Um die 815 Millionen Wahlberechtigten geordnet an die Urnen zu bringen, sind neun Wahltage angesagt, uns ein Heer von Beamten.
Ein ‘Fest der Demokratie’ werden Wahlen manchmal genannt. Für Indien würde wohl eher ‚Karneval der Demokratie‘ passen. Während drei Monaten herrscht in der grössten Demokratie der Welt der Ausnahmezustand. Verwaltung und Regierungspolitik gehen in Deckung, die Medien überschlagen sich mit Namen und Trends, jeder Tee-Plausch beginnt mit einer kurzen Meinungsumfrage und endet, zähneknirschend oder im Jubelton, mit einer Wahlprognose. Selbst die Nationalreligion Cricket muss dieses Jahr ihr Prunkfest, die ‚Indian Premier League‘, nach Dubai auslagern; hier würde sie nur stören. Am Montag gehen die ersten Wähler an die Urnen, am 12. Mai öffnen, nach neun Wahlrunden, die letzten Lokale. Vier Tage später kennt man Sieger und Verlierer.
Eine Million Wahllokale
Es ist auch ein Karneval der Zahlen, denn Statistiken sind das einzige Mittel, Indiens überschäumende Realität einigermassen in den Griff zu bekommen. 815 Millionen lautet die Zahl der Wähler, davon 120 Millionen, die heuer das erste Mal abstimmen dürfen. Knapp eine Million Wahllokale gibt es, 1.4 Millionen elektronische Abstimmungsgeräte, und die vielleicht erstaunlichste Zahl: elf Millionen Wahlbeamte. Die Elite der indischen IAS-Kader gehört dazu, einige Millionen Lehrer, die in jedem Dorf aufgeboten werden, unzählige Wahlbeobachter. Zu ihnen gehört zum ersten Mal auch eine Person, die in jedem Wahllokal bis zum letzten Himalayadorf an der chinesischen Grenze mit einer Web-Kamera den ganzen Wahlverlauf filmt.
Und natürlich sind auch mehrere hunderttausend paramilitärische Einheiten zur Stelle – die Armee hat bei einer Wahl nichts zu suchen -, und sie sind bereits ‚in Stellung gegangen‘. Vor zwei Wochen sah ich in einer Zeitung in Kerala das Bild eines Defilées von Soldaten in Tarnanzügen, die durch die Strassen der Stadt Kannur marschierten und vom Publikum wie Teilnehmer einer ‚Street Parade‘ beklatscht wurden. Das ehemalige Cannanore wird im ‚Vulnerability Mapping‘ der Zentralen Wahlkommission als Wahlkreis mit den meisten ‚heiklen Wahllokalen‘ Keralas klassifiziert (526), was ein Detachement von zwei Bataillonen ‚Central Reserve Police‘ rechtfertigt. Mit Recht, denn es ist der Ort mit der höchsten Zahl an politischen Morden; es ist noch nicht lange her, dass vier Mitglieder der KP (Marxist) verurteilt wurden, weil sie am Mord eines ‚Abweichlers‘ beteiligt gewesen waren.
„Bist du in ein Strafverfahren verwickelt?“
Die Wähler sind ohnehin gewarnt, denn die Medien werden nicht müde, ihnen vorzurechnen, wie viele Parlamentsmitglieder in hängige Strafverfahren verwirklicht sind (162, bei einem Total von 543). Seit 2003 muss jeder Anwärter (und der Ehepartner) bei der Anmeldung seiner Kandidatur den Bildungsstand deklarieren, sowie Einkommen, Vermögen Schulden, und eben die Frage: ‚Bist Du in ein Strafverfahren verwickelt?‘ Daraus lässt sich eine der Ursachen für die ungemütliche Nähe vieler Gesetzgeber zum Strafgesetz ableiten. Es zeigte sich, dass beim letzten Urnengang von 2009 das ärmste Fünftel aller Kandidaten nur 1% Wahlchancen hatten, das reichste Fünftel dagegen 20%.
Inzwischen hat die Wahlkommission den Plafond für Wahlkampfausgaben auf 7 Millionen Rupien angehoben, immerhin 100‘000 Franken. Das genügt allerdings bei weitem nicht, nicht nur für die Politiker, die einen Helikopter (insgesamt sind 260 im Einsatz) oder einen Geschäftsjet (80) mieten, und dafür Fr. 1000 bis 3000 pro Stunde bezahlen. Die Kosten sind hoch – Wähler werden mit gemieteten Traktoren oder Bussen herangekarrt, Rednertribünen und Gehege fürs ‚Crowd Management‘ kosten ein Heidengeld, und erst recht die Lichtanlagen, Lautsprecher, Verpflegung.
Geldwaschmaschine
Wahlkampfspenden sind überall auf der Welt ein Politikum, und sie sind es besonders bei Indiens enormem Einkommensgefälle. Die Festlegung einer gesetzlichen Obergrenze ist ein politischer Entscheid, gross genug, um Korruption einzudämmen, und niedrig genug, um nicht den Eindruck zu stärken, Demokratie sei ohnehin nur eine Frage des Preises. Dennoch sind Wahlen, so erklärte mir einmal der ehemalige Chef der Wahlkommission Naveen Chawla, die grösste Geldwaschmaschine des Landes. Man muss Parteispenden bis zu 20‘000 Rupien nicht deklarieren, und so können Parteien riesige Summen als Beiträge von anonymen Spendern in ihren Büchern führen und – säubern.
Das sei auch der Grund für die grosse Zahl von Parteien, hatte mir Chawla erklärt. 1593 Parteien sind angemeldet, aber nur zwei Dutzend sind im Parlament vertreten. Die meisten anderen wirken als Depotbanken. Dennoch: Ist es nicht so, dass eine Reihe von ihnen diesen Karneval und das kurzzeitug geöffnete Medienfenster einfach nutzen wollen, um auf ihre versponnenen Anliegen aufmerksam zu machen, um politische Wäsche öffentlich aufzuhängen – oder einfach um ein bisschen Spass zu haben?
Die Meditierende-Vegetarier-Partei
Was sonst soll die ‚Indian Lovers Party‘, die – unter dem Slogan ‚Lovers of the World Unite‘ und einem durchbohrten Herz und dem Taj Mahal als Wahlsymbol – nur ein einziges Mal Wahlkampf betrieben hat (am Valentinstag)? Oder die ‚National Coalition for Men‘ und ihr ‚Men-i-Festo‘; die ‚Khas Admi Party‘, die Partei der Korrupten, die mit einem grossen Zustrom von Kandidaten und einer gefüllten Wahlkasse rechnet; die ‚Coalition for the Homeless‘, die ohne Parteizentrale auskommt; die ‚Pyramid Party‘, deren Ziel es ist, alle Inder zu meditierenden Vegetariern zu bekehren, oder die ‚Unser Aller-Partei‘, die eigentlich auch ‚Ism Party‘ heissen könnte, denn sie ist gegen ‚Caste-ism, Regionalism, Language-ism, Difference-ism‘ und für ‚Nationalism und One-ism‘?
Am besten gefällt mir immer noch, neben der schon etwas seriöseren Transvestiten-Partei, die ‚Mritak Sangh‘ oder ‚Toten-Partei‘ von Lal Behari Mritak. Dieser war vor dreissig Jahren, als er in Delhi arbeitete, von habgierigen Verwandten im einem Dorf von Uttar Pradesh als tot gemeldet worden. Als er zurückkam, war sein Land diesen überschrieben worden, und die staatlichen Stellen weigerten sich, von ihm offiziell Notiz zu nehmen, da er ja bekanntlich tot war.
Keine „Swiss Bank Party“
Die einzige legale Schlupfloch für Lal Behari war, als Wahlkandidat aufzutreten, denn das Wahlgesetz diskriminiert nicht gegen Tote. Und siehe da: Er unterlag zwar dem damaligen Premierminister V.P. Singh, aber er gewann genügend Publizität, um von den Behörden wieder zum Leben erweckt zu werden. Die Partei erhielt er ebenfalls am Leben, denn es gab offenbar Viele, die einem ähnlichen Schurkenstück erlegen waren. Diesmal tritt die Mritak Party in zehn Wahlkreisen an.
Es ist ein Wunder, dass es keine ‚Swiss Bank Party‘ gibt. Denn mit dem erstmaligen Auftritt der ‚Partei des Gewöhnlichen Manns‘ und ihrer Anti-Korruption-Plattform erhält die Schweiz fast in jedem Partei-Manifest die Ehre eines Kurzauftritts. Zum Auftakt des Wahl-Karnevals am 7.April hat das Sonntagsmagazin des ‚Indian Express‘ ein ABC mit dem wichtigsten Schlagwort für jeden Buchstaben erstellt. Beim S flattert leider nicht Sex-Unterwäsche, sondern Schwarzgeld und eine Schweizerfahn