Vor zwei Wochen übergab der Botschafter Japans im indischen Aussenministerium eine diplomatische Protestnote. Was ist nun schon wieder, dachte der verdutzte Leser der Schlagzeile. Haben sich jetzt auch diese beiden entfernten Nachbarn zerstritten? Ihr einziger politischer Berührungspunkt liegt im Südchinesischen Meer, wo es um die flüssigen Grenzen der Meereshoheit geht. Aber dort ziehen Japan und Indien am gleichen Strick, zusammen mit Vietnam und den Philippinen, und wehren sich gegen Chinas Hoheitsansprüche.
Ein Punkt für Korea
Japan hat dort keine Gebietsansprüche, so wenig wie Indien, dafür weiter nördlich, und dort hat Indien dem Kaiserreich auf die Zehen getreten. Der ‚Survey of India’, diese etwas verstaubte Institution aus einer Zeit, als die englische Krone mit Kartenwerken noch Grossmachtpolitik betrieb, hatte in seinem neuesten Kartenblatt die ‚Sea of Japan’ als ‚East Sea’ bezeichnet.
Dies war dem japanischen Aussenministerium einen Protest wert. Denn besagte ‚Ostsee’ liegt eben nicht im Osten von Japan, sondern Koreas. Und irgendwie war es den Koreanern gelungen, den ‚Survey’ zu übertölpeln. Mit der Übernahme seiner Nomenklatur hatte Koreas Wortwahl im ostasiatischen Duell einen Punkt gewonnen.
Unkorrekte Karten
Einen lächerlichen Punkt, möchte man sagen. Aber einen, der zumindest in Indien gut verstanden wurde. Denn seit der Aufteilung des Landes vor 65 Jahren und fünf Grenzkriegen ist das Land ein geübter Kämpfer in der Kunst topografischer Spiegelfechterei. Vor kurzem erschien im ‚Economist’ ein langer ‚Special Report’ über das Land. Auf der zweiten Seite starrte den Leser ein grosser schwarzer Fleck an. Es war ein eingeklebtes Blatt Papier, das sich nicht ablösen liess. Ich ging zur Seite 1 zurück, und dort war ein kleiner Text eingefügt, betitelt: ‚Missing Map?’
„Sadly, India censors maps that show the current effective border, insisting instead that only its full territorial claims be shown. It is more intolerant on this issue than either China or Pakistan ... Unlike their government, we think Indian readers can face political reality“. Dafür brauchten sie nur ins Internet zu gehen. Denn natürlich waren nur die indischen Exemplare überklebt worden.
Fleissige Beamte mit Filzstiften
Ich hatte diese Variante eines politischen Eigentors schon öfters gesehen. In einer IO-Kolumne beschrieb ich einmal, was meinem Exemplar des ‚Cambridge Historical Atlas of South Asia’ widerfahren war: In zahllosen Karten hatte ein schwarzer Filzstift wüste Striche hineingepfuscht, und jemand hatte einen schmierigen Stempel draufgeknallt, des ungefähren Wortlauts: „The borders as depicted in this map are neither accurate nor true.“ Wie es sich für einen halb-alphabetisierten Beamten geziemte, erschienen Stempel und Sudelstriche auch auf den historischen Karten von Kaschmir, Jahrhunderte bevor dort überhaupt Grenzziehungen stattgefunden hatten.
Beide Beispiele, das indische wie das japanische, muten kleinlich an, vor allem in einer Zeit, in der sich jedermann über das Internet beliebig Karten herunterladen kann. Aber selbst die grossen elektronischen Kartografen wie Google und Apple haben sich mit ihren Kartenwerken die Finger verbrannt und ziehen es heute vor, die verschiedenen Varianten anzuzeigen, um nicht der politischen Parteinahme bezichtigt zu werden.
Verweigertes Einreisevisum
Im Fall Indiens zeigt die gereizte Reaktion aber auch, wie viel politischer Sprengstoff in diesen Grenzziehungen liegt. Dies gilt natürlich in erster Linie für Kaschmir, das in Indien und Pakistan liegt und von beiden zur Gänze beansprucht wird und über das sie vier Kriege ausgefochten haben. Aber es gilt auch für die Grenzziehung entlang der indisch-chinesischen Grenze.
Letztes Jahr protestierte Delhi im chinesischen Aussenministerium, weil ein Kartenwerk erschienen war, das den Gliedstaat Arunachal Pradesh im äussersten Nordosten und die Region von Ladakh im Nordwesten des Landes als Teil Chinas zeigte. China hatte damals noch nachgedoppelt und Mitgliedern der Regierung von Arunachal ein Einreisevisum verweigert, weil sie diesen Bundesstaat nicht anerkennen.
Die ‚McMahon-Linie’
Auch mit China hat Indien einen Grenzkrieg ausgefochten, dessen Ursprung in einer falschen Kartografierung liegt. Im Jahr 1914 diskutierten unter dem Vorsitz des britisch-indischen ‚Aussenministers’ Henry McMahon Vertreter Indiens, Tibets und Chinas über die Grenze zwischen den drei. Der Federstrich, der auf die kleine Karte gezogen wurde – er ging als McMahon-Linie in die Geschichtsbücher ein – war so dick, dass er rund zwanzig Kilometer Territorium abdeckte. Dazu kam, dass der chinesische Vertreter seine Unterschrift unter die Karte verweigerte; was die Briten nicht hinderte, die McMahon-Linie 1938 zur offiziellen Grenze zu erklären, ebenso wenig wie sich Indien scheute, sie 1947 als solche zu übernehmen.
Im November 1962 griffen chinesische Verbände überraschend die indischen Grenzposten im Nordosten an. In drei Wochen trieben sie die indischen Truppen vor sich her, bis hinunter zum Brahmaputra, genau der Grenze, die China für sich beanspruchte – das heutige Territorium von Arunachal Pradesh. Doch statt sich dort einzunisten, zogen sie sich ebenso schnell wieder hinter ihre Vorkriegspositionen zurück. Die Wasserscheide zwischen Tsang Po und Brahmaputra – dem gleichen Fluss, der in Tibet ostwärts fliesst und dann eine grosse Kehre macht und als Brahmaputra westwärts durch Assam strömt – wurde zur ‚Line of Actal Control’ (LAC). Sie bildet bis heute die effektive Grenze – ausser auf die chinesischen Karten.
Karten spielen statt Karten zeichnen
In diesen Tagen sind es fünfzig Jahre her seit diesen Ereignissen. Ebenso lange dauert nun das nationale Trauma darüber: Die Führungs- und Kampfschwäche der indischen Armee, Premierminister Jawaharlal Nehru, den die Niederlage von der Hand des vermeintlichen Blockfreien-Bruders bis zu seinem Lebensende überschattete – und dieses wohl auch beschleunigte. Aber vor allem war es die Angst vor dem chinesischen Drachen, der zuerst rücksichtslos Tibet annektierte (einen Akt, den Indien noch geschluckt hatte) und dann die Integrität der indischen Nation anzurühren wagte, eine Integrität, die sich eben erst von den Wunden der Teilung zu festigen begann.
Alle bisherigen Jubiläen hatten auf dieser Klaviatur gespielt – mit Ausnahme des jüngsten. Zum ersten Mal kamen historische Dokumente zu Wort, die zeigten, dass es nicht China war, das für den Kriegsausbruch verantwortlich war. Zwei Jahre davor hatte der damalige Aussenminister Tschu En Lai sieben Tage in Delhi verbracht, um Nehru zu Grenzverhandlungen zu bewegen - vergebens. Dieser beharrte auf einer Grenzlinie, die am Faden eines willkürlichen Federstrichs der britischen Kolonialmacht hing. Unmittelbar vor der chinesischen ‚Invasion’ war es dann Indien gewesen, das diese Linie noch weiter ausreizte. Es schob seine Grenzposten bis zum nördlichen Rand der drei Millimeter dicken Kartenlinie vor. Doch inzwischen haben beide Staaten dazugelernt. Sie haben Dutzende von Grenzverhandlungen durchgeführt und spielen Karten. Immer noch besser als Krieg.