Vor der Mittelschule an der Jianguomenwai Dajie ein Riesenauflauf. Eltern bringen ihre Söhne und Töchter zur Schule. Im Rucksack sind keine Schulbücher, sondern in Thermosflaschen gekühlter Tee. Alle sind aufgeregt. Taxis und gar Limousinen versuchen, sich durch die Menschenmassen zu bahnen. Es sind Autos mit möglichst vielen 8 – der Glücksnummer – auf dem Nummernschild. Den Taxis entsteigen Schüler. Polizei, private Wachmänner und Freiwillige geben sich Mühe, Ordnung ins Ganze zu bringen. Eine Polizisitin gibt Anweisungen übers Megaphon.
So wie hier in Peking wiederholen sich landauf, landab ähnliche Szenen. Das hat einen spezifischen Grund. Von Dienstag bis Donnerstag nämlich finden die Zutrittsexamen für Hochschulen und Universitäten statt. Dieses Jahr nehmen laut Erziehungsministerium 9,33 Millionen Schülerinnen und Schüler daran teil. Nicht alle werden es schaffen. Im laufenden Jahr werden dreissig Prozent über die Klinge springen müssen, denn Studienplätze sind nicht für alle vorhanden.
Konfuzius als Patron
Das Examen ist eine nationale Angelegenheit. Chinesinnen und Chinesen fiebern mit. Jene die es schaffen, so die Überzeugung, haben mit einem Hochschulstudium eine grosse Zukunft vor sich. Die Zentralregierung in Peking wünscht allen Prüflingen viel Erfolg und ruft – nicht ganz ohne Grund – zur Fairness auf. Bereits am Wochenende war der Konfuzius-Tempel in Pekiing nahe der zweiten Ringstrasse so gut besucht wie sonst nie im ganzen Jahr. Grosseltern, Eltern, Verwandte und Bekannte von Schülern und Schülerinnen bitten Konfuzius, den grossen Philosophen und mithin obersten Lehrer der chinesischen Zivilisation, um ein möglichst gutes Examen.
Es ist offiziell der „hohe Test“ (Gaokao), jene Prüfung nach Abschluss der oberen Mittelschule, welche den Eintritt in eine Hochschule erst ermöglicht. Gaokao hat eine lange Tradition und beruht auf dem unter der Han-Dynastie (206 v.Chr. – 220 n.Chr) eingeführten System der Beamtenprüfung.
Während zu kaiserlichen Zeiten konfuzianische Klassiker auswendig gelernt worden sind, wird heute Schulwissen gepaukt und eingetrichtert. Auswendig lernen ist noch immer das A und O des chinesischen Schulsystems und des Erfolgs am Gaokao. Natürlich sind es heute nicht mehr die konfuzianischen Klassiker, sondern landesweit die Grundfächer Chinesisch, Mathematik und Fremdsprachen. Je nach späterem Studienwunsch kommen die naturwissenschaftlichen Fächer Physik, Chemie und Biologie, Geschichte und Geographie, Musik und bildende Künste hinzu. Für alle obligatorisch ist nach wie vor die politische Erziehung.
Eliteunis nach amerikanischem Muster
Von der Primar- bis zur Mittelschule pauken die chinesischen Kinder. Sie sind oft übermüdet und finden kaum Zeit zum Spielen. Die Eltern geben zudem für Nachhilfestunden viel Geld aus. Das alles, um die jährlichen Prüfungen möglichst glanzvoll zu bestehen. Die Krönung soll dann der „hohe Test“ und der Universitätszugang sein. Je nach Provinz sind die Gaokao-Examen leicht unterschiedlich gestaltet. Der Leistungsnachweis allerdings ist vom Niveau her – weil staatlich verordnet – überall gleich hoch. Bei der Gründung des Volksrepublik 1949 wurde das Gaokao-System von der republikanischen Zeit übernommen.
Als Staatsgründer Mao Dsedong 1966 die „Grosse Proletarische Kulturrevolution“ ausrief, wurden Prüfungen kurzerhand abgeschafft. Die intellektuelle Elite wurde aufs Land geschickt, um „bei den Bauern, den Massen zu lernen“. Was fortan zählte, waren die Arbeiter, Bauern und Soldaten und eine „rote Gesinnung“. China verlor so eine ganze Generation von Intellektuellen. Nach Maos Tod wurde Gaokao1977 vom grossen Reformer Deng Xiaoping wieder eingeführt. Die Konkurrenz war riesig. Jetzt zählte wieder Wissen und weniger nur die politische Gesinnung. Auf parteichchinesisch ausgedrückt: die Parole „rot statt Experte“ gehörte der Vergangenheit an. In jenem Jahr stellten sich 5,7 Millionen Chinesinnen und Chinesen der Prüfung. Davon schafften gerade einmal fünf Prozent die Gaokao-Hürde, denn mangels Infrastruktur sowie dem Mangel an Professoren und Lehrern standen kurz nach dem Ende der Kulturrevolution nur 275'000 Studienplätze zur Verfügung.
In den letzten mehr als drei Jahrzehnten hat sich wie in andern Bereichen der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft auch in der Erziehung vieles grundlegend verändert. Die Zentralregierung, die Provinzen und Städte haben sowohl an Geld wie auch an Planung und Kreativität viel investiert. Von der Grundschule bis zu den Hochschulen ist eine schon fast permanente Reform mit dem Ziel im Gang, internationales Niveau zu erreichen. Nach den Plänen der Zentralregierung sollen ähnlich wie im amerikanischen System auf dem Fundament von in Städten und Provinzen verbreiteten Lokal-Hochschulen rund einhundert Elite-Universitäten entstehen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden auch ausländische Experten und Professoren verplichtet.
Schnell wirkende Reformen
Das chinesische System ist also hoch kompetitiv. Von der Primar- bis zum Abschluss der oberen Mittelschule sind strenge Prüfungen die Norm. Beim krönenden Abschluss, Gaokao, fallen heute im Unterschied zur Wiederaufnahme der Prüfung 1977 fallen statt 95 nur noch 31 Prozent (2010) der Prüflinge durch. Noch vor fünf Jahren gab es lediglich Studienplätze für die Hälfte aller Bewerber; die Durchfallquote betrug also rund fünfzig Prozent.
Diese Zahlen zeigen, wie schnell die Reformen wirken. Wer versagt, kann es zwar ein Jahr später nochmals versuchen, doch für die Versager sieht, wie einst bei den Beamtenprüfungen im Kaiserreich, die Zukunft dunkel aus. Was den Druck erhöht, ist auch die Tatsache, dass eine möglichst gute Note erreicht werden muss. Nur so nämlich ist es möglich, an an den besten Universitäten zu studieren, also beispielsweise an der Pekinger Beida, an der Technischen Hochschule Tsinghua oder an der Shanghaier Fudan.
Weil der Leistungsdruck und der Konkurrenzkampf so enorm sind, nimmt die ganze Nation während der drei Examenstage am Drama teil. Der Verkehr um die Prüfungsorte wird zum Teil umgeleitet und Arbeiten an lärmigen Grossbaustellen werden eingestellt, um eine möglichst ruhige Atmosphäre zu garantieren. Die Eltern geben viel Geld aus und buchen dem Sohn oder der Tochter ein Hotelzimmer in der Nähe, damit sie für die Prüfungstage möglichst ausgeruht sich der intellektuellen Herausforderung stellen können. Das Hotelzimmer hat selbstverständlich mit Aircondition, denn Anfang Juni sind die Temperaturen in weiten Landesteilen und in Peking weit über dreissig Grad.
Keine Störung, keine Korruption
Damit Tochter Hua am Dienstag rechtzeitig beim Examen eintrifft, hat Vater Chen Lun extra eine Limousine mit Fahrer gebucht. „Vor der Prüfung möglichst keinerlei Stress, auch nicht auf dem Weg zum Gaokao im Verkehrsstau“, sagt Chen. „Sie wird die Prüfung bestimmt schaffen“, sind die Eltern Chen fest überzeugt; auch die beiden Grossväter und Grossmütter nicken bestimmt.
Die Schulbehörden wachen ihrerseits, dass es, wenn immer möglich, zu keinen Ungregelmässigkeiten kommt. Früher war mit Korruption an der richtigen Stelle im Voraus an die Prüfungsfragen heranzukommen. Diese Zeiten sind praktisch vorbei, und falls es nachgewiesenermassen zu Unregelmässigkeiten kommt, wird streng durchgegriffen. Staatsrat Liu Yandong machte am Wochenende klar, dass „mit eiserner Hand“ und mit „Null-Toleranz“ gegen jene vorgeganen werde, die mit unlauteren Mitteln versuchten, das Examen zu bestehen.
Die neueste Herausforderung sind die digitalen Hilfsmittel. Dass deshalb mobile Telephone tabu sind, versteht sich von selbst. Sicherheitshalber wurden überall Störsender installiert. Die Prüfungssäle werden mit Kameras überwacht. Toilettengänge sind nur unter Bewachung möglich. Die Prüfungsfragen werden von der Volkspolizei in gesicherten Autos zu den Prüfungsorten gefahren. Die Polizei, so war am Dienstag in der Presse zu lesen, habe Dutzende von Fliegenden Händlern festgenommen, die digitale, drahtlose Geräte aller Art an Prüflinge verkauft hätten.
Teure Auslandsstudien
Das rigorose Prüfungsverfahren wird von Reformpädagogen mittlerweile hinterfragt. Die einseitige Gewichtung des Auswendiglernens von Schulstoff, so eines ihrer Argumente, fördere zu wenig die Kreativität und die heute so wichtige Innovationskraft. Zudem habe der Stress in der Mittelschule nachgewiesenermassen zu einer Häufung von Depressionen und Suizidversuchen geführt. Das Gaokao jedoch wird wohl nicht so schnell abgeschafft werden, ist es doch fester Bestandteil der chinesischen Kultur.
Jene, die es sich leisten können, schicken unterdessen ihre Kinder zur Ausbildung ins Ausland und können sich deshalb das Gaokao ersparen. Das aber kostet Geld, sehr viel Geld. Ein Studienjahr in Australien, Amerika oder Europa ist unter umgerechnet rund 25'000 Franken pro Jahr nicht zu haben. Im akademischen Jahr 2009/10 studierten aber bereits 230'000 Chinesinnen und Chinesen im Ausland (u.a. auch in der Schweiz), und nach Schätzung von Experten werden es 2014 über eine halbe Million sein.
In China jedenfalls werden ab heute bis am Donnerstag über neun Millionen Chinesinnen und Chinesen im ganzen Lande die Universitäts-Prüfung ablegen. Nicht ganz sieben Millionen werden bestehen. Sie werden aber in der „sozialistischen Martwirtschaft chinesischer Prägung“ – im Unterschied zu kaiserlichen Zeiten mit einem garantierten Beamtenstatus – nach dem Universitätsstudium nicht mit Sicherheit einen Arbeitsplatz finden. Nur drei von vier diplomierten Hochschülern nämlich findet nach Abschluss des Studiums auch einen Job.