Die Huthi haben sich als Machtfaktor im Mittleren Osten in Szene gesetzt. Sie streben in Jemen ein dem Iran ähnliches religiös-politisches Regime an. Doch trotz enger Bindungen hütet sich der Iran bisher, sich von den Huthis machtpolitisch instrumentalisieren zu lassen.
Der Angriff von Kampfflugzeugen der amerikanischen und britischen Luftwaffe auf Stützpunkte des jemenitischen Huthi-Regimes kam nicht überraschend, schon gar nicht für die Huthi selbst. Sie wussten Bescheid: Ihre Raketen- und Drohnenangriffe auf Handelsschiffe im Roten Meer würden über kurz oder lang eine massive Reaktion der USA und ihrer Verbündeten provozieren. Vielleicht waren die Angriffe sogar Teil eines Kalküls. Sie sollten einen Gegenschlag der USA provozieren, um die iranische Führung zur Aufgabe ihrer «defensiven» Haltung zu zwingen.
Augenzeugen bestätigten Explosionen im ganzen Jemen und berichteten von Angriffen auf mehr als 16 Ziele. Darunter befanden sich ein Militärstützpunkt in der Nähe des Flughafens von Sanaa, ein weiterer in der Nähe des Flughafens von Taizz, ein Marinestützpunkt der Huthi in der Hafenstadt Hodeida und mehrere Militärstützpunkte im Gouvernement Hajja. Ein Militärsprecher der Huthi berichtete von 73 einzelnen Angriffen auf Ziele im ganzen Land und sprach von fünf Toten und mehreren Verletzten unter den Huthi-Truppen.
Die Meldungen sind schwer zu verifizieren. Es scheint jedoch, dass die massiven amerikanisch-britischen Angriffe nicht nur ein Zeichen der Vergeltung sein, sondern auch die Basen der Huthi-Truppen für ihre Angriffe auf Handelsschiffe ausschalten sollten. Die Anführer der Huthi-Milizen brüsten sich hingegen damit, die vor der jemenitischen Küste operierenden Kriegsschiffe erfolgreich mit Gegenschlägen angegriffen zu haben. Sie betonen zudem, dass sie ihre Angriffe auf die Handelsschifffahrt fortsetzen werden.
Die Partisanen Gottes
Die Huthi sind zaiditische Nationalisten, die ihre religiöse Tradition des Zaidismus in den letzten 25 Jahren immer stärker an die khomeinistische Auslegung der Schia im Iran angeglichen haben. Namensgeber ist der Huthi-Familienverband, der seine Hausmacht im nordjemenitischen Saada hat. Sie streben die Wiederherstellung einer zaiditischen religiösen Ordnung an, die sie als Willen der jemenitischen Nation verstehen. Ähnlich wie im Khomeinismus sehen sie die religiöse Elite mit der Führung der Nation betraut. Die Huthis hatten sich zunächst als Fraktion innerhalb der 1990 gegründeten zaiditischen «Partei der Wahrheit» (hisb al-haqq) etabliert, machten sich 1997 aber unabhängig und gründeten eine militärische Schutztruppe, die 2004 gegen das Zentralregime unter der langjährigen Herrschaft des Diktators Ali Abdallah Salih zu den Waffen griff und sich seitdem «Huthi-Partisanen» oder «Partisanen Gottes» (Ansarullah) nennt.
Sie propagiert eine extreme Judenfeindlichkeit, hat seit 2012 zahlreiche Rituale und Praktiken der iranischen Staatsschia übernommen und errichtet seit der Eroberung Sanaas im Winter 2014/15 im Nordjemen eine eigenständige nationalistische Herrschaftsordnung in Form eines hochgerüsteten Parastaates. Die Exekutivgewalt liegt beim Obersten Politischen Rat. Präsident ist Mahdi al-Mashat, der auch als Präsident der «Republik Jemen» bezeichnet wird. Die tatsächliche Macht liegt bei Abdalmalik al-Huthi (geb. 1979), dem jüngeren Bruder des 2004 getöteten Führers Husain al-Huthi und Sohn des geistlichen Führers Badr al-Din al-Huthi (1928-2010).
Das Kalkül
Die Huthi hatten bereits mehrfach versucht, Iran durch gezielte Aktionen zu einem Eingreifen in den Jemenkrieg zu bewegen. So hatten Huthi-Verbände am 14. September 2019 mit Drohnen und Marschflugkörpern Ölanlagen des saudischen Ölkonzerns Saudi Aramco angegriffen, unter anderem die Ölaufbereitungsanlagen in Abkaik und Khurais. Die Weltöffentlichkeit war allgemein davon überzeugt, dass diese Angriffe nur unter direkter Beteiligung des Iran möglich gewesen wären. Militärische Reaktionen Saudi-Arabiens gegen den Iran wurden erwartet. Dies hätte dann unmittelbar einen iranischen Gegenschlag zur Folge gehabt. Saudi-Arabien beschränkte seine Gegenschläge jedoch auf massive Angriffe auf Huthi-Stellungen im Nordjemen. Die iranische Führung unter dem damaligen Präsidenten Ruhani liess umgehend verlauten, die Angriffe auf die Ölanlagen seien eine rein jemenitische Angelegenheit und nicht vom Iran orchestriert.
Die Rechnung der Huthi ging damals nicht auf. Und auch jetzt zeigt sich, dass sich die Huthi zwar der propagandistischen Unterstützung durch den Iran sicher sein können, eine direkte militärische Unterstützung aber höchst unwahrscheinlich ist.
Die Reaktion
Denn das Regime in Teheran hat andere Sorgen. Das Tauwetter zwischen Iran und Saudi-Arabien, das seit der chinesischen Charmeoffensive im Nahen Osten eingesetzt hatte und sogar ein gemeinsames Auftreten als Mitglieder der Interessengemeinschaft BRICS möglich machte, droht so schnell zu enden, wie es begonnen hatte.
Vor dem Angriff der amerikanischen und britischen Luftwaffe hatten Konsultationen zwischen den Aussenministern Irans und Saudi-Arabiens stattgefunden. Im Gegensatz zu Bahrain war Saudi-Arabien zumindest offiziell nicht in den Angriff involviert. Saudi-Arabiens vorrangiges Interesse besteht darin, die politische, wirtschaftliche und militärische Lage im Nahen Osten zu stabilisieren, um die ehrgeizigen Modernisierungsprogramme des Königreichs und seine strategische Ausrichtung auf eine sicherheitspolitische Hegemonie in der Region nicht weiter zu gefährden.
Die iranische Führung bekundet ihre Solidarität mit den Huthi, beschwört den Widerstand gegen die USA und Israel, beteuert aber, dass eine iranische Intervention ausschliesslich aufgrund iranischer Interessen erfolgen würde und nicht, weil iranische Proxies eine Intervention provoziert hätten. So verwundert es nicht, dass die Reaktion der iranischen Führung bislang eher zurückhaltend ausfällt. Schliesslich wartet Riad immer noch auf den Besuch des iranischen Präsidenten Raissi, und eine offene militärische Unterstützung der Huthi drohte die übergeordneten strategischen Ziele der iranischen Führung zu gefährden.
Das Dilemma der iranischen Führung besteht darin, dass sie einerseits die Hegemonie über den «Widerstand» nicht aufgeben, sich andererseits aber auch nicht von ihren Zöglingen im Libanon, Jemen oder Irak vorführen lassen will. Letzteres könnte über kurz oder lang die Glaubwürdigkeit Irans bei den Sympathisanten des Regimes massiv beschädigen. Die Frage wäre dann, wie der Iran diesen Vertrauensverlust kompensieren könnte. Sicherlich ist sich das Regime bewusst, dass eine militärische Eskalation den durch Repression erreichten inneren Frieden gefährden würde. Viel wird davon abhängen, ob Khamenei die Balance zwischen den erzkonservativen Nationalisten im Establishment und den militanten «Transnationalisten» in den Revolutionsgarden halten kann. Noch ist nicht absehbar, wann der Wendepunkt erreicht sein wird und wer sich dann durchsetzen wird.
Die Eskalation
Wenige Tage nach dem Angriff der Hamas und des Islamischen Dschihad auf den Süden Israels am 7. Oktober und der anschliessenden israelischen Offensive gegen Hamas-Stellungen im Gazastreifen erklärten die Huthi ihre Unterstützung für die Hamas und kündigten an, jedes Schiff mit Ziel Israel anzugreifen. Seitdem wurden wiederholt Schiffe auf offener See angegriffen. Im November wurde ein Frachter beschlagnahmt, der angeblich einem israelischen Reeder gehörte. Seitdem haben Huthi-Einheiten mehrere Handelsschiffe mit Drohnen und ballistischen Raketen angegriffen. Ende November und Anfang Dezember verstärkten sie ihre Angriffe. Grosse Reedereien stellten daraufhin den Schiffsverkehr in der Region praktisch ein. Die Versicherungskosten stiegen um das Zehnfache.
Eine Koinzidenz
Am 27. September, also knapp zwei Wochen vor dem Angriff der Hamas auf Israel, hatte der Huthi-Führer Abdalmalik al-Huthi verkündet, dass «die jemenitische Widerstandsbewegung Ansarallah» die 2016 eingesetzte Regierung der Nationalen Rettung in Sanaa abgesetzt und im Zuge eines «radikalen Wandels» gänzlich abgeschafft habe. In einer vom Nationalen Verteidigungsrat der Huthi (Ansarallah) veröffentlichten Erklärung wurde betont, dass eine Übergangsregierung die vom ehemaligen Premierminister Abdalaziz Bin Habtur geführte Exekutive ersetzt habe. Die Beamten der Übergangsregierung würden bis zur Bildung einer neuen Regierung im Amt bleiben.
Die Entscheidung sei eine persönliche Entscheidung von Abdalmalik al-Huthi gewesen. Er kündigte die Reform als ersten Schritt eines radikalen Wandels an, der die gesamte politische, rechtliche und administrative Ordnung betreffe, die noch auf einer Gesetzesgrundlage aus den 1990er Jahren beruhe. Die neue politische Ordnung solle sich an den Prinzipien der «nationalen Partnerschaft», der Konsultation, der Einheit des jemenitischen Volkes und dem Konzept der politischen Verantwortlichkeit orientieren.
Die jemenitische Presse hatte die Entscheidung der al-Huthi mit der Spekulation kommentiert, die Ansarallah, also die Huthi, würden versuchen, das republikanische System im Jemen abzuschaffen und durch eine «islamische Regierung» nach iranischem Vorbild zu ersetzen, die alle Macht in die Hände des Führers der Ansarallah legen würde.
Konsultationen
Zur Zeit des Angriffs von Hamas befand sich der Nordjemen also in einem politischen Umbruch, der, wenn er gelänge, eine ähnliche Tragweite haben könnte wie die Etablierung der Huthi-Herrschaft über Nordjemen im Winter 2014/15. Die plötzliche Auflösung der Heilsregierung erfolgt nur wenige Tage nach dem Besuch einer Delegation der Huthi in der saudischen Hauptstadt zu technischen Friedensgesprächen mit saudischen Behörden. Die Verhandlungen wurden als positiv beschrieben, und Ansarallah-Vertreter erklärten, dass Bedingungen, die das Königreich zuvor abgelehnt hätte, nun doch akzeptiert würden. Dazu gehören die Aufhebung der Blockade des Flughafens von Sanaa und des Hafens von Hodeida wie die Auszahlung der Gehälter im öffentlichen Dienst, die kurioserweise immer noch von Behörden bezahlt werden, die nun der im Präsidialen Führungsrat in Aden organisierten Exekutive der «Republik Jemen» unterstellt sind.
Saudi-Arabien hatte im Alleingang diese Verhandlungen mit den Huthi organisiert und durchgeführt. Weder der Präsidiale Führungsrat unter seinem Vorsitzenden Raschad al-Alimi noch der von den VAE gestützte «Übergangsrat des Südens» waren involviert. Ihr Protest gegen die Verhandlungen in Riad aber war eher verhalten, was darauf schliessen lässt, dass sie vorab informiert gewesen waren.
Der äussere Feind
Der Angriff der Hamas kam Abdalmalik al-Huthi sicherlich nicht ungelegen. Er ermöglichte es seinem Regime, grosse Teile der Bevölkerung gegen einen äusseren Feind zu mobilisieren und so die Folgen des politischen Umbruchs abzufedern. Denn angesichts der komplexen Herrschaftsorganisation im Jemen war sein Versuch, eine Art islamische Revolutionsordnung nach iranischem Vorbild zu schaffen und die «Huthi-Partisanen», also seine militärisch-politische Organisation, in eine Formation nach dem Vorbild der iranischen Revolutionsgarden umzuwandeln, ein enormes Wagnis. Doch nach fast zehn Jahren Herrschaft über Sanaa und Jahren eines wechselvollen Krieges gegen die Anti-Huthi-Koalition scheint al-Huthi den Entschluss gefasst zu haben, seine Herrschaftsordnung in der «jemenitischen Republik» im Norden zu stabilisieren. Dabei kam ihm die saudisch-iranische Annäherung nicht ungelegen. Eine weitere Eskalation des Konflikts mit den westlichen Schutzmächten des internationalen Seeverkehrs könnte die politische Transformation jedoch gefährden.