Sollte sich der naheliegende Verdacht bestätigen, wonach russische Kräfte den Staudamm oberhalb von Cherson gesprengt haben, wäre dies ein eindeutiges Kriegsverbrechen.
Man mag darüber spotten, doch auch im Krieg ist nicht alles erlaubt. Es gibt klare, international anerkannte Verhaltensregeln, die auch Russland ratifiziert hat. Wer diese Regeln nicht einhält, begeht Kriegsverbrechen.
Festgeschrieben ist dieses Regelwerk in den vier Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen. Sie sind die Rechtsquellen für das allgemein gültige humanitäre Völkerrecht. Diese Konventionen sind von allen Ländern der Welt ratifiziert worden. Sie verpflichten alle 196 Unterzeichnerstaaten, das Abkommen «unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen». (4. Konvention, Artikel 1)
Kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden der Kriegführung
Das überarbeitete und ergänzte Vertragswerk wurde 1949 verabschiedet. 1977 kamen zwei wichtige Zusatzprotokolle dazu. Hauptziel ist es, die Zivilbevölkerung im Kriegsfall zu schützen und «die durch Krieg verursachten Leiden zu mildern». (4. Konvention, Artikel13).
Artikel 35 des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen lautet: «In einem bewaffneten Konflikt haben die am Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung.»
Zivile Ziele müssen geschont werden
Die wichtigste Forderung der Genfer Konventionen ist: Die kriegführenden Parteien müssen unterscheiden zwischen zivilen und militärischen Zielen. Ohne dass es so explizit gesagt wird: Militärische Ziele können im Krieg angegriffen werden, zivile Ziele müssen unter allen Umständen geschont werden. Dieser Grundgedanke zieht sich durch alle vier Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle.
Klar geregelt ist auch der Schutz von Staudämmen, Deichen und Kernkraftwerken, «sofern ein solcher Angriff schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann» (Teil IV des Zusatzprotokolls Artikel 56 des ersten Zusatzprotokolls).
Ein «eindeutiges Kriegsverbrechen»
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenksyj erklärte, die Zerstörung des Staudemms oberhalb von Cherson müsse «eindeutig als Kriegsverbrechen qualifiziert werden».
Auch der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, macht russische Kräfte für die Zerstörung verantwortlich. «Russland und seine Stellvertreter müssen zur Verantwortung gezogen werden», schrieb er auf Twitter.
18 Milliarden Kubikmeter Wasser
Der Kachowkaer Stausee am Unterlauf des Dnepr (Dnipro) hat eine Fläche von 2100 Quadratkilometern und fasst 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Dies entspricht etwa dem Grossen Salzsee im US-Bundesstaat Utah. Das Bauwerk ist 30 Meter hoch und 3,2 Kilometer lang.
Die Zerstörung des Staudamms hat zur Folge, dass Zehntausende Menschen von Überflutungen bedroht sind. Noch ist das Ausmass der Zerstörung unklar. Bereits sind gross angelegte Evakuierungen eingeleitet worden. Erschwert werden diese, weil viele Strassen weggeschwemmt wurden. Die Flut hat längst Cherson erreicht. Bilder in sozialen Medien zeigen, wie riesige Wassermassen aus dem Stausee strömen. Der Wasserstand des Dnepr ist nach Agenturberichten bereits um fünf Meter gestiegen. Inseln im Fluss wurden überschwemmt.
Cherson war die erste grosse Stadt, die die Russen nach ihrer Invasion im Februar 2022 erobert hatten. Im November wurden die russischen Streitkräfte von den Ukrainern aus der Stadt zurückgedrängt. Vor dem Krieg lebten in Cherson 300’000 Menschen.
Russland gibt der Ukraine die Schuld
Russland weist jede Schuld von sich und behauptet, eine ukrainische Rakete mit Mehrfachsprengköpfen habe den Damm zerstört. Der von Moskau eingesetzte Bürgermeister in Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, spricht von einem «schweren terroristischen Akt» der ukrainischen Seite. Das ukrainische Militär beschuldigt die russischen Streitkräfte, den Damm «in Panik» gesprengt zu haben.
Die Russen spielen die Gefahr hinunter. Andrej Alekseenko, ein von Russland eingesetzter Beamter in Cherson, sagt, die Situation an den Ufern des Dnepr sei «unter Kontrolle». Es bestehe keine Notwendigkeit zur Evakuierung.
«Kein nukleares Sicherheitsrisiko»
Der Stausee liefert auch Wasser für das flussaufwärts gelegene Kernkraftwerk Saporischschja, das unter russischer Kontrolle steht.
Eine Sprecherin des ukrainischen Südkommandos sagt, die Zerstörung des Staudamms werde «sicherlich» den Betrieb des Kernkraftwerks beeinträchtigen, aber es bestehe «keine Notwendigkeit, die Situation jetzt zu dramatisieren und kritischste Schlüsse zu ziehen». Die Situation sei unter Kontrolle.
Die Internationale Atomenergiebehörde betont, dass in der Anlage in Saporischschja «kein unmittelbares nukleares Sicherheitsrisiko» bestehe und ihre Experten «die Situation genau beobachten».
Die ukrainische Atomenergiebehörde Energoatom teilte mit, dass der Kühlteich des Atomkraftwerkes «voll» sei. Der Wasserstand betrage 16,6 Meter, was für den Bedarf des Kraftwerks ausreichend sei.
«Dies ist Ökozid»
Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums wurden Einheiten der ukrainischen Nationalpolizei und des staatlichen Rettungsdienstes der Region Cherson in Alarmbereitschaft versetzt. «Dies ist Ökozid», erklärte Andriy Yermak, der Leiter des Büros des ukrainischen Präsidenten.
Angesichts des steigenden Wasserspiegels forderten die Behörden alle Menschen in den Überschwemmungsgebieten auf, alle elektrischen Geräte auszuschalten, Dokumente und lebensnotwendige Dinge mitzunehmen, sich um Angehörige und Haustiere zu kümmern und den Anweisungen der Rettungskräfte und der Polizei Folge zu leisten.
Keine ukrainische Rakete
Nach Angaben internationaler Beobachter deutet alles darauf hin, dass russische Kräfte den Damm zerstört haben. Ukrainische Raketen seien erwiesenermassen in der Gegend zur Zeit der Zerstörung nicht abgefeuert worden, wie dies Russland behauptet. Die Ukraine hätte auch keinen Grund gehabt, Zehntausende seiner Bürgerinnen und Bürger der Gefahr einer Überschwemmung auszusetzen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Russen mit der Sprengung des Damms die erwarte ukrainische Grossoffensive stoppen oder hinauszögern wollen.
Falls sich die Vermutung bestätigt, dass Russland hinter der Zerstörung steht, wäre dies nach internationalem Recht eindeutig ein Kriegsverbrechen.
Der Staudamm ist kein militärisches Ziel
Artikel 48 des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen lautet: «Um Schonung und Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu gewährleisten, unterscheiden die am Konflikt beteiligten Parteien jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen; sie dürfen daher ihre Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten.» Der Staudamm oberhalb von Cherson ist definitiv kein militärisches Ziel.
Also: Angriffe auf Militärflughäfen, Kasernen oder Panzer wären erlaubt. Angriffe auf Zivilisten, die Bombardierung von Städten, Spitälern, Schulen und Wohnhäusern: nein.
Ausdrücklich verboten sind Angriffe auf Staudämme. Artikel 56 des ersten Zusatzprotokolls lautet:
«Anlagen oder Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, nämlich Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke, dürfen auch dann nicht angegriffen werden, wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann. Andere militärische Ziele, die sich an diesen Anlagen oder Einrichtungen oder in deren Nähe befinden, dürfen nicht angegriffen werden, wenn ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann.»
Es wäre nicht das erste Kriegsverbrechen, das die Russen in der Ukraine verüben.
Schon zu Beginn des Krieges im Februar letzten Jahres wüteten russische Kräfte. In Irpin, Butscha und anderswo wurden unbeteiligte Zivilisten gefoltert, vergewaltigt, getötet. In Mariupol wurde in den ersten Kriegstagen eine Geburtsklinik beschossen. Später dann wurde ein Theater, in dem mehrere hundert Zivilpersonen Schutz suchten, bombardiert.
Die Bombardierung von Städten gilt als schweres Kriegsverbrechen, da bei solchen Bombenangriffen nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden werden kann. Schon zu Beginn des Krieges erklärte der Bürgermeister von Mariupol, dass täglich «bis zu hundert Bomben» über der Stadt abgeworfen werden. Bei Flächenbombardements ist eine Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen nicht möglich.
Menschenrechtsorganisationen und die ukrainischen Behörden dokumentierten mehrere hundert eindeutige Kriegsverbrechen.