Lynn Kost, Kurator am Bündner Kunstmuseum in Chur, der diese schwergewichtige Ausstellung gestaltet hat, will nicht behaupten, er hätte ein gültiges und abschliessendes Konzept für die Entwicklung der Gegenwartskunst von Minimal Art der späten 1960er Jahre bis heute gefunden. Er will auch nicht, was ja tatsächlich vermessen wäre, von Vollständigkeit reden. Er spricht, bescheidener, von einem „Versuch über Kunst und Systeme“, von einem Ausstellungs-Essay also, in dem das Vorläufige, Kursorische, auch die persönliche Sicht der Ding ins Spiel gebracht wird. Dieses Vorläufige hat den wichtigen Vorzug, dass den Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit zu eigenem Weiterdenken geboten wird.
Anspruchsvoll für alle Seiten
Das ist anspruchsvoll und fordert vom Haus selber ein intensives Eingehen aufs Publikum mit Vermittlungsangeboten wie Saaltexten und Führungen. Und von den Besuchern fordert es die Bereitschaft, sich schwierigen Fragen der Wahrnehmung und der Unterscheidung bis ins feine Detail zu stellen – und die dazu notwendige Zeit zu investieren.
Ein geradezu sprechendes Beispiel: Vor Ad Reinhardts „Black on Black“ (1953) muss man schon einige Zeit verweilen, bis sich aus der völlig schwarz erscheinenden Malerei allmählich eine Quadratstruktur und die höchst differenzierte Farbtönung herauszuschälen beginnen. Ad Reinhardt bildet, mit Yves Klein („Weisses Monochrom“, 1957) und Pieri Manzoni („Achrom“ 1959) einen prominenten Auftakt zu „Immer anders, immer gleich“.
Nichts Weltfremdes
Doch wovon handelt die Ausstellung, an deren Anfang Lynn Kost als Wegbereiter die drei genannten Künstler stellt? Von Systemen, welche die Welt und auch unser Leben regieren, schreibt er im Saalblatt: Sonnensysteme, Bankensysteme, Nervensysteme, Zeitsysteme, Computersysteme, Geschlechtersysteme, Gesellschaftssysteme. Die Reihe liesse sich endlos fortsetzen. Es sind Systeme, die über das Individuum hinaus Geltung haben, einen Hut über (fast) alles stülpen, auf Vereinheitlichung abzielen und gerade damit nach den Differenzen, nach dem Individuellen, gar nach dem Anti-System zu fragen Anlass geben. Das ist keine weltfremde Thematik, angesiedelt in ferner Theorie, sondern unser mitunter brutaler Alltag.
Auch die Kunst stellt sich, bewusst oder unbewusst, seit jeher solchen Fragen. Da Lynn Kost aber nicht die ganze Kunstgeschichte aufarbeiten kann, dämmt er das weitläufige Thema ein und fragt, wie die Kunst seit den späten 1960er Jahren, seit Minimal Art und Konzeptkunst und bis heute der Problematik begegnet. Die Fragen sind vielleicht teils unpräzis, die Begriffe nicht ganz klar, doch wichtig ist: Was da an Werken grosser Künstlerinnen und Künstler von internationaler Reputation – zu Reinhardt, Manzoni und Klein gesellen sich ja viele andere – zusammenfand, ist höchst respektabel. Diese Werke lohnen auch ohne den komplexen wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Hintergrund die Fahrt nach Chur.
Zufall und Notwendigkeit
Es fällt nicht immer leicht, aus diesen Werken ein kritisch abwägendes Nachdenken über Systeme und ihren Einfluss auf unser Leben und den Gang der Dinge herauszuspüren. Einiges funktioniert jedoch eindrücklich: Carl Andre demonstriert die Relevanz des Begriffspaars Zufall und Notwendigkeit weit über die Kunst hinaus. Einerseits legt er die quadratischen, industriell gefertigten Metallplatten als „Bausteine“ von archaischer Einfachheit auf den Boden zum Rechteck aus. Anderseits überlässt er, wenn kleine kubische Plastikstücke aus seiner Ledertasche purzeln, alles dem Zufall und seinen undurchschaubaren Gesetzen. Offensichtlich wird die Gegensätzlichkeit auch im Werk der Konzeptkünstler Art & Language „Portrait of L. I. Lenin in the Style of Jackson Pollock“ (1980): Pollocks informelle Malerei als Inbegriff kaum kontrollierter Emotionalität überdeckt die politisch-soziale Systembesessenheit des klassischen Kommunismus.
An die Grenze zwischen gegebenem System und Individualität führt auch Sol LeWitts „Wall Drawing 108“ (1971). Der 2007 verstorbene Künstler formulierte seine Wandzeichnungen als Konzepte, die er von Assistenten ausführen liess. Für „Wall Drawing 108“ schrieb er, auf die Wand seien gelbe Linien von einem Meter Länge zu zeichnen; gegeben sind der Parlallelabstand sowie die Abstände zwischen Ende und Beginn der einzelnen Linien. Ein ehemaliger Assistent setzte in Chur während Tagen mit eiserner Disziplin die „Formel“ grossflächig um, und doch bleiben in der Übertragung Spuren seiner Persönlichkeit ablesbar.
Kunst als System
Grundfragen der Kunst und ihres Bestehens im Kunstbetrieb auch der Museen stellt der Engländer Walead Beshty (geboren 1976, lebt in Los Angeles) zur Debatte: Er zeigt fünf kupferne Winkelkobjekte in der Art von Minimal Art. Er verlangt, dass die Museumsleute bei der Montage an der Wand jeweils auf die sonst vorgeschriebenen Handschuhe verzichten – mit dem Resultat, dass jede Präsentation ihre Spuren hinterlässt, dass am Objekte selber also sein „Gang durch die Institutionen“ ablesbar wird. Darüber hinaus klafft zwischen der formalen Strenge des Objekts und den lebendigen, „unordentlichen“ Spuren ihrer Handhabung eine im Lauf der Zeit breiter werdende Lücke.
Offensichtlich wird die existenzielle Nahtlinie zwischen Systemen und real gelebtem Leben auch in On Kawaras „Date Paintings“. (In Chur ist die Tafel „JUNE 10.1967“ zu sehen.) In rund 2000 solch immer gleicher und doch immer anderer Tafeln dokumentierte er den Zeitablauf seines eigenen Lebens von 1966 bis zu seinem Tod im Jahre 2014. Ähnliches gilt auch von Hanne Darbovens obsessiven zeichnerischen Systematisierungsversuchen oder von Stanley Brouwn, der sich ein aus seinen Körpermassen abgeleitetes Referenzsystem schuf.
Engführungen
Nicht alle in Chur gezeigten Werke lassen sich jedoch so direkt mit der System-Erörterung in Verbindung bringen. Manches wirkt, bei aller Qualität der Exponate, austauschbar, und mitunter kann, wie das Beispiel Donald Judds zeigen mag, das Einbetten eines Werkes in den Ausstellungskontext auch zur Engführung werden: Das Glasklare der Sperrholz-Box Judds tritt in Opposition zur letztlich nicht klar gefassten oder auch gar nicht klar fassbaren Theorie, die Lynn Kost der Ausstellung zugrunde legt.
Auch bei Yves Klein, einem der grossen Anreger des Paradigmenwechsels der Kunst nach der Mitte des 20. Jahrhunderts, mag man sich die Frage stellen, ob denn gerade Kleins Denken nicht zu universell ist, als dass sich sein Werk in diesen Kontext einfügen liesse – es sei denn, man nehme just das als Beispiel dafür, wie eben Kunst jede Systematik sprengen kann. Dann allerdings stünde die Churer Ausstellung (fast) jedem bedeutenden Kunstwerk offen.
Weitere im Text nicht erwähnte Künstler der Ausstellung: John Baldessari, Peter Buggenhout, Angela Bulloch, Matias Faldbakken, Corsin Fontana, Wade Guyton, Bethan Huws, Iman Issa, !Mediengruppe Bitnik, Robert Morris, Charlotte Brodger, Michael Riedel, Robert Ryman, Jan Schoonhoven, Frank Stella, Sturtevant, Rémy Zaugg.
Bündner Kunstmuseum Chur, bis 11.11. 2018
Eine Publikation erscheint zu einem späteren Zeitpunkt.