In windeseile verbreitete sich die Meldung des renommierten chinesischen Wirtschaftsmagazins „Caijing“. Das parteiamtliche Dementi folgte auf dem Fuss. Nichts, gar nichts sei dran an diesem „Gerücht“. Es ging schliesslich um die Hauptstadt Chinas, ja der Welt.
Ziemlich unspektakulär und sachlich wurde im sowohl in China auch als im Ausland seiner Recherchen und seiner Sachkenntnisse wegen weit respektierten Finanz- und Wirtschaftsmagazin „Caijing“ Vor- und Nachteile der Megalopolis Peking als Hauptstadt der Volksrepublik China abgehandelt. In Baoding, nur 140 Kilometer nordöstlich von Peking und in Langfang, mitwegs zwischen Peking und der Hafenstadt Tianjin, sollte als „erste Wahl“ ein „politisches Ausweichszentrum“ geschaffen werden. Die derzeitige Hauptstadt sei heillos überfordert mit gigantischen Verkehrsstaus, schlechter Luft, zu wenig Wasser und einem rasanten Bevölkerungswachstum. Die auf „vertraulichen Quellen“ basierenden News schlugen medial-digital wie eine Bombe ein. Deshalb wurde die Kunde von der, wie es nun plötzlich hiess, „Verlegung der Hauptstadt“ umgehend und autoritativ dementiert. Auch in Baoding oder Langfang wollte niemand etwas von den Umzugsplänen wissen. An den Börsen freilich reagierten die Papiere von Immobilien und Infrastruktur im Hoch.
Dabei wäre das Dementi in dieser Form gar nicht nötig gewesen. Denn im Zuge der von der Zentralregierung geplanten Urbanisierung in den nächsten zwei Jahrzehnten machte das von „Caijing“ beschriebene Vorhaben durchaus Sinn. Derzeit lebt in China knapp über die Hälfte der Bewohner in Städten. Bis 2020 soll der Anteil 60% und bis 2025 70% betragen. Allein bis in sechs Jahren sollen nach diesem Masterplan rund 100 Millionen Chinesinnen und Chinesen in die Grossstädte strömen. Dazu braucht es nicht nur eine Reform des für Landbewohner hinderlichen Niederlassungsrechts (Hukou) sondern auch mehr Stadtplanung, mehr Infrastruktur und Verbesserungen des noch immer sehr weitmaschigen sozialen Auffangnetzes. Teil dieses nationalen Urbanisierungsplans ist auch die Weiterentwicklung der Metropolitanen Region Beijing-Tianjin-Hebei und mithin auch der beiden Grossstädte Baoding und Langfang. Staats- und Parteichef Xi Jinping nahm sogar expressis verbis Ende Februar darauf Bezug.
Baoding – das neue Silicon Valley
Baoding ist ja nicht irgendeine mittlere Stadt im Reich der Mitte sondern eine 11-Millionen-Agglomeration. Zudem kann Baoding, erstmals vor über zweitausend Jahren erwähnt, auf eine ebenso lange Geschichte zurückblicken wie Peking. Schon der Name hebt die Bedeutung hervor. Als die Mongolen im 13. Jahrhundert als Yuan-Dynastie China beherrschten, wurde die Stadt zunächst dem Erdboden gleichgemacht, danach wieder aufgebaut und mit dem Namen „Baoding“ belegt, was soviel heisst wie die „Hauptstadt verteidigen“. Baoding blieb danach während der Ming- und der Qing-Dynastie strategisch, jedoch auch kulturell von Bedeutung. Sowohl der „Grosse Steuermann“ Mao Dsedong als auch sein nationalistischer, feindlicher Konkurrent Chiang Kai-shek waren über Baoding nur des Lobes voll. 1906 entstand dort die erste moderne Militärakademie Chinas, und Mao unterrichtete in den 1920er-Jahren an der Yude-Mittelschule kommunistische Kader, die zum Studium nach Europa und vor allem nach Frankreich entsandt worden sind. Heute ist Baoding Standort der 38. Mechanisierten Armeegruppe, eine von drei Eliteeinheiten der Volksbefreiungsarmee, die für die Verteidigung der Hauptstadt Beijing verantwortlich ist. Baoding ist auch wirtschaftlich wettbewerbsfähig. Dasselbe lässt sich von der 3,5 Millionen-Metropole Langfang sagen. Dort sind im letzten Jahrzehnt allein mit einem Aufwand von drei Milliarden Yuan mehrere Universitäten und Wirtschaftszonen entstanden. Heute gilt der Ort zwischen Peking und Tianjin als neues „Silicon Valley“ Chinas.
Sandsturm über Peking
Durchaus denkbar also, dass trotz Dementi ein Teil der Hauptstadt-Aufgaben und Dienstleistungen ausgelagert wird. Die Diskussion um eine Verlagerung der Hauptstadt Peking ist zudem auch nicht gerade neu. Seit Beginn der Wirtschaftsreform vor 35 Jahren ist es ein Dauerthema. Bereits 1980 hat Professor Wang Ping von der „Wirtschaftsuniversität der Hauptstadt“ eine Verlagerung vorgeschlagen. Vor acht Jahren, eben fegte einer der gefürchteten Stürme mit Sand aus der Wüste Gobi über Peking, forderten am Nationalen Volkskongress immerhin 479 von 3‘000 Abgeordneten in einer Motion die Verlagerung der Hauptstadt. Hu Xingdou, Professor an der „Technischen Universität Peking“, schrieb in einem Brief an die Zentralregierung und den Nationalen Volkskongresse: „Das ökologische Umfeld in Nordchina steht am Rande des Zusammenbruchs. Wir schlagen deshalb vor, die politische Hauptstadt von Peking nach Zentral- oder Südchina zu verschieben“. Die Wissenschaftler Qin Fazhan und Hu Xingdou schrieben vor sechs Jahren in einem ausführlichen, gelehrten Artikel, dass es das Beste wäre, eine neue administrative Hauptstadt zu bauen. Selbstverständlich bleibe gleichberechtigt Shanghai das wirtschaftliche und Peking das kulturelle und technologische Haupt des Reichs der Mitte. Dieses Konzept wird noch heute unter dem Slogan „Ein Land, drei Hauptstädte“ diskutiert.
Peking - „die nördliche Hauptstadt“
Mehrere Provinzen und über ein Dutzend Millionenstädte bringen sich, meist über die digitalen und sozialen Medien, ins Hauptstadtgespräch. Auch das ist – wie so vieles in China – nicht wirklich neu. Schliesslich gab es neben Beijing – wörtlich „die nördliche Hauptstadt“ – in den letzten zweitausend Jahren unter anderem auch Nanjing, die südliche Hauptstadt, Dongjing, die östliche Hauptstadt (heute Kaifeng) und Xijing, die westliche Hauptstadt (heute Xi’an). Die neue Kapitale könnte nach Vorschlägen von Bloggern logischerweise deshalb auch Zhongjing, die zentrale Hauptstadt heissen. Eher patriotisch eingestellte Netzschreiber haben jedoch den wohl ultimativen Namen gefunden: Hauptstadt des Meisters Kong, Konfuzius-City nämlich.
Für einmal ist China mit der Diskussion um die Hauptstadt keine Ausnahme. Aus vielen Gründen und zu unterschiedlichen Zeiten wurden Kapitale verschoben, aufgeteilt oder neu gebaut: In Amerika von New York über Philadelphia schliesslich 1800 nach Washington D.C; in Brasilien von Salvador da Bahia über Rio de Jianero 1969 nach Brasilia; in Nigeria von Lagos 1991 nach Abuja; in Kasachstan von Alma-Ata 1997 nach Astana; in Deutschland von Bonn 1994 bis 1999 zurück nach Berlin oder in Myanmar 2006 von Yangon nach Naypidaw. Die Schweiz erhielt dank der Französischen Revolution 1798 mit Aarau seine erste Hauptstadt. Bern wurde nach Gründung des Bundesstaates 1848 in Konkurrenz zum schon damaligen Wirtschaftszentrum Zürich und zum zentral gelegenen Luzern vom Parlament zwar offiziell nicht zur Haupt-, immerhin aber – es lebe der kleine Unterschied – zur Bundesstadt erkoren. Ähnlich wie China könnte man aber auch in der Schweiz vom Prinzip „Ein Land, drei Kapitale“ sprechen: Bern als Verwaltungszentrum, Zürich als Wirtschaftszentrum und Basel als Zentrum von Kultur und (Pharma)Technologie. In all den genannten Beispielen sind aber mehrere hoheitliche Verwaltungsaufgaben auch auf andere Städte verteilt. In der Schweiz etwa das Bundesgericht nach Lausanne, das Bundesverwaltungsgericht nach Luzern, das Bundesstrafgericht nach Bellinzona und so weiter, und so fort.
Peking, Baoding und Langfang also sind – trotz parteilichem Dementi – weit davon entfernt, eine Ausnahme zu sein.