Die Schweizer Armee hätte Mitholz in der Gemeinde Kandergrund besser nie betreten. Vor allem nicht zwei Jahre nach Beginn des 2. Weltkrieges, um oberhalb des Dorfes in einem ausgehöhlten Felsen tonnenweise Munition zu lagern. Schlampig und die Bevölkerung mit der Behauptung beschwindelnd, es handle sich um Macaroni. Diese explodierten im Dezember 1947, töteten neun Menschen und richteten verheerende Gebäudeschäden an. Ein kriegsversehrtes Dorf.
Langer Weg zur Ehrlichkeit
Nur die Kavernen im Fels blieben soweit verschont, dass die strafrechtlich ungesühnten Verantwortlichen leicht der Versuchung erlagen, weiterhin Patronen, Granaten und Bomben zu deponieren. Für die Einheimischen unverändert Teigwaren.
Es dauerte achtzig Jahre, bis die Armee das extreme Risiko erkannte, es nicht mehr verschweigen konnte und sich zur Räumung des Munitionslagers entschliessen musste, Diese bedeutet für die Mitholzer Bevölkerung nach der Explosions- und der Belügungskatastrophe die dritte Katastrophe, nämlich jene der Evakuierung.
Wie in einem bewaffneten Konflikt
Die unglaubliche Geschichte ist wahr. Sie wäre der Anlass für einen zornigen Film. Gegen eine Armee, die im eigenen Land unter Vortäuschung falscher Tatsachen während dreier Generationen ein Dorf samt stark befahrener Strasse und Lötschberglinie mit einer Logistikbasis als Zeitbombe bedrohte. Die eben mal detonierte wie in einem bewaffneten Konflikt.
Für seinen Dokumentarfilm „Mitholz – Die explosive Hinterlassenschaft der Armee“ bewahrte Theo Stich als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent den kühlen Kopf und die ruhige Hand. Wir erleben mit unaufgeregt gesammeltem Archivmaterial die Chronologie der Ereignisse und sehen und hören in den Bild-Aufnahmen von Peter Guyer und den Ton-Aufnahmen von Balthasar Jucker die Einheimischen mit ihren Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen. Der von Vera Bommer gesprochene Kommentar vermittelt sachlich Hintergrundinformationen. Katharina Bhend besorgte die Montage.
Moderner Heimatfilm
Es sind achtzig berührende Minuten. Vordergründig über eine grandiose militärische Fehlleistung, über das Departement Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, das einschliesslich Bundesrätin Viola Amherd um Antworten auf ungewöhnliche Fragen des Bevölkerungsschutzes ringt, und über Direktbetroffene, die von den Fakten gefesselt ihr Schicksal kaum noch selber zu bestimmen vermögen.
Die Motive für die „Operation Mitholz“ hätte der Film etwas tiefer ausloten können. Ging das Sprengabenteuer mit dem Röhrenblick frei von Skrupeln vonstatten? Insistierte jemand oppositionell? Weshalb wurden die Bedenken verworfen?
Hintergründig handelt es sich um einen spannend komplexen und bohrend politischen Heimatfilm, der jedes Klischee und jede Idyllisierung vermeidet. Gerade deshalb wirkt die Empathie für Mitholz glaubwürdig.
Zwanzig Jahre als Ewigkeit
In der Gemeinde Kandergrund und mit ihr in Mitholz zwischen Thunersee und der Grenze zum Wallis ist die Heimat seit Menschengedenken bedroht. Es gilt, mit den Naturgefahren zu leben und Erdrutschen, Lawinen und Hochwasser wiederkehrend zu trotzen. Das Bleiberecht in der Heimat muss errungen und der Natur abgerungen werden. Stets gelang es.
Daraus zu schliessen, die Bevölkerung habe alle Vorprüfungen hinter sich gebracht, um auch gegen die Zeitbombe im Fels zu bestehen, wäre indessen voreilig. Zum ersten Mal fühlen sich die Menschen dem drohenden Unglück machtlos ausgeliefert. Denn die Rettung liegt jenseits der bewährten Kräfte und heisst, das Dorf ab 2025 für zwanzig Jahre verlassen zu müssen. Zuerst sind Schutzbauten zu errichten und hernach die Munitionsbestände zu entschärfen oder zu beseitigen. Das Explosionsrisiko ist eine realistische Annahme.
Zwanzig Jahre sind eine Ewigkeit. Da lässt sich nichts mit Provisorien überbrücken. Anderswo müssen Existenzen neu aufgebaut werden. Für die Älteren ist die Rückkehr bloss ein vergeblicher Traum. Der Zwang zur Evakuierung ist der Zwang, das Leben radikal, emotional bestimmt mit Verlusten und finanziell ergebnisoffen zu ändern. Ohne eigenes Verschulden. Die Mitholzerinnen und Mitholzer werden entwurzelt und zu Kriegsflüchtlingen im eigenen Land. Mit der Hoffnung, doch noch nicht mit der Garantie auf eine humane, auch individuellen Bedürfnissen gerecht werdende Flüchtlingspolitik.
Demokratische Kultur
Der vom Bundesrat verfügte, im besten Fall vorübergehende Verlust der Heimat wird für die Einheimischen zur intensiven Auseinandersetzung mit der Sinnstiftung der Heimat. Sie wächst aus der Vertrautheit mit den Häusern, Strassen, Nachbarn und mit dem Alltag, Das Gewohnte und die Erinnerungen binden und verbinden. Heimat als das Gegenteil des Spektakulären.
Es ist das Verdienst des sensibel realisierten Films, die militärisch verursachten Katastrophen zu überhöhen mit der Veranschaulichung dessen, was Menschen im Innern angesichts eines angekündigten Dramas bewegt und aufwühlt. Die ideelle Belastung wiegt schwerer als die materielle.
Wo der Volkszorn bewegen und zu Demonstrationen eskalieren könnte, bleiben die Einheimischen tapfer gefasst. Anstand im Umgang mit den Behörden zeichnet sie aus. Obwohl bitter ernst und einzigartig, bleibt der Konflikt zwischen Staat und Volk unter Kontrolle. Die beidseitige Bereitschaft, einander zuzuhören, arbeitet der Film als demokratische Kultur exemplarisch heraus.
„Mitholz – Die explosive Hinterlassenschaft der Armee“. Ja. Und überdies ein aufschlussreicher Film über die allmählich wachsende Fähigkeit, den Sprengstoff einer Altlast umzuwandeln in Energie für die Gestaltung der Zukunft. Der Film ist in diesem Prozess ein sorgfältig differenzierender Zwischenbericht.
Der Film läuft in den Kinos, mitholz-film.ch