Italiens Ministerpräsident hat wohl vor den Richtern mehr Angst als vor der zerstrittenen Opposition. Müsste er vor Gericht, sieht es bitter für ihn aus. Das weiss er. Deshalb versucht er, jeden Prozess zu verhindern. Im vergangenen März setzte er im Parlament ein Gesetz durch, das ihm Immunität garantiert, zumindest für anderthalb Jahre. Damit wurden alle Strafverfahren gegen ihn blockiert.
Doch die Mailänder Staatsanwaltschaft reichte beim italienischen Verfassungsgericht Beschwerde ein. Die Staatsanwälte argumentierten, dass die beschlossene Immunität die Verfassung verletze. Ab heute Dienstag, 09.30 Uhr, debattiert das Verfassungsgericht, ob das Immunitätsgesetz verfassungswidrig ist. Der Entscheid soll am Donnerstag bekannt werden. Wird das Gesetz gekippt, droht Berlusconi eine Welle von Prozessen. Es geht vor allem um die Prozesse Mills, Mediaset und Mediatrade. Vor allem aber geht es um Bestechung und Steuerhinterziehung.
Di Pietro: „Nur ein krankes Hirn…“
Berlusconi rechnet schon seit Tagen mit einer Niederlage. Wieder hört man den gleichen Refrain: Wer gegen ihn ist, ist ein Kommunist oder ein Verräter. Die „ewigen Kommunisten“ hätten ein Komplott gegen ihn geschmiedet. Ihre Richter wollten ihn „stürzen, ins Gefängnis werfen oder ins Exil treiben wie Craxi“, sagte er in der Sendung „Kalispera“ auf seinem Fernsehsender Canale 5. Wenn das Gesetz aufgehoben würde, werde er alles über die 15 Verfassungsrichter erzählen, und die müssten „sich schämen“. Der Präsident des italienischen Richterverbandes, Luca Palamara, sagte, Berlusconi habe keinen Respekt vor den Institutionen. Und Ex-Staatsanwalt Antonio Di Pietro meint: „Nur ein krankes Hirn kann sagen, die Richter seien Kommunisten“.
Berlusconi hasst die Richter seit Jahren. „Die Justiz ist ein Krebsgeschwür des Rechtsstaates, das müssen wir ausrotten“, hatte er schon 2002 gesagt. Vor kurzem doppelte er nach: „Diese Richter sind doppelt verrückt, einerseits weil sie politisch verrückt sind und anderseits, weil sie ohnehin verrückt sind“.
Diese Richter könnten zur Ansicht gelangen, dass ein Gesetz nicht reicht, um dem Ministerpräsidenten Immunität zu gewähren. Dazu bräuchte es mehr, nämlich eine Verfassungsänderung. Eine solche jedoch kann Berlusconi kaum erreichen, denn dazu braucht es im Parlament eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Berlusconis Partei verfügt jedoch in der Abgeordnetenkammer im Moment nur über eine Mehrheit von drei Stimmen.
“Natürlich sind alle gleich, aber ich bin ein bisschen gleicher“
Die Richter könnten auch argumentieren, dass eine Immunität Berlusconis gegen den Gleichheitsgrundsatz verstösst. Schon zwei Mal, 2004 und 2009, hatte das Verfassungsgericht ein Immunitätsgesetz gekippt, das auf den Ministerpräsidenten zugeschnitten war. Berlusconi sagte einst zynisch: „Natürlich sind alle vor dem Gesetz gleich, aber ich als Ministerpräsident bin ein bisschen gleicher“.
Schon der offizielle Titel des Immunitätsgesetzes ist seltsam. Es heisst „Legitime Verhinderung“ (Legittimo impedimento). Wenn ein Gesetz sich "legitim" nennen muss, lässt das aufhorchen.
Die Aufhebung von Berlusconis Immunität wäre ein weiterer schwerer Schlag für den angeschlagenen Regierungschef. Der Strahlemann strahlt zwar noch immer in die Kameras, doch seine Position wackelt. Mit einer Drei-Stimmen-Mehrheit kann man nicht regieren. Im Parlament befindet er sich in einer Art Geiselhaft und hängt vom guten Willen des Koalitionspartners Lega Nord ab. Um politisch überleben zu können, muss er der fremdenfeindlichen Lega Konzessionen machen, die er eigentlich nicht machen will. Die Wirtschaft und die Kirche haben sich von ihm abgewendet.
Ultimatum der Lega Nord
Und dennoch: Er ist noch immer da. Sicher würde es ihm gelingen, die Prozesse, die gegen ihn laufen werden, zu verzögern. Längst haben sich die Italiener daran gewöhnt, dass ihr Ministgerpräsident in kriminelle Machenschaften verwickelt ist. Dass er jetzt die Immunität verlieren könnte, ändert wenig an seinem Ruf.
Verliert Berlusconi, steht schon heute fest, wie er das Verdikt kommentieren wird. „Es handelt sich um ein politisches Urteil. Die Kommunisten wollen mich stürzen. Ich lasse mich nicht beirren, ich werde meinen Reformprozess weiterführen und weiterregieren. Die Wähler haben mir 2008 den Auftrag dazu gegeben“.
Die Aufhebung des Immunitätsgesetzes würde Berlusconi nicht unmittelbar stürzen. Wenn er stürzt, so stürzt er aus andern Gründen.
Die Lega Nord von Umberto Bossi fordert, dass bis zum 23. Januar der Finanzföderalismus eingeführt wird. Wenn nicht, verlangt die Lega Neuwahlen. Doch diese will Berlusconi unter allen Umständen verhindern.
Der Steuerföderalismus brächte das ganze Staatsgefüge ins Wanken. So würden die Einnahmen zwischen Staat, Regionen und Gemeinden neu verteilt. Der Norden würde weniger Steuern zahlen und weniger Geld in den Süden abführen. Berlusconi kann das nicht akzeptieren. Macht Bossi ernst mit seinem Ultimatum oder finden die beiden im letzten Moment wieder einen faulen Kompromiss? Bossi hat Berlusconi schon einmal, 1994, gestürzt.
Hahnenkämpfe bei der Opposition
Gefahr für Berlusconi könnte auch von einem sogenannt Dritten Pol ausgehen. Wenn es der Opposition gelänge, sich zusammenzuschliessen, wäre Berlusconi gefährdet. Doch dieser Pol steht noch lange nicht. Wer macht da mit? Pier Luigi Bersani, der Chef des linken Partito Democratico (PD), der grössten Oppositionsbewegung, versucht den Schulterschluss mit der rechtsstehenden neuen Partei von Gianfranco Fini ("Futuro e Libertà per l'Italia", FLI). Dazu gehören soll auch die API, die Alleanza per l’Italia des früheren Römer Bürgermeisters Francesco Rutelli. Und sogar die süditalienische Autonomiebewegung Movimento per l‘Autonomia (MPA/Bewegung für Autonomie) hat zugesagt.
Bersani will auch die christdemokratische Zentrumspartei UDC von Pier Ferdinando Casini ins Boot holen. Und was ist mit Berlusconis lautestem Gegner, dem früheren Mailänder Staatsanwalt Antonio Di Pietro und seiner Partei „Italien der Werte“ (Italia dei Valori, IdV)? Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass sich die Opposition zusammenraufen kann.
Casini, der Christdemokrat, verlangt bereits den Ausschluss des populären linken Politikers, Journalisten und Philosophen Nichi Vendola – vor allem, weil sich der Apulier offen zu seiner Homosexualität bekennt. Vendola droht schon mit einer Spaltung der Linken und einem Zusammengehen mit Di Pietro. So weit, so schlecht.
Ideologisch könnte man sich vielleicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen. Hauptziel ist es, Berlusconi zu stürzen. Alle andern Themen würden dem untergeordnet. Doch die Frage ist: Wer wird diesen Dritten Pol anführen? Und da drohen bittere Hahnenkämpfe. Alle oppositionellen Parteiführer sind markante Persönlichkeiten, keiner will dem andern den Vortritt lassen. Fini will sich kaum vom PD-Chef Bersani führen lassen – und Casini nicht von Fini – und Di Pietro ist ohnehin gegen alle.
Könnte man sich – wie spekuliert wird - auf eine überparteiliche Figur einigen, so auf den angesehenen Wirtschaftswissenschafter Mario Monti oder Ferrari-Chef Luca Cordero di Montezemolo? Doch so verführerisch der Name Montezemolo klingt: als grosser Leader hat er sich bisher nicht entpuppt. Mit der Bewegung "Italia Futura" hat Montezemolo jetzt eine Art Graswurzel-Forum geschaffen, auf dem ein Erneuerungsprozess des Landes diskutiert und in Gang gesetzt werden soll. Dies könnte dazu beitragen, ihn als Oppositionsführer aufzubauen.
In keinem Land wechseln Politiker so unverfroren ihr Hemd
Die Opposition ist es also wohl noch kaum, die Berlusconi unmittelbar gefährdet. Sein Ziel ist es, baldige Neuwahlen zu vermeiden. In Meinungsumfragen sinken seine Werte. Zwar würde er im Abgeordnetenhaus noch immer am meisten Sitze gewinnen, doch im Senat würde er wohl die Mehrheit verlieren. Das würde das Regieren fast unmöglich machen.
Deshalb spielt er auf Zeit. Sein Koalitionspartner, die Lega Nord, befindet sich im Steigflug und möchte deshalb schnelle Neuwahlen, möglichst in diesem Frühjahr. Berlusconi möchte diese Neuwahlen auf mindestens Frühjahr 2012 hinausschieben.
Prognosen sind in Italien auch deshalb schwierig, weil Bekenntnisse, Versprechen und Schwüre morgen oft nicht mehr gelten. In keinem andern Land wechseln Politiker so unverfroren schnell ihre Standpunkte und ihr Hemd. Wenn Bossi heute schwört, Berlusconi nicht fallen zu lassen, könnte er das morgen trotzdem tun. Wenn Casini beteuert, Berlusconi stürzen zu wollen, könnte er ihn morgen stürzen. Und wenn Berlusconi heute Fini hasst, könnte er ihn morgen wieder ködern. Gibt Berlusconi bei Sachfragen wie der Wahlrechtsreform nach, könnte er durchaus bis 2013 im Amt bleiben.
„Ich bin der Jesus Christus der Politik“
Berlusconi hat begonnen, seine Partei neu aufzubauen. Er will ihr ein neues Führungsteam und einen neuen Namen geben. Aus PDL („Popolo della Libertà“) soll „Populari“ werden. Er ist auch eifrig dabei, seine hauchdünne Mehrheit von drei Stimmen zu erweitern. Dass er versucht, Abtrünnige anderer Parteien mit Geld, Versprechungen und Vergünstigungen zu ködern, liegt auf der Hand. Vor allem aber will er auch die Zentrumspartei UDC, die früheren Christdemokraten (DC), einbinden. Einfach wird das nicht sein, denn die UDC fordert eine Wahlrechtsreform, die Berlusconi bei künftigen Wahlen schwächen würde.
Sein Ziel ist klar: Er will mindestens ein Jahr durchhalten und dann eine neue Koalition bilden. Diese würde dann auch 2013 den neuen Staatspräsidenten wählen: nämlich ihn selbst.
Den Traum vom Quirinal, dem Sitz des Staatspräsidenten, hat Berlusconi noch längst nicht aufgegeben. Das Immunitätsgesetz, das er im vergangenen März durchbringen liess, schützt übrigens nicht nur den Ministerpräsidenten vor Strafverfolgung, sondern auch den Staatspräsidenten. Berlusconi plant weitsichtig. Wie sagte er doch: „Ich bin der Jesus Christus der Politik“. Oder: „Nur Napoleon hat mehr erreicht als ich, doch ich bin definitiv grösser“.