Der aus Afghanistan stammende Journalist Emran Feroz, Autor des lesenswerten Buchs «Der längste Krieg», wirft den Europäern (also auch uns) im Umgang mit Flüchtlingen Rassismus vor. Er vergleicht unser Verhalten gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine mit jenen, beispielsweise, aus Afghanistan, Syrien oder afrikanischen Ländern. In einer Kontext-Sendung von Radio SRF wurde das Thema aufgegriffen, und was ich hörte, machte mich betroffen.
Ich könnte nun argumentieren: Als «alter Orient-Journalist» muss ich mir nichts vorwerfen lassen in Sachen Vorurteile gegen andere Kulturen. Ich hatte (habe das weiterhin) einen unverkrampften Umgang mit Menschen aus arabischen Ländern, aus Israel, aus Afghanistan, auch aus Afrika. Und fand schon immer die Flüchtlings- und Asylpolitik der Schweiz, auch anderer westeuropäischer Länder, Bürokratie-durchtränkt und im Wesen (unterschiedlich von Land zu Land) generell abweisend, oft auch echt diskriminierend. Aber ich stelle an mir selbst nun fest, dass mich das Schicksal von Flüchtenden aus der Ukraine bedeutend mehr betroffen macht als jenes von Menschen etwa aus dem Nahen und Mittleren Osten. Und dass ich etwas schneller und etwas grosszügiger für die Ukraine Geld spendete als für die Linderung von Not irgendwo ausserhalb Europas.
Warum?
Erstens weil wir uns, das liegt wohl in der menschlichen Natur, mit Menschen aus dem europäischen Kulturkreis leichter identifizieren als mit solchen aus anderen Kulturen. Ich kann mich zwar, wenn es um den Nahen und den Mittleren Osten geht, dort mit so ziemlich allen in ihrer Sprache (also, um das ehrlich einzuschränken, immer nur der Hoch- oder Schulsprache, nicht in ihren eigenen Umgangssprachen) unterhalten, habe Verständnis für die vom Islam geprägte Lebensweise – aber auch ich empfinde, auch noch nach rund 60 Jahren «regionaler» Erfahrung, Islam als etwas Fremdes. Das Fremde ist interessant und sogar faszinierend, aber es ist nicht mein «Eigenes».
Nun kann man dagegen argumentieren: Dann müsste wohl alles «Europäische» auch «Eigenes» sein. Dann hätten die westeuropäischen Staaten ja den von den Folgekriegen des Jugoslawien-Kollapses Geflüchteten die Türen weit öffnen sollen? Richtig, taten wir aber nicht. Und warum nicht? Salopp ausgedrückt: Weil «wir» voller Misstrauen waren, ob alle, die hierher kamen, wirklich Opfer waren, ob es unter ihnen nicht auch Täter gab und ob manche nicht aus anderen Gründen Aufenthalt bei uns forderten, unter anderem weil es hier leichter ist (zumindest leichter sein soll), Sozialhilfe zu erhalten. Also: Türen eher zu als auf.
Und noch viel schwieriger präsentierte sich für uns Westeuropäer die Lage anhand der Migrationswellen aus dem vorher schon angesprochenen «Orient». Wer von den Syrern war oder ist wirklich vom Assad-Regime bedroht, wer musste wirklich fliehen – und wenn schon, dann, warum, nicht nur in die benachbarte Türkei? Oder Afghanistan: Wer wurde wirklich in den für die meisten bei uns unverständlichen Konflikten in Afghanistan an Leib und Leben bedroht?
Ich stelle mir Befragungen durch auch gut meinende Beamte vor – und ahne, wie schwierig es oft war und weiterhin ist, eine eindeutige Antwort zu finden.
Bleibendes Unbehagen
Dagegen bei den Menschen aus der Ukraine, jetzt: Alles klar, die mussten wirklich weg, wir sehen es am TV ja täglich, wie die Wohnhäuser von russischen Raketen bombardiert werden, und sehen sogar, dass Hunderte beispielsweise in der Kiew-Vorstadt Butscha massakriert wurden. Die Sachlage ist hundert Mal klarer, als bei allen anderen Konflikten der letzten Jahrzehnte, irgendwo auf der Welt.
Kommt hinzu, dass fast alle, die aus der Ukraine hierher flüchten, Frauen mit Kindern sind, nicht junge Männer wie aus Syrien oder Afghanistan – und dass sie Schutz brauchen, ist offenkundig. Und weiterhin kommt hinzu, dass die Schutz-Suchenden sofort unsere Sprache lernen und baldmöglichst wirtschaftlich eigenständig werden wollen.
Also, nun habe ich so ziemlich alles Wesentliche aufgezählt, was meine Haltung, meine Gefühle rechtfertigen könnte.
Ich lese den Text noch einmal durch – und stelle fest: Da bleibt ein Unbehagen, ein trotz allem ungutes Gefühl. Es beinhaltet: Ich bin, wir sind insgesamt zwar wohl keine Rassisten, aber wir sind unfair. Denn vielleicht sechzig oder siebzig Prozent jener Menschen, die, um nochmals die Beispiele zu nennen, aus Syrien oder Afghanistan zu uns geflüchtet sind, könnten auf vergleichbares Leid hinweisen, das ihnen widerfahren ist: Vielleicht wurde ihr Haus, ihr Dorf, von russischen Bomben in Syrien getroffen oder, in Afghanistan, von einer US-amerikanischen Drohne (Feroz, den ich einleitend erwähnte, recherchiert professionell über genau dieses, von den internationalen Medien vernachlässigte, Thema). Das Leid erscheint uns jedoch nicht ähnlich kollektiv wie jenes der von der Grossmacht Russland attackierten Menschen der Ukraine.
Erscheint, Gefühle, Emotionen, Parteilichkeit – was in der Essenz bleibt, ist ein Gefühl von Schuld. Aber auch das Wissen, dass dieses Gefühl von Schuld und von Ungerechtigkeit nicht beiseite geschoben werden kann.