Der "Fotograf" hat nicht einmal mehr zur Kamera gegriffen, sondern schlicht und einfach Bilder von Webcams zusammengestellt. Dazu genügte der Platz vor seinem heimischen Computer. (1)
Das Interessante an dieser Ausstellung liegt nicht in der ästhetischen Qualität. Zwar betont Martin Gasser im Begleittext, dass man die „unverwechselbare künstlerische Handschrift“ von Kurt Caviezel bemerke. Peter Pfrunder und Urs Stahel fügen viel versprechend hinzu, dass Caviezel ein neues „künstlerisches Potential“ freilege. Worin dieses neue „künstlerische Potential“ genau bestehen und woher es kommen soll, bleibt zunächst im Dunkeln. Genau das aber macht die Sache so spannend.
Jede Ausstellung enthält eine Botschaft. Die besteht zu aller erst darin, dass das, was gezeigt wird, es wert ist, gezeigt zu werden. Wenn die Fotostiftung Schweiz dahinter steht, gilt das in noch stärkerem Masse, denn man darf vermuten, dass diese massgebliche Institution auf ihre Weise Massstäbe setzen will. Welche aber sind das in diesem Fall?
Die Fotografie leidet nicht erst seit Susan Sontags immer noch aktuellen Essays „Über Fotografie“ unter dem Makel allzu grosser Beliebigkeit. Da die Handhabung der Kameras immer anspruchsloser und ihre Verbreitung bis hin zu Fotohandys geradezu epidemisch geworden ist, lässt sich die Besonderheit eines einzelnen Bildes kaum noch ermitteln. Da diese immer weniger in der Komposition liegt, achtet man heute mehr auf die Art und Weise, wie ein Foto entstanden ist. Das Existenzielle soll die mangelnde ästhetische Überzeugungskraft kompensieren.
Bei Caviezel wird sogar noch die existenzielle Dimension eliminiert. Der Witz an den Webcams besteht ja gerade darin, dass sie als Installationen keine Existenz wie etwa das Bewachungspersonal haben. Sie sind einfach da, bis man sie abschaltet oder irgendein Defekt auftritt.
Webcams sind reine Informationsübermittler. Sie werden nicht unter dem Gesichtspunkt eingerichtet und aufgestellt, dass ihre Bilder in irgendeiner Weise ästhetische Anforderungen erfüllen sollen. Sie sollen lediglich das zeigen, was ihre Nutzer sehen wollen: Verkehrsfluss, Vorgänge auf Parkplätzen, mögliche Störungen in Anlagen, Ladendiebe oder das Wetter. Die Liste der Objekte von Webcams bildet ein Inventar der Alltagsbanalitäten.
Zugespitzt und ganz gewiss entgegen den Intentionen der Ausstellungsmacher könnte man die Botschaft der Präsentation von Caviezels Bildern im „Tod der Fotografie“ oder im „Tod der Fotografen“ sehen. Demnach wäre die Webcam der ultimative Fotoapparat. Alles Wesentliche wird von ihr festgehalten, und "bediente" Kameras oder Fotohandys liefern nur noch Varianten. Das Fotografieren mit der eigenen Kamera würde auf diese Weise von den Webcams parodiert.
Eine solche Botschaft wäre absolut zynisch. Und dreist noch dazu. Denjenigen, die sich für Fotografie interessieren, würde lediglich gezeigt, dass es absolut nichts mehr zu sehen gibt, was der Betrachtung und Auseinandersetzung Wert wäre. Genau so gut könnte der Papst auf Latein den Tod Gottes verkündigen.
Die Ausstellungsmacher haben aber anderes im Sinn. Parallel zu Kurt Caviezel werden im Fotomuseum Bilder von André Kertész ausgestellt (2). Ein grösserer Kontrast lässt ich kaum herstellen. Kertész gehört mit seinen strengen Kompositionen, seinen kreativen Verfremdungstechniken und seinem enormen Reichtum an Assoziationen und Anspielungen zu den unbestrittenen Meistern und Klassikern der Fotografie (3). Die Werke dieses Autors im eigentlichen Wortsinn machen deutlich, wozu das denkende Sehen eines Fotografen fähig ist. Was aber soll dieser Kontrast zu Caviezel?
Die Bemerkung im Begleittext, bei Caviezel handele es sich um „ein neues künstlerisches Potential“, zielt ganz offensichtlich darauf, dass ein Künstler heute bereits vorhandene Elemente nehmen kann und seine Kunst in der nachträglichen Gestaltung der vorgefundenen Elemente und ihrer Zusammenstellung - man könnte auch das anspruchsvollere Wort „Komposition“ bemühen - besteht. Das ist sicher richtig und erhellend, aber auch trivial. Und neu schon gar nicht. Das Neue besteht hingegen in einem Prozess, dem das Fotomuseum Winterthur vor ganz genau zehn Jahren eine Ausstellung unter dem Namen „Trade“ gewidmet hat.
In dieser Ausstellung ging es um „Waren, Wege und Werte im Welthandel heute“, so auch der Untertitel des bis heute aktuell gebliebenen Kataloges. Was an dieser Ausstellung neu war und auch heute noch am Katalog frappiert, ist die Perspektive auf die Fotografie. Es überwiegen dokumentarische Bilder, wobei die künstlerische Bildgestaltung mal stark hervortritt, mal weniger wichtig ist. Es gibt eine Vielzahl von Texten. Klassiker wie Georg Simmel und Max Weber kommen zu Wort, Auszüge aus Büchern von George Soros, Saskia Sassen oder Tom Wolfe wurden ebenso als Bildkommentare eingefügt wie Texte aus Zeitungen. Der gemeinsame Nenner der Bilder und Texte ist die Verwandlung der Welt durch „Trade“.
Die neue Ausstellung von Caviezel trägt den Titel „Global Affairs“. Damit nimmt sie den Impuls von „Trade“ auf und radikalisiert die Analyse. Nicht nur die Welt hat sich noch weiter verwandelt, auch die Menschen. Sie sind noch stärker zu reglementierten Konsumenten geworden, deren Bedürfnisse problemlos in das Schema der Markenangebote passen. Die Individuen und der Massenkonsum sind kompatibel. Die Wahl zwischen den Angeboten erzeugt ein trügerisches Gefühl von Souveränität.
Genau das bringt die Ausstellung von Caviezel auf den Punkt. Daher kann man „Global Affairs“ auch so übersetzen: Wir leben in einer Welt, deren globaler Umschlingung niemand mehr entgeht, es sei denn, er vernichtete seine Existenz als Konsument. Diese Art des Suizids aber wird immer Sache eine verschwindenden Minderheit bleiben und somit den Fortgang der „Global Affairs“ nicht behindern.
Die künstlerische Gestaltung und Ästhetisierung des Vorgefundenen, wie Caviezel sie betreibt, hat ihre Reize. Über Jahre habe er Millionen von Bildern gesichtet, seine Auswahl getroffen und Veränderungen an den Bildern vorgenommen. Man könnte ergänzen: Und die „Global Affairs“ haben uns gesichtet, ihre Auswahl getroffen und Veränderungen an uns vorgenommen.
1 Curt Caviezel, Global Affairs – Erkundigen im Netz, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, 8400 Winterthur, bis 15. Mai 2011
2 André Kertész, Retrospektive, Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44 + 45, 8400 Winterthur, bis 15. Mai 2011
3 http://journal21.ch/foto-galerie-0 und http://journal21.ch/der-sucher-der-lyrischen-wahrheit