Wunderkammern nannte man in Spätrenaissance und Barock Sammlungen von Kuriositäten und Raritäten. Basel besitzt eine aus Musik. Sie befindet sich in einer blassrosa-grau getünchten Villa hoch oben am Basler Rheinufer und birgt unvorstellbare Schätze von Musik-Autographen des 20. und 21. Jahrhunderts: Die Paul Sacher Stiftung. Sie wurde vom Kunstmäzen und Dirigenten Paul Sacher im April 1986 mit einer grossen Ausstellung des Kunstmuseums Basel, „Komponisten des 20. Jahrhunderts“, eröffnet.
Grundstein der Stiftung war der einige Jahre zuvor von Paul Sacher erworbene gesamte musikalische Nachlass von Igor Strawinsky gewesen, der 1984 ebenfalls im Kunstmuseum Basel dem Publikum zugänglich gemacht worden war. Seitdem sind geradezu ungeheure Schätze in die gepanzerten Tresore der Bibliothek gewandert, darunter die Nachlässe von Anton Webern, Frank Martin, György Ligeti, Edgar Varèse und Luciano Berio – um nur einige zu nennen.
Neu belebter Nachlass
Eine Veranstaltung kürzlich im Theater Basel war zugleich die Begründung einer Reihe, die auch weiterhin Schätze aus der Sacher-Stiftung zur Aufführung bringen wird. Den Anfang machte die von 1949 bis 1964 mit Luciano Berio verheiratet gewesene Sängerin, Performerin und Komponistin Cathy Berberian. Deren Nachlass ist seit 2015 ebenfalls in der Paul Sacher Stiftung aufbewahrt und birgt neben Noten und Briefen auch viele von ihr selbst entworfene Kostüme für ihre Auftritte.
Dieser unüblich sinnenhafte Nachlass inspirierte einige Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel, in Zusammenarbeit mit der Paul Sacher Stiftung und dem Theater Basel zu einem szenischen Konzert. Es erlaubt für einmal auch Nichtspezialisten den Einblick in die musikwissenschaftliche Geheimsphäre der Stiftung. Eine so schillernde Figur wie die armenisch-amerikanische Muse des Italieners Berio war hiefür natürlich hervorragend geeignet.
Primadonna der Avantgarde
Man nannte Cathy Berberian die Primadonna der Avantgarde, obwohl sie erst spät Gesangsunterricht genossen hatte. Ihr Ruf in Insiderkreisen und bei Liebhabern Neuer Musik war legendär, ja, er übersprang sogar die unsichtbare Grenze zum grösseren, nicht insiderisch geschulten Musikpublikum weltweit. Und das will in diesem Metier etwas heissen.
Cathy Berberian (1925–1983), ihres Zeichens eigentlich ausgebildete Tänzerin und Schauspielerin, erschuf sich als performende Sängerin ihren eigenen Kosmos in einer Art Gesamtkunstwerk – aber mit welch erstaunlichem Ergebnis! Ihre wandlungsfähige, virtuos über drei Oktaven geführte Stimme übte nicht nur auf Berio, sondern auch auf andere, heute ebenfalls in der Stiftung vertretene zeitgenössische Komponisten wie Igor Strawinsky, Bruno Maderna und John Cage grossen Reiz aus und regte zu vielen Kompositionen an. Aus ihrer eigenen Feder waren uns bis dato nur drei fertiggestellte Kompositionen bekannt. Berio selbst schrieb auch nach der Scheidung der ehemals so leidenschaftlichen Liebesehe alle Gesangspartien weiterhin nur Cathy auf den Leib.
Die eineinhalb Stunden des szenischen Konzerts im Basler Theater waren gekennzeichnet von einem Wechsel zwischen virtuos aufgeführter Musik und den von Angela Ida De Benedictis, Kuratorin der Paul Sacher Stiftung, erzählten biografischen Anekdoten. Die ungemein schwierige Aufgabe, eine Primadonna musikalisch wieder zum Leben zu erwecken, meisterte die junge deutsch-italienische Mezzosopranistin Sofia Pavone virtuos. Unterstützt wurde Pavone von elf Solisten des Sinfonieorchesters Basel unter der Leitung von Stephen Delaney.
Welt-Uraufführung nach 34 Jahren
Mit dem humorvoll mit Wechselszenerien spielenden Werk „Anatema con varie azioni“ von Cathy Berberian kam das Basler Publikum tatsächlich in den Genuss einer Welt-Uraufführung – 34 Jahre nach dem Tod der Komponistin! Ein kleines Juwel des Musiktheaters à la Mauricio Kagel.
Eine Fortsetzung der Aufführung von Preziosen aus der Wunderkammer ist auf April 2018 geplant. Dann will man sich dem sogenannten Vorlass (also der Materialsammlung noch Lebender) der bei uns kaum bekannten finnischen Komponistin Kaija Saariaho widmen. Sie schreibt geradezu hypnotische Werke und sagt von sich: „Musik ist meine Art, mich dem Göttlichen zu nähern.“
Darauf gilt es nun leider noch ein paar Monate zu warten.