Jakob Tanner, emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Zürich
Revisionistische Verdrehung, tendenuziöse Umdeutungen
Carl Bossard unterstellt den Kritikern der Etter-Biografie von Thomas Zaugg, sie würden auf «liebgewonnenen Ansichten» sitzenbleiben und könnten deshalb eine «neue Sicht» nicht akzeptieren. Diese Annahme ist falsch. Selbstverständlich sind in der Geschichtsschreibung, wie in jeder wissenschaftlichen Disziplin, neue Einsichten zu begrüssen und in der Würdigung von Forschungsresultaten besteht eine zentrale Aufgabe der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung. Das impliziert aber auch, dass verquere Urteile, verharmlosende Interpretationen und beschönigende Auslassungen einer Kritik unterzogen werden. Darum, und um nichts anderes, geht es im vorliegenden Fall.
Ich kann an dieser Stelle keinen Überblick über die Umdeutungen und thematischen Lücken, welche in Zauggs Studie zu finden sind, liefern. Deshalb beschränke ich mich auf je ein Beispiel. Nach Zaugg ist es bei der sog. «Ostfrontmission» von Eugen Bircher im Jahre 1941 darum gegangen, «mit IKRK-Helfern deutsche Verwundete (zu) behandeln». Das sieht nach humanitärer Hilfe aus, und Zaugg rückt die Aktion ins Umfeld der «guten Dienste» der Schweiz. Kein Wort davon, dass Bircher die Crew mit Hakenkreuzbinden ausrüsten liess. Zaugg wertet diese von Etter mitgetragene schweizerische Teilnahme am rassistisch-antisemitischen Vernichtungsfeldzuges der Wehrmacht kurzerhand als Teil einer «stark legalistisch ausgerichteten Neutralitätspolitik». Es scheint mir angemessen, eine solche Verdrehung als revisionistisch zu bezeichnen.
Ein Beispiel für die zahlreichen Auslassungen in dieser Dissertation: Philipp Etter hob in seiner Rede zur Einweihung des «Bührle-Baus» des Zürcher Kunsthauses im Jahre 1958 (zwei Jahre nach dem Tod von Emil Georg Bührle) die geradezu intime Jagdfreundschaft hervor, die ihn mit dem Waffenfabrikanten verband. Er bezeichnete die Gemäldesammlung von Bührle als «geistige Waffenschmiede». Zu Beginn des Kalten Krieges war Etter massgeblich daran beteiligt, dass Bührle eine Viertelmillion Pulverraketen an die USA verkaufen konnte, die im Koreakrieg zum Einsatz kamen. Durch diese und weitere Rüstungsgeschäfte wurde Bührle zum reichsten Schweizer. Obwohl bekannt, werden diese Zusammenhänge von Thomas Zaugg verschwiegen. Der Name Bührle kommt in der ganzen Dissertation gar nicht vor.
Eine ganze Reihe Historikerinnen und Historiker, die sich in der Materie auskennen, haben auf solche und viele weitere tendenziöse Umdeutungen und problematische Leerstellen in Zauggs Etter-Biografie hingewiesen. Dass es in der bisherigen Etter-Forschung Fehlzitate gab, die nun korrigiert werden können, ist richtig und erstrebenswert. Doch leider erhebt Zaugg solche Vorwürfe auch gegen mich persönlich, ohne sie nachzuweisen. Der plakative Falschzitat-Vorwurf in der Einleitung zu seiner Studie trägt deshalb nichts zur historisch-wissenschaftlichen Aufklärung bei, sondern liefert – wie im vorliegenden Fall – die Vorlage für eine schlecht informierte Polemik gegen Kritiker. Dabei wird übersehen, dass vieles von dem, was Carl Bossard als neue Einsicht der Zaugg-Studie anpreist – so z. B. die Ablehnung der NS-Rassentheorie durch Etter – in der bisherigen Forschung längst dokumentiert ist und z. B. auch in meiner «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» nachgelesen werden kann.
Wie einseitig Carl Bossards Darstellung ausgefallen ist, zeigt sich auch im Verweis auf die Rezension von Georg Kreis. Man erhält hier den Eindruck, Kreis hätte Zaugg attestiert, ein «differenzierte Bild» Etters zu zeichnen. Kreis hat zwar, wie es sich für eine Buchbesprechung gehört, differenzierend auf neue Ergebnisse hingewiesen. In der Zuger Presse hat er aber auch deutlich festgehalten, dass die entproblematisierenden Deutungen sowie die wolkigen Formulierungen und Auslassungen in Zauggs Studie «den Anforderungen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung wenig entsprechen» (Zuger Zeitung 2. September 2020). Wieso wird das den Leserinnen und Lesern des Journal21 vorenthalten?
Jakob Tanner ([email protected]) ist emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der neueren und der neuesten Zeit an der Universität Zürich.
***
Georg Kreis, emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Basel
Verharmlosung der Vergangenheit
Carl Bossard hat am 6. April 2021 Thomas Zauggs Biografie des Zuger Bundesrats Philipp Etter im Journal21.ch vorgestellt. Dabei hat er sich unter anderem auf meine für die NZZ verfasste Besprechung vom 27. März 2020 berufen und diese wesentlich positiver erscheinen lassen, als sie mit meinen Vorbehalten in Tat und Wahrheit gemeint war. Die Auseinandersetzung mit Zauggs Etter- Biographie dauert nun bereits ein Jahr und es wäre eigentlich zu begrüssen, wenn die Debatte zusätzliche Klarheit brächte. Bosshard hat in seiner ersten Stellungnahme vom 4. April 2021 offensichtlich ohne eigene Sachkenntnis bloss Zauggs Sicht mit überschwänglicher Bewertung weitergegeben.
Und in seiner zweiten Reaktion vom 8. April 2021 ist Bosshard auf Jakob Tanners berechtigte Kritik mit keinem Wort eingegangen, hat diese nur als «ungewöhnlich scharf» abgetan (was sie m.E. überhaupt nicht war) und hat sich im Weiteren darauf beschränkt, in fragwürdiger Weise Drittmeinungen zusammenzustellen. Die mir zugeschriebene Anerkennung, dass Zaugg ein «differenziertes Bild» zeichne, stammte von der Redaktion der NZZ und nicht von mir. Und mit das «systematische Durchexerzieren» meinte [ich] die konsequente Einseitigkeit, mit der Zaugg Etters Haltungen stets beschönigend deutet. Ich bekräftige hier in aller Ruhe noch einmal meine in der Zuger Zeitung vom 2. September 2020 geäusserte und von Bosshard als emotional abgetane Auffassung, dass diese Vorgehensweise den Anforderungen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung wenig entspricht.
Zaugg hätte die Chance gehabt, eine umfassende Biografie zu schreiben, die auch die kritischen Seiten dieses ausserordentlichen Politikerleben ernsthaft einbezieht. Stattdessen hat er eine einseitige Rehabilitationsschrift verfasst. Neben tendenziösen Interpretationen weist das Werk Lücken auf, die man als erstaunlich bezeichnen könnte, die es aber nicht sind, weil sie sich ebenfalls aus Zauggs schonenden Umgang mit Etter erklären. Das Werk, das gemäss Untertitel eine politische Biografie sein will und immerhin über 700 Seiten beansprucht, hat für Etters Ablehnung des Frauenstimmrechts noch im Jahr 1956 nur gerade einen halben Satz übrig und zum nahen Verhältnis zwischen Etter und dem Waffenfabrikanten Bührle gar keinen. Und es schenkt Etters Versuch, den Spielraum der in den Kriegsjahren ohnehin bereits eingeschränkten Presse weiter zu beschneiden, wenig Beachtung. Der Biograf fragt bezeichnenderweise auch nicht, wie weit Etters Antiparlamentarismus in gewissen Phasen ging. Hinweise auf solche Lücken gehen nicht von unrealistischen Vollständigkeitserwartungen aus, sondern machen auf Mängel aufmerksam, die für die Haltung des Autors offenbar bezeichnend sind.
Kontrovers sind und bleiben wohl auch die Beurteilung von Etters Einstellungen in den 1930er und frühen 1940er Jahren. Man kann mit Zaugg der Auffassung sein, dass sich Etter über die Jahre seiner langen Amtszeit (1934-1959) gut in die helvetische Konkordanzdemokratie eingefügt hat. Das schliesst aber nicht aus, dass man für die 1930er Jahre und die frühen 1940er Jahre bei der Feststellung bleibt, dass Etter damals auch bedenkliche Haltungen eingenommen hat und es für die schweizerische Demokratie und Unabhängigkeit gut war, dass Etter Einfluss 1940 beschränkt blieb und es andere Kräfte gab, die ihm entgegenwirkten.
Zauggs Rehabilitierungsversuch profitierte zeitlich wie finanziell von einem privilegierten Quellenzugang, und die öffentliche Aufnahme dieses Versuchs profitiert wiederum davon, dass er als akademische, sogar mit Bestnote ausgezeichnete Qualifikationsarbeit eingestufte wurde, und eine Reihe von Zuger Gesinnungsgenossen für ihn publizistisch einstehen. Dabei spielt, wie bei der Präsentation von Bosshards Besprechung das Argument eine Rolle, dass eine neue Sicht zu offenbar überholten alten Ansichten angeboten und Falschzitate korrigiert würden. Die Bedeutung der an sich begrüssenswerten, aber plakativ eingesetzten Korrektur von «Fehlzitaten», auf die auch ich mich in einer früheren Arbeit (1995) gestützt habe, steht jedoch in keinem Verhältnis zu den methodischen Schwächen dieser Arbeit und zur Fragwürdigkeit der Gesamtinszenierung dieses Rehabilitierungsversuchs.
Zur Entproblematisierung gehören auch die von Etter locker gemachten und von Zaugg wie von Bossard gerne festgehaltenen Eingeständnisse, dass er im Frontenfrühling auch «Unsinn» verbreitete auch sonst «viele Fehler» gemacht habe. Dann muss man ja nicht genau hinsehen oder eben kann man nur so hinsehen, dass entwarnende Schlüsse möglich sind.
Der Zugang zu bisher unausgewerteten (bzw. unauswertbaren) Quellen und der Anspruch, etwas Zutreffendes zu statuieren, bloss weil es neu ist, sowie der weitere Anspruch, ein von angeblich linkslastigen Historikern in den 1990er Jahren etabliertes Bild zu berichtigen, und schliesslich das Argument, dass eine nachrückende Generation ein Recht habe, die etablierte Meinung der älteren Berufskollegen in Frage zu stellen, das sind alles ausserwissenschaftliche Argumente, die der vorgelegten Arbeit Durchschlagskraft verleihen sollen. Was zählt, ist die argumentative Stichhaltigkeit zu einzelnen, konkreten Sachverhalten.
Zauggs verharmlosender Umgang mit Etters entgegenkommender Haltung gegenüber dem Frontismus 1933 und gegenüber der die liberale Demokratie gefährdende Totalrevisions-Initiative von 1935 ist nicht eine von der gegenwärtige Politik völlig losgelöste Sache. Indem Zauggs Etters Haltung in riskanten Zeiten verharmlost, betreibt er indirekt auch eine Verharmlosung rechtsnationaler Tendenzen unserer Gegenwart.
***
Thomas Zaugg, promovierter Historiker, Autor der Etter-Biografie
Versachlichung der Kritik
Die emeritierten Geschichtsprofessoren Jakob Tanner und Georg Kreis widersprechen in ihren Gastkommentaren auf Journal21 vom 8. und 10. April einer positiven Besprechung meiner Dissertation zu Bundesrat Philipp Etter. Kreis ist nun im Widerspruch zu seiner eigenen Rezension in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27. März 2020 der Ansicht, dass meine Arbeitsweise «den Anforderungen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung wenig entspricht». Diese pauschale Äusserung kann ich nur irritiert zur Kenntnis nehmen. Tanner wiederholt in seiner Entgegnung verschiedene Kritikpunkte. Er behauptet insbesondere, ich würde Falschzitat-Vorwürfe gegen ihn erheben, «ohne sie nachzuweisen». Darauf und auf andere spezifische Fragen möchte ich im gebotenen Rahmen eingehen.
Sowohl Tanner als auch Kreis fällt die Kritik zu leicht: Sie disqualifizieren neue Forschungsergebnisse mit dem Argument, es gebe darin Umdeutungen und Lücken. Wissenschaftliche Arbeiten können nie alles behandeln und weisen stets Desiderate auf. Die Schwerpunkte meiner Studie liegen auf den katholisch geprägten Jugendjahren Etters, dem Zürcher Lehrjahr beim Christlichsozialen Georg Baumberger, den 1930ern, dem Antisemitismus, der Beziehung zum Schriftsteller Gonzague de Reynold, der Kulturpolitik unter Etter, entscheidenden Kriegsjahren, der Ausarbeitung der AHV im Streit mit Familienschützern und auf der Einführung der Zauberformel 1959. Die Nachkriegszeit behandle ich überschlagsmässig, was Spielraum offenlässt für künftige Forschung. Meine These, dass sich Etter nach 1945 mit der Konservativen Volkspartei von einer ausgesprochen föderalistischen, katholisch-konservativen Haltung mehr nach «links» und in Richtung der sozialen Marktwirtschaft bewegte, wird in vielen Rezensionen bestätigt.
Ob der Waffenfabrikant Bührle und Etter eine «geradezu intime» Jagdfreundschaft pflegten, wie Tanner vermutet, könnte vertieft untersucht werden. Aus dem Bundesarchiv und dem Staatsarchiv Zug steuerte ich spärlich überlieferte Korrespondenzen zwischen Etter und Bührle sowie Fotografien eines Jagdausflugs mit allerdings vielen Teilnehmern zum kürzlich erschienenen Bührle-Bericht der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bei. Das Thema der Jagdgesellschaften als Netzwerke und Instrumente des Lobbyismus ist ohnehin interessant.
Einige Kritikpunkte sind dagegen schlicht nicht nachvollziehbar. Dazu gehört Kreis’ Bemerkung, ich würde nicht zeigen, «wie weit Etters Antiparlamentarismus in gewissen Phasen ging». Ein kurzer Blick etwa in mein Kapitel über den Frontenfrühling 1933/34 und das Jahr 1940 würde hierzu genügen. Etter stand dem Parlamentarismus liberaler Prägung skeptisch bis ablehnend gegenüber, er kritisierte aber antidemokratische Tendenzen in der katholischen Jugendbewegung. Dass ich in diesem und anderen Bereichen aufgrund umfangreicher neuer Quellen einige Korrekturen anbringe, macht aus meiner Arbeit keine «einseitige Rehabilitationsschrift».
Den Hinweis in meiner Dissertation, dass Etter als einstiger Frauenstimmrechtsgegner in den 1960er-Jahren seine Meinung änderte, empfindet Kreis als zu knapp. Auch wenn in Kreis’ eigenem Etter-Artikel von 1995 jeglicher Hinweis auf Etters Haltung zum Frauenstimmrecht fehlt, ist dies eine legitime Kritik. Wichtig ist auch hier der gewählte Schwerpunkt. In wissenschaftlichen Werken müssen Themen zuweilen summarisch behandelt werden. Ein forschungsethischer Grundsatz lautet, besser nichts zu behaupten, als nach oberflächlichen Recherchen womöglich unzutreffende Thesen zu formulieren. Etters Wandel vom Gegner zum zögerlichen Befürworter des Frauenstimmrechts und das katholische Familienbild – zwei eng miteinander verbundene Themenkomplexe – behandelte ich in einem Artikel im «Magazin» vom 13. März 2021 (https://www.tagesanzeiger.ch/ein-mann-ein-frauenbild-274271189913).
Die eingangs erwähnten Falschzitate sind gut dokumentiert und werden in verschiedenen Rezensionen auch als solche anerkannt. In meiner Dissertation erläutere ich ihre Entstehung und weise auf Literatur hin, die sie ungeprüft weiterträgt (S. 23, 610 f.). Es handelt sich um eine ganze Reihe von Falschzitaten betreffend Etters Haltung zur «Erbgesundheitspflege». Sie stammen aus dem bereits genannten Artikel von Kreis aus dem Jahr 1995. Zuletzt schrieb 2015 Tanner in seiner «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» über den «Volksgesundheits-Diskurs» der Zwischenkriegsjahre (S. 240 f.):
«Eine Mischung von eugenischen, sozialen und finanziellen Gesichtspunkten zeigt sich auch bei der Blossstellung von Behinderten als erbkrankmachende Belastungsfaktoren. Propagiert wurden die Pflege ‹biologischer Volksgrundlagen›, die ‹Erbgesundheit› und die ‹Eindämmung ungesunden Lebens›. Ziel einer ‹konstruktiven Sozialpolitik› sollte ‹die möglichste Ausmerzung des Schwächlichen im Laufe der Zeit› sein. Bundesrat Philipp Etter sprach von einer ‹Armee von 200 000 Anormalen› und zählte namentlich auf: 2600 Blinde, 8000 Taubstumme, 40 000 Schwerhörige, 50 000 Krüppelhafte, 20 000 Epileptische und 70 000 Geistesschwache sowie Geisteskranke. Diese ‹Armee› verschlinge Finanzmittel, die dann bei der richtigen Armee fehlten. Die volkswirtschaftlichen Kosten, die dem Staat für die Betreuung und Versorgung von Behinderten erwuchsen, hatten ein starkes Gewicht in einem multifaktoriellen Volksgesundheits-Diskurs.»
Diese Darstellung erweckt einen falschen Eindruck. Etter rief 1935 im zitierten Aufruf für die «Schweizerische Vereinigung für Anormale» (später Pro Infirmis) zur Hilfe für geistig und körperlich Benachteiligte auf: «Wenn Leidbeschwerte, Hartgeprüfte an die Türen der Schweizerhäuser klopfen, haben sie noch immer gütige, mitfühlende Herzen gefunden.» Und weiter: «Väter, Mütter, die ihr gesunde Kinder euer eigen nennt, danket dem Herrgott für dieses Geschenk des Himmels. Danket ihm durch die Tat und gedenket Jener, die nicht des gleichen Glückes sich erfreuen.» Bei der Niederschrift dieser Sätze hatte Etter möglicherweise auch das Schicksal seines ältesten Sohnes vor Augen, der unter Epilepsie litt. Wie viele Politiker war Etter ambivalent gegenüber der damals modernen, breit unterstützten Eugenik. Er spielte jedoch nie die Militärausgaben gegen die Kosten für die «Anormalen» aus. Ich versuchte Tanner die ganze Problematik im Mai 2020 mit Hilfe meiner Dokumentation vergeblich zu erläutern.[1] Im Gegensatz zu Kreis hält Tanner an der Korrektheit seiner Darstellung fest.
Meine Studie zu Philipp Etter wird erfreulicherweise breit rezipiert. Es ist jedoch irritierend, wie Tanner einige wenige Sätze meiner Dissertation und positive Besprechungen zum Anlass nimmt, mich unentwegt – in Artikeln, Leserbriefen, unpublizierten Stellungnahmen an Historikerinnen und Historiker sowie an Redaktionen – als Revisionisten hinzustellen.
Ein letztes Beispiel für diese unberechtigte Kritik möchte ich nennen. Tanner beanstandet meine kurze Erwähnung der Schweizer Ärztemissionen ab 1941 an die deutsche Ostfront als revisionistische «Verdrehung». Diese Missionen fanden unter dem Patronat des Roten Kreuzes statt und wurden von einem privaten Komitee getragen, damit sie nicht als Stellungsbezug der offiziellen Schweiz kritisiert werden konnten. Dieses in der Forschung längst bekannte juristische Konstrukt lässt mich kritisch von einer «stark legalistisch ausgelegten Neutralitätsdoktrin» und von «gefälligen Gesten» gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland schreiben, welche auch Etter unterstützte (S. 536). Die Schweiz kam Deutschland mit «aussenpolitischen Gesten wie der von Eugen Bircher angeführten schweizerischen Ärztemission an die deutsche Ostfront» entgegen. Dies hält der Bergier-Schlussbericht fest (S. 93). Tanners Rede von einer «schweizerischen Teilnahme am rassistisch-antisemitischen Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht» ist so pauschal, dass sie den kritischen Kern der Sache nicht berührt.
Geschichtsforschende dürfen moralische Urteile nicht scheuen. Doch unsere Arbeit sollte vor allem auch Handlungszusammenhänge und spezifische Eigenheiten einer als Gegenwart gedachten Vergangenheit aufdecken. Ich wünsche mir eine Versachlichung der Kritik auf Basis der neuen Quellengrundlage.
[1] Im zweiten Satz des obigen Auszugs zitiert Tanner aus Kreis’ Artikel von 1995 die Begriffe Pflege «biologischer Volksgrundlagen» und «Eindämmung ungesunden Lebens». Wer sich für den Ursprung dieser Begriffe interessiert, folgt dem bei Tanner in der dazugehörigen Anmerkung 147 angegebenen Verweis auf die S. 207 bei Kreis. Darin zitiert Kreis, Etter habe die Pflege der «biologischen Volksgrundlagen» gefordert und von der «Eindämmung ungesunden Lebens» gesprochen. In meiner Dissertation weise ich nach, dass es sich dabei nicht um Aussagen Etters handelt. Solche und andere Etter irrtümlich zugeordnete Zitate wurden auch in Zeitungsartikeln weiterverbreitet. Ebenso problematisch ist Tanners Passage: «Bundesrat Philipp Etter sprach von einer ‹Armee von 200 000 Anormalen› und zählte namentlich auf: 2600 Blinde, 8000 Taubstumme, 40 000 Schwerhörige, 50 000 Krüppelhafte, 20 000 Epileptische und 70 000 Geistesschwache sowie Geisteskranke. Diese ‹Armee› verschlinge Finanzmittel, die dann bei der richtigen Armee fehlten.» Nur die Aufzählung im ersten Satz stammt von Etter (aus seinem Pro-Infirmis-Aufruf). Die Aussage im zweiten Satz geht in Teilen auf einen Vortrag des Küsnachter Seminarlehrers Werner Schmid zurück, wird aber von Tanner nicht als solche ausgewiesen, womit sie fälschlicherweise als Aussage Etters erscheint.
***
Stellungnahme von Jakob Tanner: Appendix zur «Kontroverse»
Thomas Zaugg hält, wie zu erwarten war, an seiner beschönigenden Darstellung fest. Das ist sein gutes Recht. Dass er nun auf eine konkrete Nachfrage meinerseits etwas süffisant eine Fotografie einblendet, die eben gerade nicht in seiner Etter-Biografie enthalten ist, zeigt von einer geringen Bereitschaft, auf eine ernsthafte Diskussion einzutreten. Die Kritik, die von Fachleuten in bisherigen Rezensionen geäussert wurde, kann von allen Interessierten nachgelesen werden.
Dass ich eine Duplik auf die Replik anfüge, ist dadurch begründet, dass Thomas Zaugg an seiner falschen Behauptung, ich hätte «Falschzitate» verwendet, festhält. Ich beschränke mich im Folgenden auf diesen Punkt. Dass Zaugg die Falschzitate im Buch nicht nachweist, lässt sich anhand der Fussnotenverweise leicht nachkontrollieren. In einer Anmerkung ist vage davon die Rede, ich hätte auf etwas «angespielt» (S. 611, Anm. 87). Auf eine schriftliche Erkundigung meinerseits, wo er denn die Falschzitate sehe, wusste im vergangenen Frühjahr Zaugg keine Auskunft zu geben. Er unterstellte mir, ich hätte bei einem anderen Autor abgeschrieben, was nicht der Fall ist. Auf weitere Nachfragen hin hielt er mir schliesslich einen in indirekter Rede gehaltenen Nebensatz vor. Auf sachliche Argumente, die gegen diese Version sprechen, ging er nicht ein. Er wiederholt einfach den Vorwurf. Der Medienpräsenz ist das sicher förderlich, der Wissenschaft hingegen abträglich.
An der Stelle, wo der «Falschzitat»-Vorwurf gemacht wird, zitiere ich nicht – wie Zaugg unentwegt und auch jetzt wieder behauptet – einen Pro Infirmis-Aufruf von 1935, sondern die von der Zürcher Offiziersgesellschaft herausgegebene, eugenisch ausgerichtete Broschüre «Erbgesunde Jugend» von Werner Schmid aus dem Jahre 1939. Ich gebe hier wörtlich Schmid wieder, der seinerseits Etter zitiert. In einem Zusatz verdichte ich eine zentrale Aussage aus dem Schmid-Text. Wurde Etter von diesem Autor instrumentalisiert oder gar ins Gegenteil verkehrt? Gegen diese These spricht das Lob, dass die Broschüre aus dem katholisch-konservativen Milieu erhielt. Der Leiter des Benziger-Verlags Gustav Keckeis bezeichnet sie als «instruktiv, überzeugend, aus gesundem Geist diktiert». Zudem unterstützte Bundespräsident Etter ein Jahr darauf eine weitere eugenische Broschüre von Schmid mit einem Geleitwort.
Dass Thomas Zaugg es ablehnt, sich mit diesen und weiteren Belegen auseinanderzusetzen, ist darauf zurückzuführen, dass er die zentralen Forschungsarbeiten zum Verhältnis von Katholizismus und Eugenik nicht berücksichtigte und zum Vornherein annimmt, Katholizismus und Eugenik seien unvereinbar. Er zitiert Etters Schriften da, wo sie seiner verharmlosenden Deutung entgegenstehen, einseitig oder übergeht entscheidende Punkte. So gesteht Etter 1938 «in aller Offenheit, dass ich die bevölkerungspolitischen Bestrebungen der Diktatoren in den Diktaturstaaten etwas anderes würdige, als sie gewöhnlich beurteilt werden» und er beurteilt die «Politik des Familienschutzes und der Geburtenförderung» des faschistischen Italiens ebenso positiv wie die «in den letzten Jahren» in Deutschland zu beobachtende «Steigerung der Geburten». Eine Auseinandersetzung mit solchen und vielen weiteren Aussagen Etters findet bei Zaugg nicht statt. Was nicht ins Bild passt, wird weggeschnitten. Meine Kritik kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Klar ist, dass der Falschzitat-Vorwurf einer wissenschaftlichen Diskussion dieser Fragen im Weg steht. Diese zu klären, ist mir ein Anliegen. Ich werde demnächst einen Beitrag zur Etterschen Haltung zur Eugenik und zu eugenischen Tendenzen im Katholizismus der 1930er Jahre veröffentlichen.
Jakob Tanner/ 14. April 2021
Stellungnahme von Thomas Zaugg
Der obige Appendix von Jakob Tanner enthält die folgenden irreführenden Darstellungen:
1. Auf Tanners schriftliche Erkundigung im Mai 2020 habe ich nicht «keine Auskunft» zu geben gewusst. Ich versuchte vergeblich Tanner die Problematik der Falschzitate aufgrund der Quellen zu erläutern und ging auf «sachliche Argumente» ein.
2. Tanner bezieht sich auf folgende Passage aus seinem Buch: «Bundesrat Philipp Etter sprach von einer ‹Armee von 200 000 Anormalen› und zählte namentlich auf: 2600 Blinde, 8000 Taubstumme, 40 000 Schwerhörige, 50 000 Krüppelhafte, 20 000 Epileptische und 70 000 Geistesschwache sowie Geisteskranke. Diese ‹Armee› verschlinge Finanzmittel, die dann bei der richtigen Armee fehlten.» Etter spielte nie die Militärausgaben gegen die Kosten für die «Anormalen» aus, wie hier im letzten Satz suggeriert wird. Tanner behauptet zwar, im letzten Satz nicht Etter zu zitieren. Er, Tanner, verdichte hier vielmehr «eine zentrale Aussage» aus einer «von der Zürcher Offiziersgesellschaft herausgegebene[n], eugenisch ausgerichtete[n] Broschüre ‹Erbgesunde Jugend› von Werner Schmid aus dem Jahre 1939». Dieser Hinweis fehlt jedoch in Tanners Buch, weshalb die Aussage über die hohen Kosten für «Anormale» fälschlicherweise Etter zugeordnet wird (wie bereits in Georg Kreis’ Artikel von 1995). Tanners Darstellung rückt generell Etters Spendenaufruf für die Pro Infirmis in einen eugenischen Kontext, was keineswegs zutrifft.
3. Für Tanners Aussage, Etter habe eine Schrift Werner Schmids von 1940 mit einem «Geleitwort» unterstützt, fehlt jeglicher Beleg. Schmid schmückte seine Broschüre mit einem Zitat aus Etters 1.-August-Rede von 1939 wie auch mit einem Zitat des Lyrikers Hermann von Gilm. Im «Bibliographischen Bulletin der Schweiz» von 1940 wie auch in der Werbung des herausgebenden Rotapfel-Verlags wird kein Geleitwort Etters für Schmids Schrift erwähnt. In den von mir konsultierten Quellen gibt es zudem keinen Hinweis darauf, dass Etter mit Schmid in Kontakt stand.
4. Der Leiter des Benziger-Verlags Gustav Keckeis bezeichnete Schmids Schrift von 1940 als «instruktiv, überzeugend, aus gesundem Geiste diktiert», zitiert Tanner aus meiner Dissertation. Tanner unterschlägt jedoch den kritischen Zusatz von Keckeis, ob bei Schmid «die Vererbungstheorie nicht etwas übertrieben ist». Keckeis schreibt: «Wünschbar wäre gewesen, dass auch die geistigen Quellen, sowohl des Uebels wie die der besseren Erziehung, hervorgehoben worden wären.»
5. Tanner spielt auf Etters Bemerkungen über die «bevölkerungspolitischen Bestrebungen der Diktatoren in den Diktaturstaaten» an, ohne den Zusammenhang zu erläutern. Die 46-seitige Rede von 1938 vor der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft trägt den Titel «Der Geburtenrückgang als nationales Problem». Der Geburtenrückgang war ein gesamteuropäisches Problem, mit dem sich Etter als Vorsteher des Innendepartements auseinandersetzte. Etter zeigte sich in seiner Rede gegenüber der Idee eines Familienlohns nicht abgeneigt und kritisierte Sterilisierungsvorschläge «zur Verhütung des Kindersegens» seitens der Wissenschaft. Er erwähnte die Massnahmen gegen den Geburtenrückgang auch Belgiens und Frankreichs. Einer Bevölkerungspolitik nach Vorbild der europäischen Diktaturen stand Etter kritisch gegenüber, weil er hinter dem Geburtenrückgang «Ursachen geistiger, seelischer Natur» vermutete, die sich der staatlichen Kontrolle entzogen. Etter widersprach selbst dem von ihm geschätzten antiken Philosophen Aristoteles, der die Tötung überzähliger Kinder gefordert habe. Die Rede kann im Staatsarchiv Zug unter der Signatur P 70.340 eingesehen werden.
6. Mein Beitrag der Fotografie der Jagdgesellschaft mit Philipp Etter, Emil Bührle und anderen Teilnehmern war nicht «etwas süffisant» gemeint, wie Tanner schreibt. Ich wollte auf die von Tanner angesprochene Jagdfreundschaft zwischen Etter und Bührle, auf ihre wünschenswerte Untersuchung durch die Forschung und auf vorhandenes Quellenmaterial hinweisen.
Thomas Zaugg, 16. April 2021
Journal 21 schliesst mit dieser Stellungnahme Thomas Zauggs die Kontroverse um dessen Etter-Biografie.