Das Projekt, das der Schweizer Fotograf Meinrad Schade über Jahre in verschiedenen Ländern verfolgt hat, hat etwas Archäologisches. Schade ist an die Orte gegangen, an denen der Krieg seine Spuren hinterlassen hat, ohne selbst noch unmittelbar präsent zu sein. In seinen Bildern ist der Krieg der grosse Abwesende, der aber alles in seinen Bann schlägt.
Überwältigende Traurigkeit
Wie leben die Menschen im Schatten des grossen Abwesenden? Schade fotografiert Kriegsopfer, Opfer der exzessiven Atombombenversuche in Semipalatinsk und er fotografiert verwundete Seelen - und "Helden" aus der Zeit, die nicht vergehen will. Aus den Bildern, die er im heutigen Russland und in einigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen hat, spricht eine überwältigende Traurigkeit.
Traurig sind nicht nur die Menschen. Schade fotografiert beschädigte Häuser und ganze Stadtviertel, verwüstete und entstellte Landschaften so, als wären sie Menschen in Trauer. Und über den Menschen, die darin auftauchen, liegt ein Schatten. Aber auch diese Menschen suchen nach dem Glück.
Auf der Suche nach Glück
Wie kann es Glück im Schatten des grossen Abwesenden geben? Kinder spielen, albern herum und gehen zur Schule. Es wird geheiratet. In Semipalatinsk posieren Hochzeitspaare vorzugsweise vor einem Denkmal für die Opfer der Atombombenversuche. Dabei lassen sie gerne zwei weisse Tauben aufsteigen, die sie mieten können und die von selbst wieder in ihre Schläge zurückfinden.
Aber es gibt noch eine ganz andere Art von Glück, und es war diese Besonderheit, die Meinrad Schade ursprünglich zu einem Projekt motiviert hat: der Besuch von Kriegsmuseen. In Wolgograd zum Beispiel gibt es ein Museum, das ganz dem „grossen vaterländischen Krieg“ gewidmet ist. Es ist ein Publikumsmagnet. Und es bietet gute Möglichkeiten, sich und seine Liebsten vor Panzern und anderen Kriegsutensilien zu fotografieren.
Überhaupt die Waffen. Sie üben eine magische Anziehungskraft aus. Immer wieder werden sie bestaunt, betastet. Schon in der Schule gibt es damit Übungen, an denen selbstverständlich auch die Mädchen teilnehmen. Ein Höhepunkt ist der Besuch eines militärischen Übungsplatzes, bei dem jeder mit scharfer Munition schiessen kann.
Aus westlicher Sicht ist es geradezu frappierend, wie militarisiert das Leben in Russland und in den angrenzenden mehr oder weniger abtrünnigen Republiken ist. Die Vorbereitung auf den nächsten Krieg gehört zum Schulstoff. Eines der markantesten Bilder Meinrad Schades zeigt eine Schülerin in Wolgograd (ehemals Stalingrad), die im staatlichen „Zentrum für ergänzende Ausbildung für Kinder“ starr wie eine Wachsfigur aufrecht mit einer Kalaschnikow steht. Das ist eine sehr wichtige Übung. Denn in ihr lernen die Schüler, „das Gewicht der Waffe“ zu erspüren. „Nach offiziellen Angaben fördere dies die patriotischen Qualitäten der Bürger Russlands“, heisst es in der Bildlegende.
Auf einem Bild sieht man, wie Jungen erste Bekanntschaft mit Scharfschützengewehren machen. Ihre Begeisterung ist unübersehbar, wobei sie nur zu bedauern scheinen, damit noch nicht gleich loslegen zu können. Der Krieg ist grösste Lust und tiefstes Verhängnis zugleich.
War & Peace Show
In der Ausstellung werden Bilder von der Waffenmesse „Eurosatory“ 2014 bei in Paris gezeigt. Dazu hat Schade Aufnahmen beigesteuert, die bei der „War & Peace Show“ 2009 in Beltring (England) entstanden sind. Was sind Waffen? In Paris sind sie Handelsgüter, die auf Messen in genau der gleichen Weise präsentiert werden wie Computer, Uhren oder Schmuck. In England sind sie darüber hinaus Spielzeuge, deren Reiz wohl gerade darin liegt, dass der Übergang von der Fantasie zum realen Töten fliessend ist und lediglich von den äusseren Umständen abhängt.
Zu der Ausstellung ist ein Begleitbuch im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen. Nadine Olonetzky hat das Buch konzipiert, lektoriert und hrausgegeben. In den Jahren, in denen Meinrad Schade gereist ist, dürfte dieses Buchprojekt im Hintergrund einen wichtigen Leitfaden gegeben haben. Ein Fotoprojekt, das sich über Jahre erstreckt, braucht einen solchen Rückhalt.
Bestechende Klarheit
Rein äusserlich besticht dieses Buch durch seine ungewöhnlich aufwendige Gestaltung. Die Bilder auf der Vorder- und Rückseite sind auf speziellem Glanzpapier gedruckt. Auch im Buchinneren hat man für die Bilder und Texte unterschiedliche Papiere verwendet. Einige Seiten lassen sich ausklappen.
Nadine Olonetzky hat den einleitenden Essay geschrieben: „Zwischen Krieg und Frieden“. Daniel Wechlin, ehemaliger Russland-Korrespondent der NZZ, und Michael Schischkin, mehrfach preisgekrönter russischer Autor von internationalem Rang, setzen sich mit dem mentalen, kulturellen und politischen Umfeld der Bilder auseinander. Diese Essays sind von bestechender Klarheit. Wenn man verstehen will, worin die Kluft zwischen dem westlichen Denken und Fühlen und der russischen oder slawischen Mentalität besteht, muss man diese Essays lesen. Durch sie werden die Bilder Meinrad Schades zusätzlich entschlüsselt. Man tritt in eine Realität ein, die in ihrer Schwere fast nicht zu ertragen ist.
Die Ausstellung unterscheidet sich in einigen Themen von dem begleitenden Buch, das sich ganz auf das Thema Osteuropa konzentriert und nur zwei Bilder mit russischen Ausstellern auf der „Eurosatory“ bei Paris bringt. Die Fotostiftung gibt der Messe und dem „Event“ in Beltring breiteren Raum Und sie zeigt auch Bilder Meinrad Schades aus Israel und Palästina.
Krieg und Sex
Es wird immer wieder gesagt, dass Bilder vom Krieg dazu dienten, künftige Kriege zu verhindern. Das ist eine durch und durch verlogene Deutung. Es ist die Lebenslüge der Kriegsfotografie. Denn die Bilder von Gewalt und Krieg bedienen die geheime Lust der Voyeure. Sie fördern eher die Gewalt, indem sie uns an sie gewöhnen. Susan Sontag hat das schon sehr früh festgestellt. Und in seinem abschliessenden Essay des Begleitbandes kommt der renommierte Fototheoretiker Fred Ritchin zu ganz ähnlichen Schlüssen. Als Beispiel für den Zynismus der Kriegsfotgrafie zitiert er den berühmten Fotografen Tim Page, der meinte, man könne dem „Krieg nicht seinen Glanz“ nehmen: „Das ist so, als wollte man dem Sex seinen Glanz nehmen. Krieg ist gut für dich.“
Meinrad Schade geht einen ganz anderen Weg. Er ersetzt, wie Ritchin schreibt, „das Akute“ durch „das Chronische“, „das Lebhafte und Bezwingende durch den Schmerz und die andauernde Leere der Abwesenheit“. Schade fotografiert die Trostlosigkeit der Vertriebenen in ihren Lagern, das Leben in halbzerstörten Städten und Gebäuden, das eher wie eine Parodie auf das Leben wirkt. Er beschreibt mit seiner Kamera, wie auch unter den Insignien der Trostlosigkeit wenigstens für Momente das Glück gesucht wird. Er stellt uns Mütter vor, die ihre schwerstbehinderten Kinder lebenslang pflegen – eine Folge der Versuche mit den Atombomben.
Aber Schade zeigt auch, dass die Menschen unter den Folgelasten der Kriege und Gewaltausbrüche nicht etwa die Waffen verabscheuen, sondern ganz im Gegenteil in ihnen etwas sehen, das ihnen Halt, Lust und Lebenssinn gibt. Und das ist es, was einem nach und nach die Kehle zuschnürt. Der Krieg ist immer schon da, auch wenn er gerade abwesend ist.
Meinrad Schade, Krieg ohne Krieg, Fotostiftung Winterthur, 7. März bis 17. Mai 2015
Begleitpublikation: Krieg ohne Krieg - Fotografien aus der ehemaligen Sowjetunion. Hg. von Nadine Olonetzky, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürch 2015, 270 Seiten, 163 Abb., im Shop Fotostiftung SFR 50.--, im Buchandel SFR 59.--