Da ist es wieder. Das seit Peer Steinbrück vergessen geglaubte Bild des forschen und angriffigen Deutschen, welches in der Schweiz zu Irritationen und Anti-Deutschen-Reflexen führt: Nachdem EU-Parlamentspräsident Martin Schulz noch in der Sonntagspresse vom letzten Wochenende mit eloquentem Charme die Schweiz mit reichlich Lob eindeckte, wandelte sich bereits einen Tag später die diplomatische Höflichkeit in rhetorische Gehässigkeiten. Man müsse in Ruhe abwarten und gut überlegen, wie man als Antwort auf den Abstimmungsausgang gegen die Schweiz losschlagen werde. Wohlgemerkt: „losschlagen“ und nicht etwa „verhandeln“ oder „diskutieren“, wie das unter zivilisierten Staaten eigentlich Gepflogenheit wäre.
Martialische Rhetorik statt differenzierte Kritik
Schulz befindet sich jedoch in guter Gesellschaft. Kaum ein EU-Funktionär von Rang und Namen, der sich nicht irgendwie bemüssigt fühlte, laut über Konsequenzen und Reaktionen gegen die Eidgenossenschaft nachzudenken – die Schweiz der Schurkenstaat Europas.
Was war geschehen? Das Schweizer Stimmvolk und somit der Souverän beschloss am vergangenem Sonntag in einer demokratischen Abstimmung, dass der freie Personenverkehr in Zukunft zu kontingentieren sei. Dies vor dem Hintergrund einer jährlichen Zuwanderung von rund 80.000 Personen und eines Anteils ausländischer Staatsangehöriger, der mittlerweile bei rund einem Viertel liegt und somit den zweihöchsten Wert innerhalb der Europäischen Union aufweist.
Es geht nicht darum, ob dieser Entscheid zur Begrenzung der Zuwanderung gut oder schlecht, weise oder unklug war. Und selbstverständlich dürfen die EU-Vertreter den Volksentscheid differenziert-kritisch kommentieren, und natürlich sind sie geradezu verpflichtet, auf die mit diesem Entscheid wahrscheinlich nicht gerade einfacher werdenden Beziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und der Europäischen Union hinzuweisen. Die martialische Rhetorik jedoch und das Auspacken des verbalen Zweihänders offenbaren neben mangelnder diplomatischer Contenance einmal mehr das sattsam bekannte defizitäre Demokratieverständnis und wirken zudem in höchstem Masse verzweifelt, scheinheilig und entlarvend.
20 Millionen Ausländer in Deutschland?
Erstens wirkt die Breitseite gegen die Schweiz verzweifelt, weil das Muster sowohl auf dem Schulhof als offenbar auch in der Politik immer das gleiche ist: Gelingt es nicht, mit Argumenten vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, wird eben zum Mittel der Diffamierung des Gegners gegriffen. Die naheliegendste aber auch die plumpeste Variante davon ist natürlich das Schwingen der Xenophobie-Keule. Die Schweiz habe einer Abschottungsinitiative zugestimmt und das Abstimmungsresultat sei Ausdruck einer meist latenten und jetzt auch mal akuten Fremdenfeindlichkeit. Das sind Aussagen, welche die eigentlichen Zuwanderungszahlen und den Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung gänzlich ignorieren.
Extrapoliert man die Schweizer Werte, so ergäbe dies für die Bundesrepublik Deutschland 20 Millionen ausländische Einwohner. In Tat und Wahrheit sind es jedoch gut 7 Millionen. Dies entspricht einem Ausländeranteil von 9 Prozent; in der gesamten EU liegt die Quote gar bei knapp 6.5 Prozent. Werte, welche fernab der rund 25 Prozent in der Schweiz liegen, und dennoch wird ohne Zögern der Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit erhoben.
EU-Skepsis als „Rechtspopulismus“
Die etwas subtil-raffiniertere und intellektueller angehauchte Variante der Xenophobie-Anschuldigung ist das Abdrängen in die rechtspopulistische Ecke. Um es vorweg zu nehmen: Rechtspopulismus existiert tatsächlich, wie auch linkspopulistische Strömungen auszumachen sind. Jedoch wird inzwischen jegliche Geisteshaltung, welche sich nicht mit dem Denken und den Vorstellungen der Europäischen Elite deckt, reflexartig als rechtspopulistisch abgetan.
Das geht so weit, dass promovierte Politologen – als Vertreter der Wissenschaft eigentlich um eine sachliche, objektive Diskussion bemüht sein sollend – in der Tagesschau der ARD unbescholten die Gleichung aufstellen dürfen, wonach Europaskepsis gleich Rechtspopulismus sei. Dass ebenso unwidersprochen, im gleichen Atemzug und in absoluter Verkennung von Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Wachstumsschwäche die Behauptung aufgestellt werden darf, der Euro sei eine Erfolgsgeschichte und den Ländern der EU gehe es besser als früher rundet das Bild der Verzweiflung ab. Die Hoffnung, dass sich Illusionen einzig kraft mantra-artiger Wiederholung von alleine erfüllen würden, stirbt offensichtlich zuletzt.
Wenn zwei das Gleiche tun…
Die offensive Rhetorik gegen die Schweizer Eidgenossenschaft überführt zweitens die Europäischen Funktionäre einer grossen Portion Scheinheiligkeit. Die Personenfreizügigkeit sei eine der vier Grundsäulen des europäischen Binnenmarktes und als solche nicht verhandelbar. Das ist eine legitime, ja sogar erfreuliche Auslegung: über Grundprinzipien diskutiert man nicht und wenn die Schweiz diese Prinzipien nicht anerkennen will, so muss sie eben kündigen. Stringent, konsequent und berechenbar.
Nur: Auch der freie Kapitalverkehr ist eine ebenso tragende Säule des Binnenmarktkonzeptes wie es die Personenfreizügigkeit ist. Doch seit der Zypern-Krise haben zum Teil die gleichen EU-Funktionäre, welche nun die Prinzipienfahne hochhalten, sehr rigiden Kapitalverkehrskontrollen zugestimmt. Begründet wurde dieser Schritt mit der hohen Virulenz und den existenziellen Gefahren für das gesamte Eurogefüge. Dass eine Mehrheit eines kleines Land mit einer Fläche von etwas mehr als 40.000 Quadratkilometern, von denen zudem ein grosser Teil unbewohnbares Gebirge darstellt, angesichts einer Wohnbevölkerung von 8 Millionen Menschen und einer nicht regulierbaren (Massen-) Einwanderung ebenfalls gewisse existenzielle Ängste verspüren kann, stösst bei Brüssels Politikern hingegen auf Unverständnis.
Und dass die Einführung der Kapitalverkehrskontrollen letztlich nur eines der nicht eingehaltenen Prinzipien und gebrochenen Versprechen ist, wird wohlweislich verschwiegen. No-Bail-out-Klausel, Bankeinlage-Garantieren, Defizitgrenzen, maximale Verschuldungsquoten – obwohl in vielen Fällen die hehren Versprechen und vertraglichen Abmachungen keinen Deut wert sind, übt man sich in fadenscheiniger Prinzipientreue gegen ein Nicht-Mitgliedsland.
(Teil 2 der Lageanalyse folgt)