In einer Zeit, in der die Klischees über „den“ Islam ins Kraut schiessen und die Debatte nur so strotzt von Gegensatzpaaren wie Aufklärung versus Vormoderne, Skeptizismus versus Fundamentalismus, säkulare Gesellschaft versus Gottesstaat, wissenschaftliche Evidenz versus Offenbarung und Schriftengläubigkeit, Menschenrechte versus Stammesrechte, Materialismus versus Spiritualität und so fort – just in einer solchen Zeit begrüsst man ein Buch, das wie ein Ventilator im Mief abgestandener Klischees wirkt. Ich spreche von „Kultur der Ambiguität“ des deutschen Islamwissenschafters Thomas Bauer, das mit dem Anspruch auftritt, eine „andere Geschichte des Islams“ zu schreiben. Das Buch ist bereits vor fünf Jahren erscheinen, aber seine Aktualität bleibt gerade vor dem Hintergrund der neuesten Ereignisse ungeschmälert.[1]
Es ist für den Nichtkenner des Islams, wie ich einer bin, nicht so sehr der Anspruch der „anderen“ Geschichte, als vielmehr eines anderen Blicks auf unsere eigene Kultur, die das Buch aus der Fülle der einschlägigen Literatur heraushebt. Dass die eigene Kultur den Blick auf die andere Kultur überformt, wenn nicht verzerrt, ist ja eine bleibende Einsicht der modernen Ethnologie, die sich von der paternalistischen kolonialen Völkerkunde des 19. Jahrhunderts emanzipiert hat. Und sie wurde in jüngerer Zeit zum Fanal rabiater postkolonialer Kulturwissenschafter, die – allen voran Edward Said -, nun den Spiess umkehrten und an den „westlichen“ Islamexperten und ihrer „orientalistischen“ Verzerrung kaum einen guten Faden liessen. Dass dabei ironischerweise wiederum Klischees produziert wurden, gehört wohl zu den Merkmalen solch intellektueller Gockeleien (was sie nämlich in der Regel auch sind).
Ambiguitätstoleranz: It ain’t necessarily so
Bauer rückt einen Begriff ins Zentrum seiner Geschichtsschreibung, der auf erstes Anhören nicht sonderlich attraktiv klingt: Ambiguitätstoleranz. Ursprünglich ein psychologischer Terminus, kann er salopp kulturwissenschaftlich mit einem Songtitel von Gershwin umschrieben werden: It ain’t necessarily so - es kann so, aber auch anders sein. Es gibt nie nur eine einzige Sicht auf ein Phänomen, ein Objekt, eine Norm, eine Lebensform, eine Doktrin, einen heiligen Text. Das mag trivial klingen, aber überraschenderweise entpuppt sich gerade diese Trivialität als äusserst brisant. Obwohl wir ihr gerne Lippendienst zollen, tun wir uns insgeheim schwer mit ihr. Hand aufs Herz: Man suche für sich selbst eine Idee oder Norm, die herauszufordern einen ins Mark trifft. Meinungsäusserungsfreiheit zum Beispiel. Wie viel Toleranz – Ambiguität - lässt man in ihrer Auslegung zu? Billigt man die Interpretation des Fundamentalisten, diese Freiheit habe vor dem Wort Gottes zurückzutreten, als eine Sicht unter anderen? Wo werde ich ambiguitätsintolerant: von hier weg hört die Mehrdeutigkeit auf, wird nicht mehr verhandelt?
Der Machtwille der Rechtgläubigkeit
Ambiguitätsintoleranz zeigt sich überall. Sie hängt sich auch gern den Mantel der Scheintoleranz um: Andere Wege des Heils sind möglich und erlaubt, solange sie in die Ecclesia universalis des Christentums münden. Der christliche Geist ist in den andern Religionen präsent, nur nicht so voll ausgewachsen wie in der Kirche. Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten haben immer noch ein religiöses Minus im Vergleich mit den Christen. So verlautet z.B. die Schrift „Christentum und die Weltreligionen“ (1997) der römischen Glaubenskongregation, als deren Präfekt der spätere Papst Bendedikt amtete. Er, dessen empfindliches gelehrtes Geruchsorgan in jeder Art von religiöser Vielfalt den versteckten Pferdefuss des Relativismus witterte.
Diese Unbeweglichkeit verdeckt den heimlichen Machtwillen der Rechtgläubigkeit. John Locke, der klarsichtige Verfechter der Toleranzidee, hat ihn schon vor über dreihundert Jahren blossgelegt: „(Jede) Kirche ist in ihren eigenen Augen rechtgläubig, in denen der anderen im Irrtum und ketzerisch. Denn was auch eine Kirche glaubt, davon glaubt sie, dass es wahr ist, und das diesem Entgegengesetzte erklärt sie für Irrtum. So dass der Streit dieser Kirchen über die Wahrheit ihrer Lehre und die Reinheit ihrer Gottesverehrung auf beiden Seiten gleich steht.“
Gegen solchen Machtwillen traten auch Denker im Islam an. „Im Grunde sind alle wichtigen Bereiche des klassischen Islams das Ergebnis eines Kompromisses zwischen einander widerstreitenden, einander zunächst feindlich gegenüberstehenden Diskursen,“ schreibt Bauer. Das „Bemühen, Ambiguität zu bändigen, nicht aber zu beseitigen“ charakterisiere die arabisch-islamische Kultur und Wissenschaft der Blütezeit. So betrachtete zum Beispiel der Korangelehrte Ibn al-Dschazari im 15. Jahrhundert die Deutungsoffenheit des Korans als Gnade Gottes. Das heilige Buch, sei „ein gewaltiges Meer, in dem man nie auf Grund stösst und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird“. Eindeutigkeit im Verständnis erschien ihm weder möglich noch erstrebenswert.
Opfer seines eigenen Ansatzes
Bauers Blick auf die „andere“, den Deutungspluralismus kultivierende Denktradition des Islams kann ideologische Verhärtungen lösen und Augen öffnen. So begrüssenswert das ist, so bedenklich erscheint aber umgekehrt die Darstellung der neuzeitlichen europäischen Entwicklung. Hier, so hat man den Eindruck, konstruiert Bauer nun um des Kontrastes willen seinerseits ein Klischee, nämlich jenes des ratiozentrischen Denkens, das die „intolerante“ vereindeutigende Vernunft über alles stellt und in deren Namen Absolutheitsansprüche anmeldet. Die Tendenz gibt es, gewiss, und sie ist sogar einflussreich, in monistischen Strömungen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sich vor allem in den Naturwissenschaften Geltung verschaffen.
Aber das ist nur die eine Seite der Geschichte. Das Europa der Neuzeit habe, so Bauer, „auf dem Gebiet der Ambiguität nicht allzu viele Leistungen anzubieten“. Hätte er seinen Blick etwas tiefenschärfer eingestellt, wäre ihm schnell aufgefallen, dass die Situation so eindeutig nicht ist. Er schreibt zum Beispiel, der Islam der „nachformativen“ Periode (ca. 11. - 15. Jahrhundert) sei nicht „eine Welt der Gewissheiten, sondern der Wahrscheinlichkeiten“ gewesen. Aber war es nicht just Blaise Pascal, der aus einem tiefen theologischen Zweifel heraus der Reflexion über das Nichtwissen und die Wahrscheinlichkeit das Feld ebnete? Selbst Descartes, meist als Prediger des „geometrischen Geistes“ und der absoluten Gewissheit gehandelt, äusserte, wenn es um die praktische Vernunft ging, durchaus Vorbehalte gegen seine „Methode“. Und Lockes „Brief über die Toleranz“? Montesquieus „Perserbriefe“? Die Ringparabel von Lessing? Herder und seine Kulturenvielfalt, überhaupt die Romantiker als „Aufklärer der Aufklärung“, die Hermeneutik von Schleiermacher bis Gadamer und Rorty – allesamt Positionen gegen den Absolutheitsanspruch der eindeutigen Gewissheit.
„Ambiguitätsfurcht, Wahrheitsobsession und Universalisierungsehrgeiz“
Problematisch wird die Argumentation Bauers noch aus einem anderen Grund. Der Westen sollte seiner Meinung nach in der Demokratisierung der islamischen Welt mitwirken, indem er die „Trias“ aus „Ambiguitätsfurcht, Wahrheitsobsession und Universalisierungsehrgeiz“ aufgibt und „den Demokratisierungsprozess wohlwollend verfolgt, auch wenn er Richtungen einschlägt, die nicht immer im Sinne des Westens zu sein scheinen.“ Man glaubt nicht recht zu hören: Wahrheit eine Obsession, die eindeutige Rede eine Furchtreaktion, das Einstehen für universelle Werte und Rechte ein Ehrgeiz? Alles „im Sinne des Westens“? Soll man es lassen, die verschlagen-„ambiguen“ Statements von Politikern, Wirtschaftsführern und ihren medialen Schranzen auf eindeutig behaftbaren Gehalt abzuklopfen? Ist es Obsession, einen Machthaber wie Baschar al-Assad der Lüge zu bezichtigen, wenn er sagt, es gebe keinen Bürgerkrieg? Blosser Ehrgeiz, wenn man lokale Bräuche, welche Frauen unterdrücken, im Namen der Universalität der Menschenrechte anprangert?
Verteidigung des Universalismus
Hier unterläuft Bauer ein elementarer logischer Fehler: Er vermischt psychologische Motive (Obsession, Furchtreaktion, Ehrgeiz) und rationale Gründe für Eindeutigkeit, Wahrheit, Universalität. Gewiss, seine „Trias“ mag einen europäischen Mainstream im Visier haben, der im Namen von Eindeutigkeit, Wahrheit und Universalität oft mit „kolonialisierendem“ Effekt auftrat und auftritt. Und in diesem Sinn ist Bauers Demolierung von Klischees über den Islam ein Gewinn. Man sollte deswegen aber nicht gleich auch universalistische Tendenzen unterbinden wollen. Sie sind keinesfalls bloss „im Sinne des Westens“. Sie dienen, recht interpretiert, der Befreiung aller Menschen aus weltanschaulichen und moralischen Zwangsjacken. Es gibt zwei ernstzunehmende Universalismen: die Idee der Objektivität auf dem Gebiet der Erkenntnis und die Idee der Menschenrechte auf dem Gebiet der Moral. Ihr Status war immer prekär. Und er ist es heute mehr denn je. Machtgeil-bornierte Vertreter kultureller, ethnischer, religiöser „Wahrheiten“ verkünden den Anspruch auf „ihre“ Objektivität und „ihre“ Moral und treiben jenen unsäglichen Zerstückelungsprozess der Welt voran, dessen Zeugen wir täglich sind. Den Universalismus der Objektivität und der Menschenrechte ernst zu nehmen, ja, ihn gegen eine kulturrelativistische Veblasenheit zu verteidigen, gehört also zu einem ersten Gebot post-postmodernen Denkens. Und zwar entschieden eindeutig. Zu hoffen wäre, dass diese Verteidigung dereinst als Anfang einer neuen Grosserzählung in die Geschichte eingehen wird.
[1] Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen / Suhrkamp, Berlin 2011.