Werden einer Rasse, Kultur, Ethnie oder sonstigen Gruppe bestimmte Eigenschaften als «Essenz» zugeschrieben – und sei es, um diese zu schützen–, so droht eine kollektivistische Perversion der Menschenrechtsidee. Diversität setzt freie Individuen voraus.
Gewisse Begriffe sind wie Denkfallen. Man kommt einfach nicht los von ihnen. Zum Beispiel Rasse und Kultur. Sowohl Rasse wie Kultur definieren Identitäten, Zugehörigkeiten, und sie grenzen per se andere aus. «Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein blosses Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch», erkannte schon Adorno.
Die Konzepte des Menschen als Träger entweder einer biologischen oder einer kulturellen Erbschaft haben ähnliche Auswirkungen. Beide verfestigen das als typisch Vorgefundene zum natürlich oder kulturell Vorgegebenen. Intelligenz, Arbeitswille oder Temperament erscheinen dann als Eigenschaften «von Natur aus» oder «aufgrund sozialer und kultureller Herkunft». Gerade in der aktuellen Genderdebatte mischt der Gedanke des sexuellen Determiniertseins mit – entweder bestimmt «die Natur» oder die soziale Position das Geschlecht.
Gefährdung kultureller Besonderheit
Von dieser Tendenz ist auch die Debatte um kulturelle Aneignung infiziert. Der kanadische Philosoph Charles Taylor lancierte sie in den frühen 1990er Jahren mit seinem Essay über den Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Er forderte darin den «Schutz der Integrität der Lebensformen und Traditionen, in denen sich Angehörige diskriminierter Gruppen wiedererkennen können». Es sei rechtsstaatlich zu garantieren, dass die kollektive Integrität bestimmter Gruppen vor den Ansprüchen einzelner Individuen geschützt werde, sobald diese Ansprüche die Besonderheit eines Kollektivs in ihrer Existenz gefährden.
Was aber heisst «Gefährdung der Besonderheit»? Wie verhält es sich, wenn einzelne kreativ und reformerisch gesinnte Individuen – etwa Künstlerinnen und Künstler – das Kulturgut, das die besondere kollektive Integrität garantiert, erneuern oder gar verabschieden wollen? Wer bestimmt, wann und wo eine «Gefährdung der Besonderheit» der Kultur vorliegt? Eine selbsternannte Clique von Identitätsschützern? Ein staatlicher KUSI: Kultursicherheitsdienst?
Kultureller Essenzialismus
Hinter einem «Artenschutz» der Kulturen steht oft die Vorstellung, aus einer Menschengruppe lasse sich eine kulturelle «Essenz» herausdestillieren: eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsamer Ursprung, ein gemeinsamer Wertekanon. Man sortiert ein paar Charaktereigenschaften aus und verleiht ihnen eine herausragende Position, indem man sie als wesentlich bezeichnet. Im «Wesen» verbirgt sich der normative Anspruch: So sollst du sein! Er kann sich in seiner ganzen Härte manifestieren, wenn er diejenigen massregelt und ausgrenzt, die nicht so sind, wie sie zu sein haben.
Der Kulturessenzialismus endet nicht selten in anrüchiger völkischer Wesensmetaphysik. Jüngst etwa bei «Kulturentmischern» vom Schlage des AfD-Ideologen Björn Höcke. Es drohe ein «Volkstod durch Bevölkerungsaustausch». Deshalb stelle die Massenimmigration eine Gefahr für die Essenz der deutschen Kultur dar, «wenn die einströmenden Menschen ethnisch-kulturell nicht so verwandt» seien, und dies «die Assimilierungs- oder Integrationsprozesse stark erschwere». Und Höcke seiert von einer «kulturellen Kernschmelze». Um sie zu verhindern, müsse man eine «Remigration» ins Auge fassen, die nicht um eine «wohltemperierte Grausamkeit» herumkomme – dies ein Begriffscocktail, den Höcke sich von Peter Sloterdijk «kulturell aneignet».
Das Paradox der Diversität – zumindest, wenn man sie von ihren Missbräuchen her betrachtet – liegt darin, dass sie im Grunde das untergräbt, was an der Vielfalt der Kulturen wertvoll ist. Wertvoll ist Vielfalt, wenn sie unseren Horizont erweitert; wenn sie uns verschiedene Sichtweisen auf die Welt, verschiedene Möglichkeiten der Beurteilung von Handlungen nahebringt; wenn sie unser Selbst bereichert; und vor allem und vordringlich, wenn sie die notwendige Debatte über ein universelles Gedankengut befruchtet, das eine friedliche Koexistenz fördert und stützt: eine gemeinsame Sprache interkultureller Zivilisiertheit. Diversität setzt Individuen voraus, die frei sind, ihre partikulare Kultur zu wählen, die aber auch frei sind, sich mit anderen Kulturen auszutauschen, sie «anzueignen». Eine Kultur steht und fällt mit den Menschen, die sie verkörpern.
Trennung von Recht und Lebenswelt
Diese Freiheit ist heute prekär. Wir leben in einem kulturellen Durcheinander. Jeder Mensch beansprucht das Recht auf Ausübung seiner identitätsstiftenden Lebensform; das Recht, eine nichtbinäre Person, ein Roma, ein Zeuge Jehovas oder was auch immer zu sein. Allerdings sollte man hier ganz klar unterscheiden: Dieses Recht kommt dem Individuum, nicht dem Kollektiv zu.
Gewiss gibt es flagrante Formen der Diskriminierung minoritärer Gruppen, zumal der Roma in Europa. Aber man schützt sie vor Übergriffen und Benachteiligungen primär in Ansehung ihrer Person, und nicht in Ansehung ihrer Gruppenzugehörigkeit. Verabschiedet man diesen Primat, verwässert man tendenziell die Universalität der Menschenrechte. Denn sie beruht auf der Trennung von Recht und kulturspezifischer Lebenswelt.
Das ist nicht für alle einsichtig. Eben erst vernimmt man, dass Gambia das Verbot einer kulturellen Besonderheit – der Genitalverstümmelung – aufheben will. Und es gehört zur notorischen Immunisierungsstrategie von repressiven Regimen – etwa des iranischen –, auf ihrer eigenen kulturell geprägten Interpretation der Menschenrechte zu beharren.
Kulturelle Reinheit – eine Idee der höchsten Giftklasse
Selbstverständlich spielt die Kultur in jeder Biografie eine Rolle: Sprache, Glauben, Tradition, Familie, Bildungsstätte, politische Partei, Fanclub – stets definieren wir uns bis zu einem gewissen Grad über unsere Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, manchmal in bestimmten Lebensphasen, manchmal über solche Phasen hinaus. Kultur ist also gewissermassen eine Klammer, die unsere Identität während einer bestimmten Zeit zusammenhält.
Aber wir sollten sie als eine lose Klammer gebrauchen. Denn wenn wir von Kultur sprechen, dann sprechen wir immer auch von etwas Erfundenem. Sie ist ein Produkt der kollektiven Imagination. Ein Phantasma, das jedoch durchaus reale – und zuweilen böse – Wirkungen zeitigt. Viele Menschen haben es derart internalisiert, dass sie glauben, ohne es nicht mehr leben zu können.
Dabei sind wir im Grunde alle Mischlinge. Unsere Identitäten sind hybrid, unrein. Wie der britisch-ghanaische Philosoph Kwame Anthony Appiah schreibt, ist Identität modular: zusammengesetzt und immer wieder zusammensetzbar. Eine kosmopolitische Haltung sei natürlich, weil wir immer schon kulturell «verunreinigt» sind: «Um eine Heimat zu haben, bedarf es und bedurfte es noch nie einer festgefügten Gemeinschaft und eines homogenen Wertesystems. Kulturelle Reinheit ist ein Widerspruch in sich.» Ich würde nachlegen: Kulturelle Reinheit ist eine Idee der höchsten Giftklasse!
Rückfall ins Stammesdenken?
Der Ethnologe Claude Lévy-Strauss machte uns darauf aufmerksam, dass der Begriff des Menschen immer kulturell geprägt ist. Im primitiven Verständnis ende «die Menschheit (…) an den Grenzen des Stammes, der Sprachgruppe, manchmal sogar des Dorfes, so dass eine grosse Zahl sogenannter primitiver Völker sich selbst einen Namen gibt, der ‘Menschen’ bedeutet (...), was gleichzeitig impliziert, dass die anderen Stämme, Gruppen oder Dörfer keinen Anteil an den guten Eigenschaften – oder sogar an der Natur – des Menschen haben, sondern höchstens aus ‘Schlechten’, ‘Bösen’, ‘Erdaffen’ oder ‘Läuseeiern’ bestehen.»
Ich will jetzt nicht behaupten, wir befänden uns auf der schiefen Bahn zur «Re-Primitivierung». Aber das Wir-und-sie-Denken ist gang und gäbe. Und es erscheint durchaus ratsam, sich darauf zu besinnen, von welchen Anfängen wir uns weg entwickelt haben und was auf dem Spiel steht, wenn wir Kultur lediglich als Instrument des Inkludierens respektive Exkludierens gebrauchen, also brutal gesagt: ins Stammesdenken zurückfallen.
Kultur ist ambivalent. All das, was der Mensch als Kulturgut schafft – Literatur, Kunst, Technik, Wissenschaft, Religion –, kann sich «objektivieren» und als dieses objektive Gebilde den Menschen vereinnahmen, entmündigen. Im Zweifelsfall gilt deshalb: Schützen wir nicht Kulturen, sondern Menschen vor kultureller Korsettierung.