rahmen der Massnahme-Beratung werden die verschiedenen Platzierungsmög-lichkeiten diskutiert und anhand des Gesamtbefundes ein konkretes Vorgehen vor-geschlagen. Als Massnahmen stehen zum Beispiel die Rückplatzierung in die eige-nen Familie, die Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie oder die Heimplatzierung zur Diskussion. Die Rückplatzierung in die eigene Familie kann nur unter der Bedingung erfolgen, dass die Familie als Ganzes ein konstruktives gruppendynamisches Entwicklungsfeld zur Verfügung stellt. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Eltern gruppendynamisch gesehen die Rolle der Leitung der Familien konstruktiv ausfüllen können. Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist, wenn zum Beispiel ein Kind die „gruppendynamische Leitung“ übernehmen muss, sollte der Jugendliche nicht in die „krankmachende“ Gruppendynamik der Elternfamilie zurückkehren.
Ausnahmsweise können aber überforderte Eltern im Rahmen eines „Home-Coachings“, einer „Sozialpädagogischen Familienbegleitung“, fachkompetente zu-sätzliche Hilfe beanspruchen.
Wenn eine konstruktive Familiendynamik nicht zur Verfügung steht, bietet sich als Alternative die Fremdplatzierung in einer pädagogisch begleiteten Pflegefamilie an. Dabei gilt der Grundsatz, dass sowohl der Jugendliche als auch die Pflegefamilie in einem engen Rhythmus kontrolliert und sozialpädagogisch begleitet werden.
In einer gut funktionierenden und gruppendynamisch geschlossenen Pflegefamilie kann sich der Jugendliche in einem intensiven sozialenergetischen Feld bewegen und kann dabei eine nachholende ich-strukturelle Entwicklung vollziehen. Dabei kann es seine inneren Grenzen austesten und die Aussengrenzen, die durch die Pflegeeltern gesetzt werden, zur eigenen Ich-Grenze verinnerlichen. In einer geschlossenen Familienatmosphäre, in der direkt und offen kommuniziert wird, kann der Jugendliche somit seine Ich-Funktionen weiter entwickeln und im Rahmen eines vertrauensvollen beziehungsweise liebevollen Beziehungsnetzes in gewissen Grenzen die Mängel an Selbstwertgefühl, Grundvertrauen und Ich-Stärke korrigieren.
Selbstverständlich können solche Korrekturen nur im Rahmen eines längeren Pflegeaufenthalts nachhaltend realisiert werden.
Tatsächlich führen solche sozial-pädagogisch begleitete Fremdplatzierungen in einer Pflegefamilie meistens schon nach kurzer Zeit zu spürbaren positiven Veränderungen.
Eine besondere Massnahme stellt die Heimplatzierung dar. In einem Heim müssen die Jugendlichen mit ihren eigenen Ich-Funktionen zur Mitgestaltung des Gruppen-prozesses beitragen. Aus diesen Gründen verlangt die Heimplatzierung das Vorlie-gen eines gewissen Mindestmasses an Ich-Stärke, weil sonst die Jugendlichen im „Fegefeuer der Heimgruppendynamik“, in der Rivalitäten, aggressive Auseinander-setzungen und Machtkämpfe an der Tagesordnung sind, unterzugehen drohen.
Die spezifischen Bedingungen eines Heimes können den Jugendlichen aber nur selten die emotionale Nähe und Beziehungskonstanz zur Verfügung stellen, wie sie in einer gut geführten Pflegefamilie möglich sind. Für Jugendliche mit gut entwickelter Ich-Stärke kann die Heimplatzierung trotzdem eine gute Chance darstellen, weil die Jugendlichen im Rahmen der komplexen Interaktionsprozesse und vielfältigen Auseinandersetzungsmöglichkeiten in einer Heimgruppe ihre Sozialkompetenz erheblich erweitern können. Jugendliche, die den Aufenthalt in einer Pflegefamilie oder in einem offenen Heim nicht aushalten oder dazu neigen, die gesetzten Grenzen zu übertreten, müssen gegebenenfalls in einem geschlossenen Heim platziert werden. Dabei stehen die Mauern und Grenzen der geschlossenen Institution für die fehlenden Ich-Grenzen des Jugendlichen. In diesem Sinne kann ein gut beziehungsweise konsequent geführtes geschlossenes Heim ebenso dazu beitragen, die mangelnde Ich-Abgrenzung wenigstens im Ansatz zu korrigieren.
Die Schule als grosse und letzte Chance
Zusammenfassend gesehen kann das schulische Umfeld als ein wichtiges Auffangnetz für verhaltensauffällige Jugendliche gesehen werden. Die Schule ist der Ort der letzten und grossen Chance, um die Verhaltensauffälligkeiten der Jugendlichen, die möglicherweise die Vorstufe eines kriminellen Lebenslaufs darstellen, zu diagnostizieren. Dort kann in Zusammenarbeit mit einer professionell geführten Institution in einem entwicklungssensitiven Alter ein letztes Mal erfolgversprechend interveniert werden. Diese Chancen sollte man nicht ungenützt verstreichen lassen.
Dazu braucht es aber eine Einstellungsänderung. Für die Schulen sind schwierige Schüler eher Störfälle, die es zu vermeiden, mühsam mitzuschleppen oder so schnell wie möglich abzuschieben gilt. Denn der Umgang mit schwierigen Schülern zählt nicht zum offiziellen Bildungsauftrag der Schulen. Im Gegenteil, schwierige Schüler stellen eher ein mehr oder weniger unangenehmes Hindernis auf dem Weg der Erfüllung des Bildungsauftrages dar. Zudem ist die Schule nicht beauftragt, diagnostisch beziehungsweise therapeutisch zu wirken. Das würde sie überfordern. Mit der Wahrnehmung, Diagnostizierung und schliesslich Zuführung zu einer geeigneten Institution können die Schulen aber einen wichtigen Beitrag zur Sozialisation verhaltensauffälliger Jugendlicher leisten. Es ist letztlich eine Frage der Einstellung, ob diese „Zusatzarbeit“ als Teil des Bildungsauftrages oder eben nur als lästige Zusatzaufgabe verstanden wird.
Das Netzwerkmanagement und nicht zuletzt eine Fremdplatzierung in einer sozial-pädagogisch begleiteten Pflegefamilie sind zudem billiger als die möglichen Kosten, die sich zum Beispiel durch juristische Verfahren und langjährige Gefängnisaufenthalte ergeben könnten. Aus diesen Gründen ist es wichtig, dass die betreffenden Institutionen, die Schulen und die sozialpädagogisch beziehungsweise sozialtherapeutisch arbeitenden Netzwerkanbieter, offiziell anerkannt und in geeigneter Weise unterstützt werden.
1) Kurt Theodor Oehler studierte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen Giessereiingenieurwesen, absolvierte an der Technischen Universität in München ein Aufbaustudium zum Wirtschaftsingenieur und verfertigte neben seiner Tätigkeit als Dozent am Institut für Psychologie und Sozialwissenschaften eine Dissertation in Psychologie. Nach der Ausbildung zum Psychoanalytiker, Psychotherapeuten, Gruppenpsychotherapeuten und Gruppendynamiker arbeitete er seit 1980 in eigener Praxis in Bern und als freier Schriftsteller in Zimmerwald.