Maler, Zeichner, Plastiker, Filmer, Opernregisseur, Musiker? Oder Politiker, der das Weltgeschehen einer scharfen Analyse unterzieht? Ein Show-Master, der sich bei allem Ernst und Gewicht seines Engagements jedes Tricks, auch der Parodie und des Witzes, bedient, um sein Publikum zu fesseln? Was ist der 1955 in Johannesburg geborene William Kentridge? Er ist all das gleichzeitig und wohl noch mehr – ein Meister des Spiels mit Bildern und Motiven, auch ein Meister der rastlosen Bewegung, die, oft begleitet von klangvoller Musik, in Wellen durch seine Bilder und Installationen rollt. Das Wort Gesamtkunstwerk drängt sich auf. Es hat seine Gültigkeit für die ganze und vom Künstler selber bis in jede Phase aktiv begleitete räumliche Auffächerung dieses Werkes auf drei Etagen des Hauses Gegenwart.
Existenziell politische Kunst
Die Eltern des Künstlers, beide Rechtsanwälte, engagierten sich als Weisse im Kampf gegen die Apartheid-Politik der südafrikanischen Regierung. Sie setzten sich als Verteidiger vor Gericht rast- und furchtlos für Anti-Apartheid-Kämpfer wie Mandela und andere ein. Bereits der jugendliche William Kentridge wurde mit den von Gewalt und Repression begleiteten politischen Auseinandersetzungen in Südafrika konfrontiert. Das prägte und prägt noch sein Denken und damit auch sein Werk, das oft, aber nicht nur von Südafrika handelt: Kunst ist für ihn existenziell mit politischer Stellungnahme verbunden. Er meidet jedoch den Weg des Doktrinären. Er liebt bei aller Direktheit und bei allem klaren Benennen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung stets auch Unterschwelliges, Fliessendes, Vorläufiges – und gar das Spielerische. Und es gibt, in der Verwendung des eigenen Bildes und der eigenen Tätigkeit als Zeichner, auch Selbstironisches. Das macht den Ausstellungsbesuch trotz der Tristesse der Thematik auch zum Vergnügen.
Vor allem aber: William Kentridge sucht nach neuen und eigenen Möglichkeiten, Geschichten und Geschichte zum lebendigen Bild werden zu lassen. Seine Animationsfilme bilden Umwälzungen und Verwerfungen nicht nur ab. Dank der Technik der stets veränderten, verwischten, überzeichneten, wieder und wieder fotografierten Kohlezeichnungen – was am Ende zu den für ihn typischen Schwarz-Weiss-Zeichentrickfilmen führt – und dank der Überlagerungen dieser Animationszeichnungen mit Fotografie und Performance werden die Werke selber zu Umwälzungen und Verwerfungen.
Im Sog des Geschehens
Seine politischen und historischen Anspielungen und Analysen im Detail zu verfolgen ist für Besucherinnen und Besucher ohne genaue Kenntnisse der Materie nicht einfach. Hilfreich ist in der Ausstellung eine Chronologie der Ereignisse in Südafrika und der Biographie des Künstlers. Man kann sich aber auch spontan hineinziehen lassen in den Sog des optischen und akustischen Geschehens – und wird überrascht sein, zum Beispiel von der Komplexität der Installation „Right Into Her Arms“: Auf einer kleinen Bühne bewegen sich hell bemalte Leinwände, auf die Kentridge Bilder voller Anspielungen auf Dadaismus und die Moderne der 1920er-Jahre projiziert. Zu hören sind zum Beispiel Schwitters „Ursonate“, Bergs „Lulu“-Musik und Musik Schönbergs. Dadaistisch mutet „Singer Trio“ von 2018 an: Drei Singer-Nähmaschinen rattern absurd zu lauter Musik-Kulisse.
Im gleichen Raum findet sich die Rekonstruktion von Kentridges Studio „Drawing Lesson: Learning from the Old Masters“. Hier nimmt der Künstler mit Zeichnungen nach Werken Holbeins, Picassos und Klees aus der Basler Sammlung direkt Bezug zum Ausstellungsort. Oft legt Kentridge auch Fixpunkte in der Kunstgeschichte offen. Er sucht sie weniger in der unmittelbaren Gegenwart mit Konzepten oder Reduktionen, sondern vielmehr im Dadaismus, in der Moderne der 1920er-Jahre und in expressionistischer Gegenständlichkeit – und damit in einer Zeit künstlerischer und politischer Verwerfungen. Es ist auch kaum Zufall, dass er 2005 den Max-Beckmann-Lehrstuhl der Frankfurter Städel-Schule innehatte.
Schlüsselwerk
Einen Höhepunkt bildet sicher die rund dreissig Meter lange 8-Kanal-Video-Installation „More Sweetly Play The Dance“ im zweiten Geschoss: Während 15 Minuten verfolgt man langsam dahinziehende und dahintanzende Prozessionen, die von mal melancholischer, mal kämpferischer Musik begleitet werden: Man sieht sich als Zeugen gespenstischer Schattenspiele. Kentridge bezieht sich in diesem Werk auf den mittelalterlichen Totentanz, aber auch auf afrikanische Tanz-Gewohnheiten und die Ebola-Epidemie in Westafrika 2014. Die Besucher erleben „More Sweetly Play The Dance“ als Schlüsselwerk: Das gilt für die Prozession als eines seiner wichtigsten Motive, aber auch für sein ausgefeiltes und virtuos eingesetztes technisches Können.
William Kentridge ist mit seiner Kunst längst in aller Welt präsent – mehrfach an der Documenta in Kassel und an der Biennale Venedig, ebenso in grossen Häusern wie im Metropolitan Museum in New York oder im Martin-Gropius-Bau in Berlin, aber auch in der Schweiz – im Haus Konstruktiv in Zürich, wo er in fulminanter Präsentation seine New Yorker Met-Inszenierung von Schostakowitschs „Die Nase“ dokumentierte. In Salzburg inszenierte er Bergs „Wozzeck“, in Amsterdam dessen „Lulu“.
Die von Museums-Direktor Josef Helfenstein kuratierte Ausstellung im Kunstmuseum Basel Gegenwart stellt nun den 64-jährigen Künstler so breit vor, wie es in Europa bisher kam je geschah – erstmals in einer Schau mit retrospektivem Charakter, die eindrücklich belegt, wie die Installationen und Filme in seinem frühen zeichnerischen Schaffen wurzeln.
Kunstmuseum Basel: A Poem That Is Not Our Own, Kunstmuseum Gegenwart, bis 13. Oktober 2019