Der mit hellgrauem Klinker verkleidete Block entlang der Geleise nahe beim Bahnhof Lausanne ist voluminös – 145 Meter lang, 21 Meter breit und 22 Meter hoch. Elegante Lamellen gliedern die Nordfassade. Fenster gibt es hier durchgehend im Parterre, in den Obergeschossen nur im westlichen Teil. Die Südfassade gegen Geleise und See ist praktisch fensterlos, doch bildet ein hoher Vorbau mit Giebeldach und halbrundem grossem Fenster einen starken Akzent. Dieser Vorbau ist das, was vom um 1900 entstandenen Lok-Depot übrig geblieben ist. In diesen langgestreckten Neubau ist das Musée cantonal des beaux-arts (MCBA) im Oktober eingezogen. Seit 1906 war die bereits 1818 gegründete Institution im Palais de Rumine an der Place de la Riponne untergebracht. Die Architekten des Neubaus sind Fabrizio Barozzi (geboren 1976) und Alberto Veiga (geboren 1973) aus Barcelona, die weltweit tätig sind und in der Schweiz schon das Kunstmuseum Chur und das Tanzhaus Zürich realisiert haben.
Museumszentrum an bester Lage
Nun setzt also in unmittelbarer Bahnhofnähe ein respektabler Museumsbau einen klaren städtebaulichen und kulturpolitischen Akzent. Und dabei wird es nicht bleiben: Entlang des Museums entsteht eine langgestreckte Piazza mit Arkaden an der Nordseite. Sie werden Ladengeschäfte, Gastronomiebetriebe und Kleinbetriebe der Kreativwirtschaft aufnehmen. Westlich der Piazza entsteht ein weiterer Museumsbau, der in zwei Jahren das Fotomuseum, heute im Palais de l’Elysée, und das mudac (Musée de design et d’arts appliqués contemporains), heute an der Place de la Cathédrale, aufnehmen wird. Lausanne und damit der Kanton Waadt, der künftig über eine Stiftung alle drei Museen führen wird, gelangen also zu einem eigentlichen Museumszentrum, das verkehrstechnisch über die künftige S-Bahn ausgezeichnet erschlossen sein wird.
3200 Quadratmeter Ausstellungsfläche
Bis die ganzen Bauarbeiten zu Ende gebracht sind, dauert es, nimmt man die Grossbaustelle des Bahnhofneubaus dazu, noch einige Jahre. Doch das Kunstmuseum konnte seinen Neubau schon jetzt in Betrieb nehmen. Er erweitert das Raumangebot für Ausstellungen und die Sammlung auf einen Schlag aufs Dreifache, auf 3200 Quadratmeter. Das Betriebsbudget verdoppelt sich auf neu acht Millionen.
Betritt man die rund 15 Meter hohe Eingangshalle, so sieht man sich einem raumhohen in Bronze gegossenen und mit goldenen Blättern behangenen Baum gegenüber, einer Skulptur des Italieners Giuseppe Penone.
Links sind Museumsshop und ein Ausstellungsraum, rechts das Restaurant und eine Aula untergebracht. Eine breite Treppe führt hinauf zur Plattform mit Aussicht auf Bahngeleise und See und weiter zu den zwei Ausstellungsgeschossen mit unterschiedlich dimensioniertem Raumangebot. Im Obergeschoss fliesst durch die Sheds Tageslicht in die Räume. Die Lichtverhältnisse scheinen in allen Räumen und auch ohne Tageslicht ideal: Sie sind so, dass man sich die Frage nach ihrer Qualität gar nicht erst stellt. Die Böden der Ausstellungsräume sind mit Holzriemen ausgelegt.
Das Gebäude beherbergt neben dem Museum auch die Stiftung Félix Vallotton, welche als eigentliches Vallotton-Kompetenzzentrum das Archiv des Waadtländer Künstlers betreut, sowie die Fondation Toms Pauli. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, ihre eigenen Sammlungen antiker und internationaler moderner Textilkunst sowie die Werke von Künstlern, welche die Biennale de la Tapisserie in Lausanne (1962–1995) prägten, zu konservieren und zu erschliessen.
Keine Selbstdarstellung
Die Architektursprache von Barozzi/Veiga ist generell zurückhaltend und ruhig – in den Ausstellungsräumen sowie im Restaurant und in den karg und nüchtern wirkenden Nebenräume und Treppenhäusern. Sie verlässt sich auf gute Proportionen und edle Materialien und verzichtet auf überflüssiges Beiwerk. Ein Besuch im neuen MCBA zeigt auf der ganzen Linie: Bauherrschaft und Architekten entschieden sich für eine selbstbewusste, klare Architektur, die nicht die Selbstdarstellung sucht, sondern sich in den Dienst der Sache stellt und der bildenden Kunst in all ihren Ausdrucksmöglichkeiten einen idealen Rahmen bieten will.
Das neue MCBA kostet insgesamt rund 83 Millionen Franken. 44,5 Millionen bezahlt der Kanton, fünf Millionen die Stadt. Private Geldgeber (Stiftungen, Loterie Romande, Wirtschaftsunternehmungen wie Nestlé und Philip Morris International) steuern 34,5 Millionen bei. Für den zusätzlichen Museumsbau und die Platzgestaltung werden von Stadt, Kanton und Privaten weitere rund 100 Millionen aufgewendet.
Die Eröffnungsausstellung
Das MCBA in Lausanne verfügt über eine hochkarätige Sammlung mit rund 10’000 Werken und mit Schwerpunkten bei der Westschweizer Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts sowie mit nationaler und internationaler Kunst des 20. Jahrhunderts. Bedeutende Werkgruppen stammen u. a. von Louis Ducros, Charles Gleyre, Théophile Alexander Steinlen, Félix Vallotton, François Bocion, Louis Soutter. Die engen Raumverhältnisse im Palais de Rumine gestatteten dem Museum bis anhin keine permanente Präsentation der Sammlungsschwerpunkte, sodass die Werke heute nur Kennern vertraut sind. Mit dem Neubau ändert sich das, denn rund die Hälfte der Räume soll der Sammlung zur Verfügung stehen. Die andere Hälfte ist für grosse Wechselausstellungen, etwa drei pro Jahr, sowie für kleinere Einzelpräsentationen vorgesehen.
Bernard Fibicher, Direktor des Hauses seit 2007, entschloss sich, zur Eröffnung das ganze Haus der eigenen Sammlung zu öffnen und rund 400 Werke vom 17. Jahrhundert bis heute zu präsentieren. Er ging einer für die Besucher eher langweiligen chronologischen Präsentation aus dem Weg und entschied sich für ein Aufmischen der Sammlung und eine Gliederung nach Themen wie Zärtlichkeit, Schmerz, Wald und Bäume, Flux, Musik. Das führt zu Reibungen und fruchtbaren Spannungen über die Jahrhunderte hinweg. Zugleich will das Museum den Donatoren und Leihgebern für ihre Grosszügigkeit danken: Ein grosser Teil der gezeigten Werke sind Schenkungen, denen das Museum bis heute kaum je eine grössere Öffentlichkeit geben konnte.
Fibichers Entschluss führt auch dazu, dass viele bekannte Werke der Sammlung erst später in die Präsentation einbezogen werden können. So hält man nach dem gewaltigen „Stier“ von Burnand oder nach Gleyres „Bacchanal“ und „Sappho geht ins Bett“ und nach Ankers berühmter „Königin Berta“ jetzt vergeblich Ausschau. Doch man begegnet sehr vielen, vor allem in der Deutschschweiz kaum bekannten, Künstlerinnen und Künstlern. Und man begegnet Werken, die für das visuelle kollektive Gedächtnis der Westschweizer wichtig sind, aber deren Qualität eine isolierte Präsentation nicht rechtfertigt. Ein Beispiel ist Burnands pathetisch auftrumpfendes und geschwätziges Riesenbild „Karl der Kühne auf der Flucht“, dem Fibicher eine sich jeder Inhaltlichkeit verweigernde monochrom-rote Malerei von Olivier Mosset und ein übertriebene Dramatik mit böser Ironie verbindendes Triptychon von Félix Vallotton gegenüberstellt: Das ergibt eine kleines Lehrstück zum Thema der Historienmalerei und des Erzählerischen in der Kunst – eine „Schulstunde“, in der auch Humor und Schalk ihren Platz haben.
Zahlreiche Überraschungen
Hübsche Gegenüberstellungen findet Fibicher, mit einem Augenzwinkern, auch im mit „Zärtlichkeit“ überschriebenen Saal. Da scheinen sich, eine Wandskulptur Gunter Frentzels, zwei sanft ausschwingende Stahlbänder zu liebkosen. Gleich daneben hängen Charles Girons Bild eines sich scheu die Hand reichenden ländlichen Liebespaares, ein Stück heiter-lichtvoller, aber reichlich sentimentaler Malerei, und ein amüsantes und auch sarkastisches Werk Vallottons: Da kämpft eine nackte Frau handfest mit einem offensichtlich betrunkenen Silen. Eine kleine Kostbarkeit sind die akkuraten und züchtigen Liebesszenen von Ella Surville, von der man nur das Geburtsjahr (31.3.1887) und den Bürgerort (Genf) kennt und in Erfahrung bringen kann, dass sie zeichnete, aber auch sang und schrieb. Das Todesdatum der offenbar naiven Künstlerin ist unbekannt.
Liebhaber vorzüglicher Zeichnungen von hoher Sensibilität des Strichs seien auf Albert Edgar Yersin und auf Denis Savary hingewiesen. Dass im mit „Terra incognita“ überschriebenen Saal schwarze Malereien von Pierre Soulage und Gottfried Honegger und ein ganz vorzügliches Werk Courbets von 1871, eine dunkle Schlucht zeigend, vereint werden, zeigt ebenfalls, welche Beziehungen Fibicher in seiner Ausstellung freizulegen vermag. – Das sind lediglich ein paar wenige Blicke in eine klug von thematischen Schwerpunkten her gedachte Sammlungspräsentation, die mit vielen Überraschungen aufwartet und auch Brüche und Inkohärenzen der Lausanner Sammlungstätigkeit sichtbar macht.
Wien um 1900 im kommenden Jahr
Bernard Fibicher betonte im Gespräch, dass er als Ausstellungskurator mit neuen Räumen gute Erfahrungen gemacht hat. Allerdings sei der Umgang mit dem grossen Saal, der sich mit einem Stellwand-System unterteilen, sich aber zum Beispiel für Skulpturenausstellungen auch als Ganzes nutzen lasse, für Wechselausstellungen nicht einfach. Die erste grosse Schau im kommenden Jahr, die der Wiener Kultur um 1900 und ihren wichtigen Exponenten gewidmet ist, wird zeigen, wie das Team des MCBA das Haus die Räume zu bespielen weiss. Es wird das erste Mal sein, dass in der Romandie dieses Wiener Thema behandelt wird. Ein bedeutender Teil der Exponate wird die Stiftung Kamm des Zuger Kunsthauses zur Verfügung stellen.