Im Rahmen der Corona-Hilfsmassnahmen für den Kulturbereich beschloss der Bundesrat im April, dass Kulturschaffende und Kulturbetriebe bei den kantonalen Fachstellen Ausfallentschädigungen beantragen können. Für viele fühlte sich die Deadline vom 20. Mai allerdings bald im Wortsinn wie eine tote Linie an – vor allem für Kulturschaffende im Kanton Zürich, wo die grösste Zahl an Gesuchen einging.
Mehrheit der Antragsteller in der Warteschlaufe
Aus „schnell und unbürokratisch“ wurde Warten auf Godot. Mitte Juli kam schliesslich eine Nachricht von Madeleine Herzog, der Leiterin der Fachstelle Kultur des Kanton Zürich, in der sie sich bei den Antragsstellern für die noch immer ausstehende Antwort entschuldigte und ihnen erklärte, dass von den rund 1100 Gesuchen bisher erst etwa 200 bearbeitet werden konnten. Das bedeutet, dass mehr als 80% in der Warteschlaufe hängengeblieben sind – und dass es hochgerechnet mehr als ein Jahr dauern könnte, bis auch die Letzten für Ihre Geduld belohnt werden.
Ob sich die Geduld tatsächlich lohnen wird, bleibt allerdings ungewiss. In einem Fall wurden nach dem aufwendigen Drei-Stufen-Prüfverfahren 24 Franken ausbezahlt. Zudem bleiben Rekursmöglichkeiten verwehrt: „Gegen Entscheide in Vollzug dieser Verordnung stehen keine Rechtsmittel offen“, heisst es in der Anweisung des Bundes. Aus der Hilfsmassnahme wurde eine Bürokratiefalle.
Prekäre Einkommensverhältnisse
Die langen Wartezeiten sorgten für Unmut. Dabei geht es aber nicht um mimosenhafte Ungeduld – viele sind schlicht in eine wirtschaftliche Notlage geraten. Nach Erhebungen des Bundes und von Suisseculture Sociale leben etwa 50% der Schweizer Kulturschaffenden in prekären Einkommensverhältnissen. Es sind keine Reserven vorhanden, um monatelange Wartezeiten zu überbrücken.
Die Fachstelle war schlicht überfordert. Die Flut an Gesuchen musste zusätzlich zum laufenden Betrieb bewältigt werden. Es gelang zwar kurzfristig Stellenprozente aufzustocken, aber der Bearbeitungsprozess bieb an die Vorgaben des Bundes gebunden. Und der erwies sich bald als für den Kulturbereich zu wenig praxistauglich, zu kompliziert und zu personalintensiv. Nicht nur die Kulturschaffenden, auch die Bürokratie selbst ist damit in die Bürokratiefalle geraten.
Bürokratisches Trauma-Potential
Vor allem für Einzelpersonen erwies sich das System als nur bedingt von Nutzen. Der Antrag einer Autorin oder eines Künstlers wurde nach demselben Prozedere bearbeitet wie der eines Multiplex-Kinos mit Gastro-Betrieb und 50 Angestellten. Allein die Excel-Tabelle dazu hatte für Menschen ohne Rechtsabteilung und Sekretariat durchaus Trauma-Potential. Für einen Vorschuss an Goodwill und Kulanz blieb wenig Spielraum – vielmehr sah die Bundesverordnung ein Prüfverfahren vor, dessen Akribie eher bei einer Drogenfahndungskommission angemessen wäre.
Immerhin: Problem erkannt
Der Hinweis auf fehlende Rechtsmittel gegen einen Entscheid dürfte zudem schlicht verfassungswidrig sein. Fazit: die Massnahme wurde zwar schnell beschlossen, nur hat sie – gegen beste Absichten – zu einem System geführt, bei dem 26 Kantone Personal- und Zeitressourcen verschleissen und dabei trotzdem zu viele Verlierer produzieren.
Trotzdem kann man das Mail der Fachstelle des Kantons Zürich auch positiv lesen: Das Problem wurde erkannt und eingestanden. Das ist fair. Und man darf davon ausgehen, dass sich die Mitarbeiter dort genauso ein einfacheres Verfahren wünschen wie die Antragsteller selbst. Nur steht die Lösung des Problems noch aus. Und es wird in den kommenden Monaten nicht kleiner, sondern grösser werden.
In einem offenen Brief von Kulturschaffenden an den Bundesrat (zu dessen Verfassern der Autor gehörte) wurde schon im Mai vorgeschlagen, das aufwendige Verfahren durch Auszahlung eines Fixbetrags für eine festzulegende Zeit zu ersetzen. Im Rahmen der Vernehmlassung für neue Hilfsmassnahmen (die bisherigen laufen Mitte September aus) tauchen nun Vorschläge auf, die in eine ähnliche Richtung zielen.
Angebot der Zürcher Regierungsrätin
Im Positionspapier der Taskforce Culture wird unter anderem ein SVA-Sockelbetrag angeregt, mit dem ein grosser Teil der in Bedrängnis geratenen Kulturschaffenden abgedeckt werden könnte. Viel Behördenaufwand nur für grössere Fälle will auch die Zürcher Regierungsrätin Jaqueline Fehr, deren Departement die Fachstelle Kultur untersteht. „Selbständige Kulturschaffende sollen, wenn sie das wollen, für diese Zeit unkompliziert und pauschal 2000 Franken Hilfe pro Monat beziehen können. Diese Kleinstgesuche bewilligen wir ohne aufwendige (und teure) Prüfung. Kulturschaffende aber, die das Gefühl haben, ihre Ausfälle seien grösser als 2000 Franken, müssen das in einem ausführlichen Gesuch begründen.“
Sie habe dafür die eidgenössische Finanzkontrolle auf ihrer Seite, meint Fehr in ihrem Blog. Wohl aus dem einfachen Grund, weil man dort Gesamtkosten und praktische Umsetzbarkeit im Blick hat.
Den Künstlern fehlen neue Aufträge
Das neue Hilfspaket wird auch einer veränderten Situation Rechnung tragen müssen. Ging es bisher darum, dass kantonale Fachstellen entgangene Einnahmen aus abgesagten Veranstaltungen oder Projekten vergüten, wird sich ab Herbst eher zeigen, dass es gar nichts zu vergüten gibt, weil schlicht die Aufträge fehlen.
Die Krise hat die Kulturbranche schwer getroffen, potentielle Partner wie Produktionsfirmen oder Kulturinstitutionen sind selbst dabei, ihre Scherben zusammenzukehren, holen erst Aufgeschobenes nach, haben für Neues wenig Planungssicherheit. Für viele Kulturschaffende beginnt also die harte Durststrecke erst. Und weil der Hälfte von ihnen Reserven fehlen, droht der Gang zum Sozialamt – wo jeder Fall teurer wird als durch eine der erwähnten oder vergleichbare Massnahmen.
Kulturpolitik und Sozialpolitik
Es wäre also auch im gesamtwirtschaftlichen Interesse, das zu verhindern. Aber noch ist ungewiss, wie es weitergeht. Neue Hilfsmassnahmen, auch die für die Kultur, müssen im September vom Parlament genehmigt, also auch von bürgerlicher Seite mitgetragen werden. Entscheidend wird sein, einen Common Ground zu finden.
In der Krise zeigt sich, dass Kulturpolitik nicht von Sozialpolitik – genauer von sozialer Verantwortung – zu trennen ist, weil ein so grosser Teil der Kulturschaffenden in prekären Verhältnissen lebt. Genauso untrennbar ist sie aber auch mit Wirtschaftspolitik verbunden: Mit einem Jahresumsatz von rund 22 Milliarden Franken trägt die Kulturbranche rund 4% zum BIP bei. Die Zahl entspricht dem Jahresumsatz der Credit Suisse, deren Systemrelevanz kaum jemand bezweifeln würde.
„Leuchttürme“ und Solo-Selbstständige
Anders als ein Finanzkonzern ist die Kulturbranche aber überwiegend kleinstteilig strukturiert. Neben den grossen Kulturinstitutionen, gern „Leuchttürme“ genannt, tragen tausende Freischaffende und Solo-Selbstständige zum Funktionieren der Branche bei. Genau bei dieser Gruppe finden sich auch die meisten Geringverdiener. Sie sind die Basis des Kultursektors – und damit auch der Wertschöpfungkette.
Anders als bei einem Konzern kann man nicht einfach die Grossstruktur stützen, um tausende Arbeitsplätze zu sichern. Der Kultursektor funktioniert genau andersherum: Wird die Basis nicht gesichert, fehlt dem ganzen Betrieb Nachschub an Content und Ideen. Leuchttürme allein machen keine Kulturlandschaft aus. Keine, die 4% zum BIP beiträgt, und auch keine, die sich beim Standortmarketing vorzeigen lässt. Deshalb dürften sich weitere Unterstützungsmassnahmen sowohl sozial als auch ökonomisch als langfristig gut investiertes Geld erweisen.
Rudolph Jula ist Schriftsteller und Regisseur und lebt in Zürich. Zu seinen Werken gehören die Reiseerzählungen „Auf dem Weg nach Damaskus“ und der Fotoessay „Vanishing Syria“. Sein Salon findet regelmässig im Literaturhaus Zürich und im Waldhaus Sils statt.