Picasso überall: Die Fondation Beyeler zeigt in Riehen noch bis zum 26. Mai den jungen Picasso und vermeldet stolz Superlative: Die hochkarätigste Ausstellung, 4 Milliarden Versicherungssumme, bereits nach sechs Wochen 100’000 Besucher, das Kulturereignis des Jahres usw.
Das Kunstmuseum Basel geht andere Wege. Auch in „Kosmos Kubismus – Von Picasso bis Léger“ spielt Picasso eine Hauptrolle, doch es geht um mehr. Direktor Josef Helfenstein verzichtet, bescheidener als seine Kollegen in Riehen, auf Superlative, spricht aber doch von der „zentralen Bedeutung“ der eben eröffneten Ausstellung für das Basler Haus und nennt das Projekt ein „ambitiöses Unterfangen“.
Ambitiös ist es gewiss auch im Hinblick auf die Besucherinnen und Besucher und überdies abenteuerlich und fordernd: Statt auf eine einzige Künstlergrösse, eben auf Picasso, setzt das Kunstmuseum auf eine kunsthistorische Problemstellung. Das erweist sich denn doch als anspruchsvoller als die noch so illustre und hochstehend bestückte One-Man-Show.
Neues Konzept der Malerei
Die gemeinsam mit dem Centre Pompidou entwickelte, in Basel von Eva Reifert kuratierte und gegenüber der Pariser Fassung modifizierte Ausstellung fragt nach Entwicklungslinien, nach Beziehungen und Hintergründen. Sie zeigt auf, wie das Duo Picasso/Braque um 1907 eine Kunstrevolution einläutete und zu einem folgenreichen neuen Konzept der Malerei fand, die sich vom Abbilden der sichtbaren Wirklichkeit löst und nach einer neuen Rhythmisierung eines autonomen Bildraumes sucht.
Die chronologisch konzipierte Ausstellung führt denn auch weit über Picasso und Braque hinaus in eine erneuert Welt der bildenden Kunst. Sie lässt die Besucher diesen Weg in neun von instruktiven Saaltexten begleiteten Abteilungen abschreiten. Qualitativ hochstehende Werke aus den Sammlungen in Basel und Paris, ergänzt mit Leihgaben anderer Häuser (u. a. des Pariser Musée Picasso), insgesamt 130 Werke, laden ein, diese Phase der Kunstentwicklung zwischen 1907 und 1918 zu verfolgen.
Besser und breiter liesse sich der Kubismus wohl nicht dokumentieren. Basel selber hat Bedeutendes vorzuweisen, denn der Bankier, Kunstsammler und Corbusier-Freund der ersten Stunde, Raoul La Roche (1889–1965), schenke wesentliche Teile seiner Sammlung mit Schwerpunkt Kubismus dem Museum seiner Heimatstadt.
Zeit-Stimmung
„Der junge Picasso“ in der Fondation Beyeler führt bis an „Les demoiselles d’Avignon“ (1907) und damit an die Anfänge des Kubismus heran. „Kosmos Kubismus“ setzt hier ein und endet mit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Auch wenn die Koinzidenzen bekannt sind, lohnt es sich, wenigstens einiges in Erinnerung zu rufen.
Die ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts waren eine Zeit geistig-kultureller Verwerfungen, welche neben den politischen Gefügen auch alle Kunstgattungen erfassten. Dass Kandinskys Essay „Über das Geistige in der Kunst“ 1912 erschien und dass auch seine ersten abstrakten Malereien um 1912 entstanden, ist wohl kaum ein Zufall, auch wenn es keine Gemeinsamkeiten mit den neuen Bestrebungen im Paris jener Jahre gibt. Es ist auch kaum zufällig, dass Marcel Duchamp seinen epochalen „Akt, die Treppe heruntersteigend“ in diesem Jahr 1912 malte, auch wenn Duchamp mit seiner Absicht, den Bewegungsablauf Bild werden zu lassen, eher auf Futuristisches verweist als auf den Kubismus.
Der Beziehungslinien nicht genug: In den gleichen Jahren suchten in Wien Musiker wie Albert Schönberg und Josef Matthias Hauer nach neuen Koordinaten des tonalen Raums und fanden zur Atonalität. Schliesslich veränderte in jenen Jahren auch Albert Einsteins Relativitätstheorie das physikalische Weltbild, ähnlich wie Sigmund Freud mit seinen Entdeckungen das Bild der menschlichen Seele veränderte.
Stammeskunst und Cézanne
Öffnungen, Aufbrechen der geistigen Räume allenthalben: Direkte Beeinflussungen sind kaum präzise festzumachen. Eher geht es um Unterschwelliges und Atmosphärisches. Die Ausstellung in Basel bleibt bei Gesichertem und Konkretem und fragt zu Beginn nach direkten Quellen, welche die Kunst der beiden Protagonisten nährten. Pablo Picasso (1881–1973) und Georges Braque (1882–1963) erlebten beide in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die ihnen fremde Welt afrikanischer Stammeskunst, was zu ganz direkten Reaktionen im Schaffen beider Künstler führte. Ebenso erlebten 1907 beide in einer grossen Ausstellung in Paris die Werke des ein Jahr zuvor verstorbenen Paul Cézanne, dessen Maxime „die Natur mittels Zylinder, Kugel und Kegel zu behandeln“, die Geburt des jungen Kubismus beflügelte.
Stammeskunst und Cézanne hatten Folgen nicht nur, was die Organisation des Bildraumes und das Aufbrechen der geschlossenen Form betrifft; sie wirkten sich auch auf die konkrete Malweise aus: Gepflegte „Peinture“ war weniger gefragt, denn für die Künstler war es wichtiger, das Bild von konkreten Realitätsbezügen zu lösen und auf eine geistige Dimension hin zu öffnen, wofür auch der Einbezug von Buchstaben als Hinweise zum Beispiel auf Plakate und als Auslöser von Denkprozessen steht. Braque verliess das Umfeld der Fauves, Picasso nahm Abstand vom Narrativen, das seine Kunst der Blauen und der Rosa Periode, wie bei Beyeler gegenwärtig zu sehen ist, dominierte.
Protagonisten
Wie eng die Beziehung zwischen Braques und Picasso um 1912 war, wird in der Ausstellung schon dadurch deutlich, dass manche Werke auf den ersten Blick kaum einem der beiden Kubismus-Protagonisten zuzuweisen sind.
Das zeigt sich nicht nur in der formalen Bildorganisation, sondern auch in der Reduktion des Kolorits: Die Palette beider Künstler neigt zu zurückhaltenden Braun- und Grautönen.
Zugleich greifen beide auch spielerisch in ihre Kompositionen ein. Sie arbeiten mit Materialien, die bislang mit Malerei nichts zu tun hatten. Braque erfand die Technik der „Papiers collés“, die Picasso übernahm. Collagen, Assemblagen entstanden, und bald wuchsen die Spiele ins Dreidimensionale: Kleine Skulpturen aus Blech oder Papier waren die Folge.
Die Ausstellung „Kosmos Kubismus“ führt auch Fernand Léger (1881–1955) im Titel und zeigt auch manche Werke von Juan Gris (1887–1927).
Beide spielten, auch wenn sie als Kubisten der ersten Stunden gelten können, nicht die Rolle von Picasso oder Braque, doch auch in ihren Werken sind ähnliche Tendenzen auszumachen – ebenso in Werken mancher Künstler, die wohl nicht in der „Hof-Galerie“ der Kubisten bei Daniel-Henry Kahnweiler ausstellten, wohl aber an den Pariser Salons jener Jahre mit dem Kubismus nahestehenden Werken teilnahmen. Sonja und Robert Delaunay, Piet Mondrian oder Jacques Villon und Francis Picabia sind Beispiele.
Die Ausstellung wartet auch mit Belegen der literarischen Begleitung des neuen Stils auf. Da ist zum Beispiel Sonja Delaunays Aquarell-Leporello zu Cendrars‘ „Transsibirischer Eisenbahn“ zu begegnen, einer wahren Kostbarkeit, oder Picassos Portrait von Gertrude Stein (1906), die wichtige kubistische Werke ankaufte und in ihrem Salon die revolutionäre künstlerische Entwicklung literarisch begleitete.
Das Nachleben des Kubismus
Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges verschwindet der Kubismus nicht, doch er splittert sich auf, da die homogene Pariser Kunst-Szene nicht überlebt. Manche Künstler mussten an die Front – auch Georges Braque, der 1915 am Kopf schwer verletzt wurde. Nach einer langen Erholungszeit kehrte er 1917 zurück und geriet in eine schwere psychische und physische Krise. Dem Kubismus wandte er sich nicht wieder zu und ging, bald als Grandseigneur mit Sinn für Ausgewogenheit und Klassik, eigene Wege. Picasso, der als Spanier nicht eingezogen wurde, widmete sich wieder dem Narrativen und bald auch seinen neuen, mitunter wild ausgreifenden Experimenten. Spuren kubistischer Errungenschaften blieben in seinem Schaffen aber auch später sichtbar – bis hin zu „Guernica“ (1937).
Dem Nachleben des Kubismus in der europäischen Kunst widmet der informative und stattliche Katalog ein eigenes Kapitel. Die Basler Ausstellung behandelt, im Gegensatz zur Pariser Version, das Thema nicht. Es verdiente eine eigene und wiederum in Vorbereitung und Vermittlung höchst anspruchsvolle Ausstellung.
Kunstmuseum Basel. Bis 4. August.
Katalog, Hirmer-Verlag, 320 Seiten, ca. 60 Franken.