„Obama trifft Raúl Castro und macht Geschichte“, titelte die New York Times nach dem Treffen der beiden Staatschefs im April in Panama. Anfang August eröffnete Washington seine neue Botschaft in Havanna. Das Eis der letzten 54 Jahre scheint zu schmelzen.
Noch ist kein Botschafter entsandt, und der von der Familie Bacardi inspirierte Cuban Liberty and Democratic Solidarity Act aus dem Jahr 1996 – besser bekannt als Helms-Burton Act –, mit dem das US-Handelsembargo gegen Kuba erheblich verschärft wurde, ist immer noch in Kraft. Seither sind US-Häfen für Schiffe internationaler Reedereien, die Kuba anliefen, gesperrt und ausländische Firmen, die in Kuba investierten, vom US-Markt ausgeschlossen. Doch darum scheint sich schon lange niemand mehr zu kümmern.
Boykott mit begrenzter Wirkung
Zwar haben die meisten lateinamerikanischen Staaten jahrzehntelang dem Druck der USA nachgegeben und Kuba boykottiert – zumindest offiziell (Ausnahmen waren vor allem Mexiko und zeitweilig Chile und Nicaragua; erst in den letzten 15 Jahren begannen sich einige Länder wie Ecuador, Venezuela, Bolivien oder Argentinien diesem Druck Washingtons zu widersetzen.)
Tatsächlich aber bewunderten selbst fanatisch antikommunistische Diktatoren Fidel Castro, der Washington die Stirn bot. Nicht selten war sogar in den Korridoren der Regierungs- und Präsidentenpaläste zu hören: „Tiene cojones.“ (Er hat Eier.) Und auf zahlreichen Inseln der Karibik arbeiten schon seit langem kubanische Ärzte. Nun, wo sogar die allmächtigen Amerikaner nicht mehr auf das Kubageschäft verzichten wollen, diskutieren die Nachbarn in der Karibik beinahe nervös, wie sie die bereits bestehenden Beziehungen stärken können.
Karibische Integration
Ob der Jamaica Observer, der Antigua Guardian, der Trinidad & Tobago Express oder die Ayiti News, überall wird nach Kubas Wandel in den letzten 25 Jahren diskutiert, ob Haiti, Jamaica und die Inseln der Kleinen Antillen bereit dafür sind, den Koloss im Norden in die Karibische Gemeinschaft (Caricom) aufzunehmen. Der Koloss im Norden sind in diesem Fall nicht die Vereinigten Staaten, gemeint ist Kuba. Und auch dessen Bereitschaft zur Integration in die Caricom wird diskutiert.
1973 von Barbados, Guyana, Jamaica und Trinidad & Tobago gegründet, wuchs Caricom auf heute 15 Mitgliedsstaaten mit insgesamt 17 Millionen Einwohnern an. Die wirtschaftliche Integration wurde durch die Gründung der Caribbean Single Market and Economy (CSME), der 13 Staaten angehören, erreicht. Neben Guyana, Haiti und Jamaica gehören den Zusammenschlüssen vor allem die Inseln der Kleinen Antillen an.
Wie die EU stellte Caricom einen einheitlichen Pass aus, den mit Ausnahme Haitis, Montserrats und der Bahamas alle Mitglieder eingeführt haben. Ähnlich der EU sind in der CSME die freie Arbeitsplatzwahl, der freie Kapital- und Güterfluss, eine Zollunion und eine gemeinsame Handelspolitik vereinbart. Fünf weitere Staaten haben Assoziierungsabkommen geschlossen und die Dominikanische Republik, Kolumbien, Mexiko, Puerto Rico, Venezuela sowie Aruba, Curaçao und Sint Maarten haben Beobachterstatus.
„Der alte Fuchs Fidel“
Seit etlichen Jahren schon, so stellen die politischen und wirtschaftlichen Winzlinge beruhigt fest, hat Kuba den Export von sozialistischen oder revolutionären Ideen aufgegeben. Die Kubaner, konzedieren sie erstaunt und bewundernd, haben ihre Wirtschaft in den letzten 25 Jahren in grossen Bereichen völlig umgebaut. Seit 1993 nahm die Umstrukturierung der Wirtschaft zunehmend Fahrt auf. Damals wurde der Besitz harter Devisen legalisiert, die Kubaner durften Bankkonten eröffnen, jüngere, marktwirtschaftlich orientierte Beamte stiegen in der Parteihierarchie auf.
Leitende Manager und hohe Beamte, die das Alter von 50 Jahren überschritten haben, müssen heute nach Ablauf von sechs Jahren auf einer Position ihren Posten einem jüngeren Nachfolger überlassen. „Das heisst, auf allen Gebieten ist eine Führung im Amt, die sich nur noch wenig um die Ideale und Ziele der Revolution von 1959 sorgt“ beobachtete der Jamaica Oberserver. „Durch diese Vorgehensweise konnten das Chaos und die Selbstzerstörung, die (in Russland) Glasnost und Perestroika folgten und in China die Entwicklung, die zu dem tragischen Tienanmen-Massaker führte, vermieden werden“, analysierte der Politikwissenschaftler Neville C. Duncan aus Barbados. Dem „alten Fuchs Fidel gelingt der politische Wandel, wobei er der Vater des Wandels bleibt.“
Kritik an den USA
Gleichzeitig beginnen die Zwerge den wirklichen Koloss im Norden, die USA, mit harscher Kritik zu piesacken und stellen Washingtons Demokratieverständnis in Frage. Die beiden besten und loyalsten Freunde der USA in der Region seien Honduras und Guatemala, „und das sind natürlich ‚Demokratien‘.“ Guatemala sei das Land, das „beharrlich die Souveränität von Belize bedroht. (Guatemala beansprucht Belize als Teil seines Territoriums, weshalb auf Wunsch der Regierung in Belmopan auch nach Erlangung der Unabhängigkeit von Grossbritannien, 1981, eine Ghurka-Einheit die Grenzen patrouilliert.) Mehr noch, es ist das Land, das systematisch seine Maya-Völker verfolgt.“ In vielen „sogenannten Demokratien Lateinamerikas leben Millionen ihrer indigenen Bevölkerung in erbärmlichem Elend, werden marginalisiert und wenn nötig den Interessen einheimischen oder ausländischen Kapitals geopfert.“ Mit all diesen Ländern pflegten die USA und auch die karibischen Staaten Handelsbeziehungen, nicht aber mit Kuba, lautet der Vorwurf.
Tatsächlich ignorieren zahlreiche ausländische Firmen seit Jahren schon das Helms-Burton-Gesetz. Über 500 ausländische Firmen sind in Kuba tätig, über 300 Joint Ventures mit ausländischem Kapital aus über 40 Ländern operieren auf der einstigen Zuckerinsel. Firmen aus Spanien, Kanada, Frankreich, Italien oder Mexiko sind dort präsent. Hunderte amerikanischer Firmen haben in Kuba bereits Abkommen für den Tag nach Aufhebung des Embargos abgeschlossen und beteiligen sich unter trickreicher Umgehung des Embargos an Investitionstätigkeiten. „Sollten die karibischen Staaten diese Front nicht anführen“, fragte der Jamaican Observer.
Furcht vor dem karibischen Riesen
Einerseits halten die meisten Caricom-Mitglieder die Aufnahme Kubas für überfällig und hoffen, dass Kuba als Katalysator für die Wirtschaftsentwicklung in der Karibik wirken könne, wobei auch die Dominikanische Republik sowie Panama mit einbezogen werden müssten.
Heute sind Haiti mit seinen zehn Millionen Einwohnern und Jamaica (drei Millionen Einwohner) die politischen Riesen der Gemeinschaft. Vor allem die englischsprachigen Zwerge der Kleinen Antillen sowie die Bahamas und Bermudas aber fürchten, dass sie mit der Aufnahme sowohl der bereits in Wartestellung harrenden Dominikanischen Republik (zehn Millionen Einwohner) als auch Kubas (elf Millionen Einwohner) in die Bedeutungslosigkeit sinken könnten. Einzig Trinidad könnte mit seinen Ölvorkommen noch mithalten.
Kreuzfahrtschiffe könnten in Zukunft nicht mehr Port-of-Spain, St. George’s oder Bridgetown anlaufen, sondern Havanna, Santiago oder die Isla de la Juventud. Vor allem aber könnte sich Kubas Attraktivität mit seinen hoch qualifizierten und billigen Arbeitskräften und dem weitaus grösseren Markt nachteilig auf die kleineren Inseln auswirken. Ausländische Investitionen auf Kuba könnten zu Lasten des Restes der Karibik gehen.
Caricoms Problem ist, dass all die befürchteten negativen Folgen für die Ökonomien seiner Mitglieder durch einen Beitritt Kubas wohl nur wenig beeinflusst werden. Kreuzfahrtschiffe werden unabhängig von Kubas Mitgliedschaft dort anlegen, und Kubas Märkte werden unabhängig von seiner Mitgliedschaft Investoren anlocken.
Nicht ernst genommen
Als die US-Regierung in den achtziger Jahren angesichts der linken Sandinistenregierung in Nicaragua und der Guerillakriege in El Salvador und Guatemala die Caribbean Basin Initiative formierte, die hauptsächlich der Unterstützung El Salvadors dienen sollte, fragte Barbados‘ Premierminister Errol Barrow sarkastisch: „Wie ist El Salvador in die Karibik gekommen?“
Nach der US-Invasion in Grenada 1983 und Ronald Reagans Versprechen grosszügiger Wirtschaftshilfe und massiver Investitionen flog die US-Regierung Scharen von Unternehmern auf die Muskatnussinsel. Ein Geschäftsmann kommentierte: „Ich denke, Grenada ist ein wichtiges Land für US-Interessen. Ich würde aber nicht hierherkommen, um Geld zu verlieren. So weit würde ich nicht gehen.“ Nachdem die Träume, die USA seien der Erlöser, geplatzt waren, wandte sich die Regierung in St- George’s wieder der regionalen Integration und den karibischen Nachbarn zu, die beim Aufbau einer Tourismusindustrie helfen sollten. Bis heute nimmt niemand die Interessen der karibischen Ministaaten tatsächlich ernst.
Darum ist den Führern der karibischen Nationen klar, dass sie sich in einer Welt grosser Handelsblöcke wie dem North American Free Trade Agreement (Nafta - Kanada, Mexiko, USA), dem Abkommen Costa Ricas, Guatemalas und Panamas mit der European Free Trade Association (Efta) oder der Lateinamerikanischen Integrationsassoziation enger zusammenschliessen müssen, um an Bedeutung und Gewicht zu gewinnen.
„Die Geschichte wird uns in diese Richtung lenken, ganz gleich wie kindisch wir den Auftrag der Geschichte auch ignorieren wollen“, sagte Michael Manley einmal, einer der Gründerväter von Caricom und zweimaliger Ministerpräsident Jamaicas (1972-1980, 1989-1992). Und dabei kann eine Mitgliedschaft Kubas nur von Nutzen sein.