Die arabischen Umwälzungen, die sich im vergangenen Jahr abspielten und jene, die sich immer noch abspielen, sind alle einem Fehler anheim gefallen. Der Glaube herrschte, wenn einmal das bisherige allmächtige Oberhaupt des alten Regimes abgesetzt sei, wäre die Revolution gewonnen.
Der Fehler ist leicht zu erklären. Der Einmannherrscher verkörperte das Regime. Sein Bild hing in jeder Amtsstube. Alle unteren Instanzen beriefen sich auf ihn. Sie wetteiferten darum, seinen Wünschen zuvorzukommen und ihm als dem unentbehrlichen Vater das Vaterlandes wortreich zu huldigen.
Das politische Erbe einer langjährigen Diktatur
Es schien glaubhaft, wenn Er einmal weg sei, werde ein Neubeginn möglich. Doch nach dem Sturz der Tyrannen in Tunis, in Kairo, in Tripolis und nach ihrer Diskreditierung in Jemen und in Syrien wurde erst deutlich, dass es der Kopf allein eben doch nicht gewesen war. Er hatte einen Leib besessen in der Form von Verwandten und Mitarbeitern, Mit-Interessierten, Leibwächtern und Sicherheitsleuten, die unter ihm privilegierte Stellungen einnahmen. Was bedeutete, dass sie besser zu leben vermochten als ihre nichtprivilegierten Mitbürger und Untertanen.
Stark und schwach Privilegierte
Wenn man sich die ganze Machtkonstruktion - natürlich sehr vereinfachend - als eine Pyramide vorstellt, muss man berücksichtigen, dass diese Pyramide in ihren unteren Teilen flach ausläuft.
Es gab breite untere Schichten mit bloss geringen Privilegien, die aber doch soweit Vorteile waren, dass sie den Begünstigten und ihren Familien eine gehobene Mittelstandsexistenz (Villa oder moderne Stadtwohnung und Hausbedienung) erlaubten. Oft gingen in diesen unteren Rängen auf den Machtapparat des Staates abgestützte Privilegpositionen und eigene Leistungen so nahtlos ineinander über, dass viele der Betroffenen fest überzeugt waren, sie verdankten ihre Position ihren eigenen Leistungen, nicht irgendwelchen Verbindungen zur Staatsmacht. Aber diese bestanden doch, schon weil ohne sie Aufstieg und Privilegerhaltung auf die Dauer kaum möglich war.
Wächst der Kopf nach?
Die politischen Körper ohne Kopf bleiben zurück, wenn der Kopf entfernt wird. Sie streben fast automatisch danach, wieder ein Haupt zu finden, das ihnen erlaubt, weiter zu existieren. Es muss nicht notwendigerweise ein einziges Haupt werden. Denkbar ist für die bisher Privilegierten auch eine vielköpfige pluralistische Struktur.
Doch für sie ist wesentlich, dass diese Struktur eine pyramidale Form bewahrt, etwa ein Berg mit mehreren zackigen Gipfeln, an dessen unteren Hängen und Vorhügeln sie ihren "gehobenen" (und damit auch privilegierten) Standort finden. Die Ebenen, in denen ein solcher Berg steht, dies ist leider gegeben, sind unübersehbar weit ausgedehnte Sümpfe der Armut. Niemand, dem es gelungen ist, auch nur auf minimal erhöhten Positionen über ihnen zu leben, will in sie absinken.
Verteidiger des alten Regimes suchen Aufgaben
Je nach Land sind die Körper, deren Haupt entfernt wurde, etwas anders geartet. Doch überall gehörte wesentlich zu ihnen eine Legion von "Regimeschützern" in der Form von Polizisten und Sicherheitsbeamten aller Arten und Kategorien und von Offizieren mit den ihrer Macht unterstellten Soldaten. Überall gab es auch die wirtschaftlich privilegierten Geschäftsleute "des Regimes", manche von ihnen Angehörige der Familie des Staatschefs. Beinahe alle sind schwerreich, weil sie über Jahrzehnte privilegierte Stellungen ausnützen konnten, um Geld zu machen.
Im Fall dieser Leute gibt es stets Korruptionsvorwürfe, weil ihre Stellung ihnen erlaubte, gesetzliche Vorschriften, die für die Anderen galten, zu umgehen oder zu beugen.
Erneut eine Steilpyramide?
All diesen an den oberen Hängen der Machtpyramide angesiedelten und verwurzelten Leuten, liegt daran, womöglich wieder eine steile Machtpyramide aufzurichten, in der sie hoffen können, sich erneut in den oberen Rängen festzusetzen. Auch jene, die das Regime bisher unterstützt haben, benötigen ein "steiles" Regime. Nur so können sie Posten und Einfluss behalten.
Wer baut den neuen Staat?
Es sind diese Kräfte, die zur Wirkung kommen, sobald ein neues staatliches Gebäude wieder hergestellt werden muss, Ein solches wieder aufzurichten, ist die Hauptaufgabe der "post-revolutionären" Regime. "Post-revolutionär", falls man die Absetzung des bisherigen Oberhauptes als "Revolution" anerkennen will.
Der Kampf zwischen "Revolutionären" und "Privilegierten" dreht sich nun darum, wie der neue Staat aussehen soll. Die Revolutionäre wissen es nicht so genau. "Jedenfalls anders!" genügt vielen als Antwort. Andere haben präzisere Vorstellungen, doch diese sind widersprüchlich. Sie beginnen untereinander zu streiten, wessen Ideen sich durchsetzen sollen. Soll dieser neue Staat "islamisch" werden, oder "liberal" oder "sozialistisch"?
Die bisher Privilegierten wissen genauer, was sie anstreben: ein Machtgebäude, das ihnen erlaubt, ihre erhöhte Position beizubehalten.Wobei es allerdings auch Nuancen gibt. Je weiter unten im bisherigen Machtgefüge eine Person oder Familie angesiedelt war, desto eher ist sie für einen Umbau der gesamten Pyramide zu gewinnen. Solange nur einige Höhenunterschiede verbleiben... Je weiter oben sie sind, je näher sie an der Macht angesiedelt waren, desto mehr streben sie eine Wiederherstellung der alten Strukturen an.
Jeder Staat hatte seine eigenen Machtschützer
Hier liegen die Unterschiede von Staat zu Staat. In Tunesien - unter Ben Ali ein Polizeistaat in Reinkultur - gehörte nur die Polizei, nicht die Armee, zu den Staatsschützern, also Hochprivilegierten. Weshalb die Armee sich entschieden der Opposition des Volkes zuwandte und den Machthaber ziemlich reibungslos entfernte. Widerstand, der sich als vergeblich erweisen sollte, leistete einzig vorübergehend die Polizei. Doch nun steht der Staat vor der Notwendigkeit, gegen den Widerstand und die Sabotageversuche der bisher allmächtigen Polizei eine neue Polizei aufzubauen, die seinen neuen - erst in Entwürfen vorhandenen - Strukturen loyal sein soll.
Ägypten, die Armee an der Macht
In Ägypten gehörte die Armee seit 60 Jahren überragend zu den staatstragenden Kräften, genauer den Staatsschützern. Damit gehören ihre Offiziere zu den Hochprivilegierten. Sie sah sich gezwungen, auf die Wut der Volksmassen zu reagieren, weil ihre Soldaten auch zum Volke gehörten. Angesichts der Gefahr eines Zerreissens der Armeeloyalitäten ergriff die Armeeführung selbst die Macht und setzte den bisherigen Machthaber ab. Sie sah sich allerdings auch gezwungen, ihre Machtergreifung als provisorisch zu bezeichnen und einen baldigen Übergang zu einem "demokratischen" Regime zu versprechen.
Ziel: Sicherung der Privilegien
Dies geschah vor einem guten Jahr, am 11. Januar 2011. Seither ist die Armeeführung zunehmend damit beschäftigt, ihre bisherigen Privilegien abzusichern. Das heisst, sie versucht ein neues Regime aufzubauen, das ihre Position, nah an der Spitze der Macht als deren Hauptschützer bewahrt und sie dementsprechend entlohnt respektive privilegiert. Solch ein Regime müsste wieder eine steile Pyramidenform annehmen. Dazu gehörte ein machtvoller Präsident, gewillt lange Zeit an seiner Macht festzuhalten und daher auch darauf darauf bedacht, sich Parteien und Parlament unterzuordnen.
Der demokratische Gegenentwurf
Mir Recht sagen die Revolutionsgruppen, die den Volksaufstand ins Rollen gebracht und getragen hatten: "Dann hat sich nichts geändert. In diesem Fall wäre die ganze Revolution vergebens!"
Ihr Zukunftsbild wäre das einer flachen Pyramide, die um flach zu bleiben, ihren Präsidenten und ihr Führungspersonal auf Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung auswechseln und periodisch neu einstellen sollte. Dieser Plan impliziert auch eine auf die Landesverteidigung reduzierte Rolle der Streitkräfte, mit einem dementsprechendem Abbau der bisherigen Privilegien ihrer Offiziere.
Das neugewählte ägyptische Parlament ist daher unvermeidlich der Gegenspieler der Armeeoffiziere, obwohl nur eine sehr kleine Vertretung der Revolutionsgruppen Einlass in die Volksvertretung gefunden hat.
Die Gefahr zerstrittener Parlamentarier
Die Armeeoffiziere können nur hoffen, ihre Ziele gegenüber dem Parlament zu fördern, wenn sich dieses so sehr streitet, dass es weitgehend handlungsunfähig wird. Dann besteht eine Möglichkeit für sie, einen "starken Mann" als "Rettungspräsidenten" zu fördern, zu schützen und an der Macht zu erhalten. Er wäre gezwungen, sich ihnen gegenüber erkenntlich zu zeigen.
Islamisten gegen Säkularisten
Die Hauptspaltung im ägyptischen Parlament, wie im tunesischen, liegt klar zu Tage. Sie trennt die "islamischen" Politiker von den "säkularen". Doch die "islamische" Mehrheit ist ihrerseits unterteilt in Muslimbrüder und Salafisten. Die "säkularen" Kräfte bilden einen Regenbogen von liberalen über nationalistische und sozialistische bis zu den kommunistischen Gruppen.
Ob dieses Parlament in Ägypten gegen die Offizere, die heute noch als "Souverän" an der Macht sind, zusammenhalten kann, oder ob diese es fertig bringen, das Parlament zu spalten und die unterschiedlichen Gruppen gegeneinander auszuspielen, ist nun eine der Hauptfragen für die Zukunft.
Ein Präsident der Armee oder des Volkes?
Ob der noch zu wählende Präsident Ägyptens (dessen Vollmachten noch nicht festgelegt sind, weil eine Verfassung erst noch geschrieben werden soll) bereit wäre, mit den Offizieren gegen das Parlament zu spielen, oder umgekehrt mit dem Parlament gegen die Offiziere, wird von grosser Wichtigkeit sein. Darüber werden die bevorstehenden Präsidentenwahlen zum mindesten einen Vorentscheid fällen.
Libyen in der Hand der Milizen
Im Gegensatz zu Ägypten gibt es in Libyen keine Armee mehr. Soweit es sie gab, haben die Nato Flugzeuge den Aufständischen gegen Ghadhafi geholfen, sie zu zerschlagen. Doch nun gibt es verschiedene Gruppen von bewaffneten Libyern, die untereinander darum ringen, welche von ihnen und welche der lokalen Gemeinschaften, aus denen sie stammen, die Vormacht vor den anderen erhalten soll. Vormacht bedeutet auch Kontrolle über das Erdölgeld.
Es gibt daneben auch eine Art von Regierung, die bemüht ist, all diese Gruppen entweder zu entwaffnen oder in die neu zu gründende Armee einzubeziehen. Bisher nur mit geringem Erfolg, weil die Bewaffneten wissen, dass es um ihre Macht geschehen ist, wenn sie ihre Waffen abliefern. Ihr Spiel zielt darauf ab, Macht zu erwerben und sicherzustellen, bevor sie ihre Waffen abgeben. Wenn einmal gewählt werden wird (geplant ist dies schon diesen Sommer), wird dies möglicherweise die Macht der Regierung stärken.
Jemen, zwei bewaffnete Lager
In Syrien und in Jemen hat sich die Armee gespalten, jedoch in unterschiedlicher Art. In Jemen verläuft die Spaltung vertikal zwischen Einheiten, die den inzwischen zurückgetretenen Staatschef und die Interessen seiner Familie verteidigen, und solchen, die sich gegen ihn und die von seinem Familienmitgliedern angeführten Elitearmeeinheiten gestellt haben.
Bewaffnete Stämme stehen auf beiden Seiten, und Parlament und Regierung sind ebenfalls aus Vertreten der beiden Hauptkräfte fast paritär zusammengesetzt. Diese Hauptspaltung marginalisiert die unbewaffneten Massen der Protestierenden, die viel Sympathie geniessen, aber über wenig "harte" Mittel verfügen, um sich gegen die bewaffneten Armee-Gruppen und gegen die Stammesanführer mit ihren bewaffneten Gefolgsleuten durchzusetzen.
Syrien, Armee gegen Überläufer
In Syrien bröckelt die Armee horizontal ab, die sunnitischen Soldaten versuchen in vielen Fällen überzulaufen und mit den Volksdemonstrationen gemeinsame Sache zu machen. Die alawitischen Armee-und Sicherheitsoffiziere gehen mit allen Mitteln darauf aus, die Streitkräfte unter ihrer Kontrolle zu halten. Päsident Bashar al-Asad findet noch als Galionsfigur Verwendung, in der Realität ist er machtlos seinen Sicherheitskräften ausgeliefert, die tun, was sie wollen, um ihre Macht zu erhalten.
Sie suchen die Deserteure aus "ihrer" Armee zu erschiessen. Die Staatspropaganda nennt dies, "Kampf gegen bewaffnete Banden", und die gewaltlose Natur der ursprünglichen Massenproteste droht in diesem Kampf unterzugehen.
Siegreiche Kämpfer bringen schwerlich Demokratie
In beiden Staaten, Jemen und Syrien, gilt: je länger der Kampf um die Macht andauert und je mehr er zu einem inneren Krieg wird, desto schwieriger wird es werden, den ohnehin keineswegs einfachen Übergang zu einem demokratischen Regime zu meistern, wenn der Krieg einmal zu Ende geht.
Der Übergang müsste Mitsprache der Bürger und Machtwechsel durch Wahlen sicher stellen. Der Kampf mit militärischen Mitteln schafft jedoch Kommandostrukturen, und jene Kommandostruktur, die sich durchsetzen wird, dürfte unvermeidlich versuchen, ihre militärisch errungene Macht politisch festzuschreiben.
Wenn sich keine durchsetzt, besteht theoretisch die Möglichkeit von Kompromissen zu Gunsten von Volksentscheiden. Doch Voraussetzung für eine solche Entwicklung wäre die Erkenntnis der Kampfparteien, dass keine von ihnen zu siegen vermag. Oder mindestens, dass auch ein Sieg der eigenen Partei ihr selbst und dem gesamten Land zu teuer zu stehen käme.
Wird eine dritte Macht unentbehrlich?
In der Praxis würde es aller Erfahrung nach eine überlegene Besetzungsmacht brauchen, die den kämpfenden Gruppen Entwaffnung und Versöhnung aufzwingt. Der libanesische Bürgerkrieg ist 1990, nach 15 Jahren und ungezählten fehlgeschlagenen Vermittlungsversuchen, auf diesem Weg, durch den Einmarsch syrischer Truppen, beendet worden. Der Preis, den Libanon dafür entrichten musste, war 15 Jahre Präsenz und Vormacht syrischer Soldaten in Libanon.