Im Juli konnte das nationalkonservative Regierungslager noch triumphieren. Präsident Duda hatte die Wiederwahl geschafft, allerdings nur sehr knapp (Journal21, 13.7. 2020). Den Wahlen waren nicht nur heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Regierungslager und der Opposition vorausgegangen, sondern auch Konflikte innerhalb des Regierungslagers selbst. Einer der beiden kleinen Koalitionspartner, die Porozumienia (Verständigung), hatte der dominanten PiS (Recht und Gerechtigkeit) offen die Gefolgschaft verweigert und eine Verschiebung der Wahlen wegen der Pandemiekrise durchgesetzt (Journal21, 23.06. 2020).
Bisher hatte man Streitereien im Regierungsbündnis der Vereinigten Rechten unter dem Deckel gehalten und intern geregelt. Dabei hatte Jaroslaw Kaczynski, der Parteipräsident der PiS, weitgehend unangefochten die Führungsrolle ausgeübt. Das war auch notwendig, denn das Regierungsbündnis verfügt nur über ein knappe Mehrheit im 460 Sitze umfassenden Sejm, der ersten Parlamentskammer. Schert nur einer der zwei kleinen Koalitionspartner aus, hat die PiS ein Problem.
Zoff im Regierungslager
Am letzten Freitag stimmten nun die 9 Abgeordneten des zweiten kleinen Koalitionspartners Solidarna Polska (Solidarisches Polen) gegen eine Verschärfung des Tierschutzgesetzes. Auch die Parlamentarier der Porozumienia verweigerten bis auf eine Ausnahme ihre Zustimmung und enthielten sich der Stimme. Schlimmer, sogar 15 Abgeordnete der PiS stimmten gegen die Vorlage, darunter der Landwirtschaftsminister. Das kam für die PiS und vor allem für Kaczynski einer Provokation gleich.
Die Gesetzesänderung wurde nur mit Hilfe der liberalkonservativen und linken Opposition angenommen. Namhafte Politiker der PiS schlugen Alarm und sprachen vom Ende der Koalition. Alternative Szenarien wurden lanciert, von der Bildung einer Minderheitsregierung bis hin zu Neuwahlen. Den Abgeordneten der PiS, welche die Fraktionsdisziplin gebrochen hatten, wurde die Fraktionsmitgliedschaft ausgesetzt.
Warum die Situation so eskalierte, ist umstritten. Die Vorlage beinhaltete nämlich keine grossen Veränderungen. Hauptsächlich ging es darum, die kommerzielle Pelztierhaltung zu verbieten, die oft unter skandalösen Bedingungen stattfindet. Dazu wurde die Schächtung von Tieren – ausser für den rituellen Gebrauch im Inland – verboten und weitere kleinere Schutzmassnahmen angeordnet. Dass diese Massnahmen auf dem Lande einen grossen Popularitätsverlust auslösen würden, wie der Landwirtschaftsminister behauptete, ist allerdings nicht besonders wahrscheinlich.
Fehlkalkulation oder taktischer Schachzug
Hatte sich Tierfreund Kaczynski verrechnet und gemeint, er könne die Vorlage ohne grösseren offenen Widerstand doch noch durchdrücken? Oder suchte er als gewiefter Taktiker bewusst die Konfrontation, um im Nachhinein die Koalition wieder neu nach seinen Bedingungen aufzustellen oder notfalls tatsächlich zu beenden und eine Minderheitsregierung zu bilden oder sogar Neuwahlen anzupeilen?
Für die zweite Version spricht die Tatsache, dass die Koalitionsverhandlungen über eine neue Regierung und ihr Programm in letzter Zeit kaum vorankamen. Die Regierung sollte deutlich verkleinert werden. Die kleinen Koalitionspartner wollten aber keine Machtverluste hinnehmen. So kam es zu einem erbitterten Pokerspiel um Ministerposten und Einflusssphären.
Zudem hatte der Koalitionspartner Solidarisches Polen vor einigen Tagen angekündigt, einem von der PiS eingereichten Gesetzesentwurf die Zustimmung zu verweigern. Dabei ging es um eine Ausnahmeregelung für Aktivitäten von Regierungsmitgliedern und Beamten. Sie sollten straffrei ausgehen, wenn sie im Zusammenhang mit der Corona -Pandemie Massnahmen trafen, die zu deren Bekämpfung notwendig schienen, aber gegen geltende Gesetze und Vorschriften verstiessen. Damit sollte insbesondere Premierminister Tadeusz Morawiecki geschützt werden. Er hatte in der Anfangsphase der Pandemie gegen gesetzliche Auflagen verstossen. Nach Insiderinformationen erzürnte besonders diese Absage Kaczynski.
Nach einer Krisensitzung der wichtigsten PiS- Politiker am Freitagabend soll er denn auch dem Justizminister Zbigniew Ziobro, dem Chef der Partei, faktisch ein Ultimatum gestellt haben. Er müsse bis Montagmittag Zustimmung signalisieren, sonst werde die Koalition beendet. Der stramme Rechtspopulist Ziobro war öfters auch im Clinch mit Morawiecki und war Kaczynski wohl zu mächtig geworden.
Verhandlungspoker
Kurz nach Montagmittag gab Ziobro in einer Pressekonferenz bekannt, dass er die Regierungskoalition als Erfolg betrachte und weiterführen wolle. Er kündigte an, er sei bereit für Gespräche und eine Kompromisslösung. Danach begann die Sitzung der wichtigsten PiS-Politiker. Die Ergebnisse wurden aber nicht sofort bekannt gegeben. Kaczynski sollte sich zuerst noch mit Ziobro treffen und ihm die Bedingungen für eine weitere Zusammenarbeit bekanntgeben. Dann falle die Entscheidung, ob die Koalition weiterbestehen könne oder die PiS eine Minderheitsregierung bilde.
Bereits am Montagabend hat nach Medienberichten dieses Treffen der „letzten Chance“ stattgefunden. Neben der Zustimmung zu den umstrittenen Gesetzesvorlagen soll Kaczynski eine Loyalitätserklärung, klare Zusagen zu den Koalitionsverhandlungen und personelle Umbesetzungen im Justizministerium gefordert haben. Ziobro erhielt Bedenkzeit, nicht zuletzt um sich mit seiner Parteiführung abzusprechen.
Ob Ziobro schliesslich darauf eingehen wird, ist unsicher, aber eher wahrscheinlich. Denn bei einem Alleingang riskiert er seine politische Zukunft. Es muss sich dann allerdings zeigen, wie gut und vor allem wie lange eine mühsam gerettete Regierungskoalition funktionieren kann. Sollte es doch auf eine Minderheitsregierung hinauslaufen, sind deren Erfolgschancen aber noch um einiges geringer.
Unsichere Zukunftsaussichten
Neuwahlen sind in der aktuellen Situation allerdings auch keine attraktive Option. Polens Regierung ist mit der Corona Pandemiekrise und ihren wirtschaftlichen Folgen schon voll beschäftigt. Zwar ist das Land bisher glimpflich davon gekommen, aber die Aussichten sind wie in den meisten Europäischen Ländern alles andere als rosig. Am letzten Wochenende haben die Neuinfektionen mit über tausend bestätigten Fällen an einem Tag einen Höchststand erreicht. Das ist allerdings bei einer Bevölkerung von über 38 Millionen immer noch relativ wenig. Auch die Arbeitslosenrate ist bisher nur wenig angestiegen und beträgt gut 6 Prozent.
Neuwahlen wären aber für die PiS nicht nur wegen der Coronakrise riskant. In allen Umfragen belegte zwar bisher das Regierungslager mit grossem Abstand die Spitzenposition. Und zwei aktuelle Umfragen vom Wochenende zeigten, dass die PiS auch alleine deutlich in Front lag, mit 36 bzw. 40 Prozent Wählerstimmen. Sie konnte damit rechnen, ungefähr die Hälfte der Sejmsitze zu ergattern. Die kleinen Koalitionspartner hingegen erzielten nur gut je 1 Prozent der Stimmen, was praktisch ein sicheres Out bedeutete. Kaczynski ist zudem ein gebranntes Kind, was vorgezogene Wahlen betrifft. 2007 hatte er nach einem Krach mit seinen Koalitionspartnern den Ausweg über Neuwahlen gesucht und die Macht für acht Jahre verloren.
Auch die Oppositionsparteien dürften vorläufig kein grosses Interesse an Neuwahlen haben. Die Opposition konnte das Momentum nach den Präsidentschaftswahlen nicht nutzen. Rafal Trzaskowksi hatte im zweiten Wahlgang zwar deutlich mehr Wähler als erwartet mobilisieren können.
Seine Initiative, eine Bürgerbewegung „neue Solidarnosc“ ins Leben zu rufen, kam aber bisher kaum voran. Zu unklar waren Profil und Rolle dieser neuen Bewegung. Trzaskowski blieb weiterhin Vizepräsident der grössten Oppositionsgruppierung, der liberalkonservativen KO (Bürgerkoalition) und war als Stadtpräsident von Warschau mehr als genug beschäftigt. In den neusten Umfragen schnitt die KO relativ schlecht ab, mit 21 bzw 23 Prozent. Eine funktionsfähige Regierung unter ihrer Führung zu bilden wäre äusserst schwierig. Die restliche Opposition ist zu heterogen und reicht von links bis ganz rechts. Zukunftsprognosen zu machen ist schwierig. Nur eines scheint relativ sicher zu sein: Polen erwarten erneut unruhigere Zeiten.