In Maos Geburtsort Shaoshan in der Provinz Hunan ist mit der ganz grossen Kelle angerichtet worden. Über zwei Milliarden Yuan – umgerechnet rund 300 Millionen Franken – sind für verschiedene Erinnerungs-Projekte ausgegeben worden. Unter anderem wurde das Shaoshan-Mao-Museum, der dortige Mao-Platz oder Maos ehemaliges Wohnhaus zum 120. Geburtstag renoviert und herausgeputzt. Sowohl in Shaoshan als auch anderswo in China finden akademische Seminare, Gedenkfeiern, Kunstausstellungen, Sportveranstaltungen, Konzerte, Theateraufführubgen oder Postmarken-Ausgaben statt.
Ideologische Arbeit
Staats- und Parteichef Xi Jinping allerdings dämpfte die Festfreude, indem er im Zuge der Anti-Korruptions-Politik zu würdevoll aber bescheidenen Feiern aufrief. So ist in der Grossen Halle des Volkes neben dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen die Gedenkfeier weniger protzig ausgefallen als ursprünglich geplant. Nicht dass Genosse Xi etwas gegen Mao hätte. Im Gegenteil. Zhang Xixian, Professor an der Parteischule des Zentralkomitees, erklärt in der Parteizeitung „Global Times“ warum: „Die Zentralbehörden versuchen, das Mao-Zedong-Denken zu stärken, dies angesichts steigender sozialer Ungleichheit und der immer lauter werdenden Forderung der Öffentlichkeit nach einer sauberen, transparenten Regierung“. Parteichef Xi hat denn in der Tat schon vor Monaten die Wichtigkeit der ideologischen Arbeit unterstrichen. Zumal Parteimitglieder, aber auch Journalisten und Studenten müssen nolens volens wieder Marxismus-Leninismus-MaoZedong-Denken und Deng-Theorien büffeln. „Zum Gähnen“, wie einige mir bekannte chinesische Journaliste-Kollegen und Kolleginnen schulterzuckend – selbstverständlich anonym – erzählten.
Die Gedanken Maos, niedergelegt für die breiten Massen während der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966-76) im berühmten, zig-millionenfach verbreiteten Kleinen Roten Buch, bietet einfache, griffige Rezepte für schwierige Probleme. Das ist heute in der immer komplexer werdenden Wirtschaft und Gesellschaft Chinas nach 34 Reformjahren gefragter denn je. Für Partei-Supremo Xi, erst etwas mehr als ein Jahr an der Macht, ist die ganze Mao-Retro-Nostalgie ein gewagter ideologischer Hochseilakt. Gleichzeitig nämlich mit dem Rückgriff auf längst vergangene, in Partei und Volk nicht unumstrittene Zeiten, setzt sich Xi mit kühnen Reformschritten in Szene. Wirtschaft und Gesellschaft wollen Xi und seine Politbüro-Genossen in den kommenden zehn Jahren mit einem neue, umwelt- und sozialverträglichen Wachstumsmodell reformieren, ja revolutionieren und den „Chinesischen Traum“ verwirklichen. Doch als Gründervater des Modernen China kommt Mao als nationalistische, ideologische Klammer den Herrschenden gerade heute zupass.
Mao-Nostalgie
Politisch dunkle Ironie: das wegen Korruption und Amtsmissbrauch zu lebenslanger Haft verurteilte Politbüromitglied Bo Xilai hat genau das während seiner Amtszeit als Parteichef der 30-Millionen-Metropole Chongqing beispielshaft vorgeführt. Der Osten ist rot und Mao die aufgehende Sonne im Herzen aller Chinesen – so wurde vor Jahrzehnten Mao aber auch China in Liedern landauf, landab mit Inbrunst gepriesen . Mao-Chöre, Mao-Lieder, Mao-Restaurants, Mao-Memorabilia aller Art sind deshalb wieder Courant Normal. Selbst Opfer jener Zeit vergnügen sich, wie oft beobachtet, ganz selbstverständlich in Mao-Themen-Restaurants, Rote Lieder und revolutionäre Tänze eingeschlossen.
Vor allem die während der Mao-Zeit Zukurzgekommenen trauern den alten, „gerechten“ Zeiten nach. Aber auch für die junge Generation ohne Mao-Erfahrung ist Mao wieder attraktiv, zumal sie in der Schule wenig über die dunklen Zeiten jener Zeit erfahren haben und der Ansicht sind, das jene Zeit geprägt war von Gerechtigkeit, Gleichheit und einer beschieden lebeden Parteiführung. Noch heute warten täglich Tausende von Menschen auf dem Tiananmen-Platz in Peking, um das Mao-Mausoleum zu besuchen. Maos Porträt hängt selbstverständlich noch immer am Tor des Himmlischen Friedens. Maos Konterfei ziert seit fünfzehn Jahren sämtliche Yuan-Noten. Und die meisten Chinesinnen und Chinesen sind stolz auf all das. Denn Mao verkörpert Unabhängigkeit, nationale Würde und Wiederauferstehung nach 150 Jahren „Schmach und Erniedrigung durch Kolonialismus und Imperialismus“.
Revolution im Schweinekoben
Die Lebens-Brüchen hochrangiger Parteiführer von heute freilich zeigen, dass die Mao-Jahre dunkle Geheimnisse verbergen. Die Kulturrevolution wurde zwar parteioffiziell als „chaotisch“ eingestuft. Viele der Rehabilitierten jedoch waren 1980 nicht mehr am Leben oder gebrochen. Xi Jinpings Vater Xi Zhongxun z.B., später als Parteichef der Südprovinz Guangdong ein treuer Gefolgsmann von Reform-Übervater Deng Xiaoping, litt ebenso wie sein heute prominenter Sohn unter der Fuchtel der Grossen Proletarischen Kulturrevolution. Viele heutige Mitglieder des ZK wurden zu jener Zeit „hinuntergeschickt aufs Land“, wo sie bei Bauern im Schweinekoben Maos „permanente Revolution“ auswendig lernen mussten. Frei nach Georg Büchner also „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!!“. Mit dem Unterschied freilich, dass Mao immer in Palästen gewohnt hat. Selbst während des legendären, entbehrungsreichen Langen Marsches (1934-35) liess er sich wie ein Kaiser in Sänften tragen.
Das Vermächtnis
Das Vermächtnis Maos ist deshalb unter Historikern aber auch innerhalb Chinas umstritten
- Einerseits wird der Grosse Vorsitzende als effizienter Revolutionär, genialer Politiker, Visionär, Poet, Kalligraph, Militär-Stratege und sozialer, marxistischer Theoretiker, kurz als einer der wichtigsten Individuen der modernen Weltgeschichte gewürdigt. Ihm wird zugute gehalten, China industrialisiert und zu einer Grossmacht gemacht zu haben. Erst auf dieser Grundlage, behaupten noch heute Mao-Anhänger, seien auch die Reformen Deng Xiaopings in den 1980er-Jahren möglich geworden. Auf der positiven Seite steht auch die Verbesserung der Stellung der Frau, die erfolgreiche Alphabetisierungskampagne, das Erziehungs- und Gesundheitssystem und die Erhöhung der Lebenserwartung von 35 Jahren im Jahre der Gründung der Volksrepublik 1949 auf 62 Jahre zum Zeitzpunkt von Maos Tod.
- Andrerseits monieren Kritiker, dass während Maos Diktatur, gestützt auf einen in der Geschichte beispiellosen Personenkult, Folter, Zwangsarbeit, Exekutionen, Hunger an der Tagesordnung waren. Maos Utopie vom „Grossen Sprung nach Vorn“ (1958-61), mit dem die Industrienationen eingeholt und überholt werden sollten, endete in der grössten Hungersnot der Geschichte mit konservativ geschätzten 30 bis 35 Millionen Toten. Weitere Millionen von Toten, Gebrochenen und Gedemüdigten war das Resultat unzähliger Massenkampagnen in den 1950er-Jahren und während der Zeit der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966-76). Und Mao Zedong wusste, wie Dokumente zeigen, von allem. Er gebärdete sich wie sein grosses Vorbild Qin Shi Huangdi, der erste Kaiser des vereinigten China vor 2‘234 Jahren. Rücksichtslos. Mao brüstete sich gar, Qin noch übertroffen zu haben: „Er hat 460 Gelehrte lebendig begraben, wir aber haben 46‘000 Gelehrte lebendig begraben“.
- Maos Beitrag als marxistischer Theoretiker war wegweisend. In starkem Kontrast zur Sowjetunion erkannte der intellektuelle Bauernsohn aus der Provinz Hunan, dass nicht das städtische Proletariat sondern die Bauern die Avantgarde der Revolution sind. Mao exportierte nach Gründung der Volksrepublik die Permanente Revolution weltweit, insbesondere in der Dritten Welt. In Indonesien misslang das mit dem Resultat, dass eine Million Chinesen mitte der 1960-Jahre einem Progrom zum Opfer vielen. Anderswo versuchten Revolutionäre mit der Mao-Utopie die Verhältnisse von den Füssen auf den Kopf zu stellen. Mit grauenhaften Folgen. In Kambodscha wurde ein Viertel der Bevölkerung von den Roten Khmers ausradiert, In Peru hinterliess die Terror-Organistion „Leuchtender Pfad“ nach Maos Guerilla-Rezepten eine tödliche Spur. Und noch in diesem Jahrhundert klammerten sich Nepals Maoisten im 2006 beendeten Bürgerkrieg an ihr grosses Vorbild.
„Es war eine ganz schlimme Zeit“
Eine kritische Auseinandersetzung mit Chinas jüngster Geschichte steht jedenfalls noch aus. In Kunst und Literatur gibt es Ansätze. Offiziell hingegen ist eine parteiunabhängige Beschäftigung mit dem Thema tabu. Umso erstaunlicher die öffentliche Internet-Entschuldigung einiger Rotgardisten, unter anderem von ChenXiaolu kurz vor Maos Geburtstag. „Ich war nicht mutig genug, die unmenschlichen Verfolgungen zu stoppen, weil ich Angst hatte, als Konterrvolutionär angeklagt zu werden – es war eine ganz schlimme Zeit“. Chen Xiaolu ist nicht irgendwer, sondern der Sohn des langjährigen früheren Aussenminster Chen Yi. Vielleicht hat der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping ähnliche Erfahrungen gemacht.
Jahrhundert-Figur
Offiziell gibt es nur ein Verdikt über Mao. Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping taxierte anfangs der 1980er-Jahre Maos Erbe als zu 70 Prozent gut und zu 30 Prozent schlecht. Dabei ist es bis auf den heutigen Tag geblieben. In einem Blog auf dem chinesischen Twitter-Ersatz Sina Weibo schrieb kürzlich ein Blogger giftig: „Es müsste eher heissen: 30 Prozent gut für die Partei-Bonzen im ganzen Land und zu 70 Prozent schlecht für die Menschen“. Deng Xiaoping hatte eine längerfristige Perspektive. Einmal liess er durchblicken, dass erst in hundert oder mehr Jahren Maos Leistungen gerecht beurteilt werden könnten. Was unter Historikern in West und Ost unbestritten ist: Mao Zedong gehört zu den wenigen bedeutenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Vielleicht war er unter welthistorischer Sicht gar die herausragenste Figur. Sowohl im Negativen als auch im Positiven.