Gisela Blau: Welche Geschichte erzählt der nächste Luzerner „Tatort“?
Delia Mayer: Ich mache es mal spannend: Es geht darum, dass Menschen nicht immer die sind, für die man sie hält.
Aber es gibt doch sicher einen Mord?
Ja klar, wie immer beim „Tatort“.
Wer ist der Mörder?
Liz Ritschard weiss bis zum Schluss des Films nicht, wer der Mörder ist. Und Delia Mayer sagt es ihr nicht!
Steht in Ihrem Vertrag, dass Sie die Handlung des Films nicht ausplaudern dürfen?
Es ist doch klar, dass Cast und Crew nicht über den Film sprechen. Wir bekommen das Drehbuch erst einige Wochen vor dem Drehstart, also müssen wir gar nicht so lange Stillschweigen bewahren. Wir reden ohnehin nur mit den Beteiligten darüber. Ich rede auch lieber über andere Dinge.
Zum Beispiel?
Über meine Arbeit ganz allgemein, über Sachen, die mich bewegen, etwa über das Weltgeschehen.
Einsame Wölfin
Über Ihren Krimi-Kollegen, Kommissar Reto Flückiger alias Stefan Gubser, weiss das Publikum immerhin ein wenig. Von Komissarin Liz Ritschard weiss man gar nichts, ausser dass sie im Fasnachts-„Tatort“ einen lesbischen One-Night-Stand hatte.
Das ist die Entscheidung der Redaktion.
Warum haben praktisch alle TV-Kommissare irgendeinen Knacks? Die meisten leben allein, haben gescheiterte Beziehungen, trinken oder gehen zum Psychiater.
Gibt es Menschen, die keinen Knacks haben? Kaum denkbar. Andererseits: Ist es interessant, einen Film anzuschauen oder ein Buch zu lesen über Leute, die perfekt sind? Das gibt doch keine Geschichten, das ist langweilig.
Ihr „Tatort“-Kollege ist Single und wohnt an Bord seines Segelschiffs im Hafen von Luzern. Wo wohnt Kommissarin Liz Ritschatrd?
Liz Ritschard kein sichtbares Zuhause zu geben, ist ebenfalls eine Entscheidung der Redaktion.
Ist sie auch Single?
Liz Ritschard ist Single, ebenfalls eine einsame Wölfin. Sie hat sporadisch, wenn überhaupt, kurze Beziehungen zu Frauen.
Schon vor dem Beginn der Luzerner „Tatort“-Reihe vor sechs Jahren spielten Sie in zahlreichen TV-Krimis. Liegt das am Angebot oder an Ihrer Vorliebe?
Zufall! Oder auch nicht? Kommissarin war ich nur einmal vor dem „Tatort“, aber vielleicht bekam ich solche Angebote, weil ich als Schauspielerin über Eigenschaften verfüge, die einer Polizistin zugeschrieben werden, etwa notorische Neugierde, immer alles wissen zu wollen, was dahinter steckt und wie die Zusammenhänge verlaufen.
Komplexe emotionale Rollen
Mit diesen Eigenschaften hätten Sie auch eine Journalistin spielen können.
Warum nicht? Das alles interessiert mich auch als Mensch. Es ist wohl in meinem Gesicht zu sehen, und vielleicht wurde ich deswegen mehrmals als Polizistin besetzt.
Wären Sie nicht auch gerne mal statt der Polizistin ein Opfer oder eine geheimnisvolle Verdächtige?
Ich spiele gerne eine Polizistin und die Kommissarin. Aber natürlich spiele ich auch gerne andere Rollen, wenn sie über Komplexität verfügen und das Potential haben, emotional zu berühren. Und die Geschichte muss interessant sein.
Bekommen Sie als Schauspielerin dafür genügend Spielraum?
Beim Spielen habe ich immer Freiraum, auch teilweise bei den Dialogen. Je nach Drehbuch und Regisseur kann auch mehr einfliessen. Aber die grundsätzlichen Dinge sind vorgegeben.
Genderthematik nicht passé
Viele Frauen spielen TV-Kommissarinnen und -Polizistinnen. Ist dieser Beruf nicht zu brutal und zu anstrengend für eine Frauenfigur? Oder ist diese Meinung passé und Frauen sollen auf dem Bildschirm alles tun, was auch Männer darstellen?
Das Genderthema ist überhaupt nicht passé. Es zieht sich noch immer durch alle Bereiche. Gerade der Krimi ist eine von Männern dominierte Domäne, in der sich eine richtige Polizistin, aber auch eine Schauspielerin durchsetzen muss – wie überall. Liz Ritschard ist so geschrieben, dass sie im Film tendenziell eher den Männern zudienen soll, mit denen sie zusammenarbeitet. Das ist ein ewiges Thema. Da lege ich mich schon mal ein wenig quer beim Drehen oder bei den Vorbereitungen.
Eigentlich sind Sie auch eine ausgebildete Sängerin. Haben Sie neben Dreharbeiten noch Zeit für die Musik?
Ich kann mich zeitlich gut aufteilen. Letztes Jahr drehte ich ausser den beiden jährlichen „Tatort“-Folgen einen Kinofilm, in dem ich eine Sängerin spiele – es ist Rolf Lyssys neuester Film „Die Letzte Pointe“, der demnächst am Zürcher Film-Festival und vom November an in den Kinos zu sehen sein wird; dafür habe ich eigene Songs beigesteuert, die die Figur Meret an ihren Konzerten im Film singt und am Kontrabass spielt. Das macht Spass, wenn es zusammenkommt. Dann habe ich noch mitten in diesen Dreharbeiten in Deutschland Bertolt Brechts „Die sieben Todsünden“ mit grossem Orchester gesungen. Das war dann aber schon alles etwas eng.
Welche Singstimme haben Sie?
Als ich jünger war, sang ich Sopran. Jetzt singe ich lieber Mezzosopran.
Ihr Vater spielt Kontrabass, Ihr Bruder ist Schlagzeuger, mit beiden haben Sie schon für Studioaufnahmen gearbeitet. Spielen Sie auch ein Instrument?
Ich spiele immer noch Klavier, aber nicht besonders gern. Seit zwei Jahren spiele ich Kontrabass.
Wie der Vater.
Er hat ihn mir geschenkt.
Wieso kamen Sie in Hongkong zur Welt?
Weil meine Eltern gerade dort lebten und arbeiteten. Als ich knapp zwei Jahre alt war, kehrten wir in die Schweiz zurück. Ich habe viele Bilder von Hongkong im Kopf, von Fotos und Super-8-Filmchen, aber leider keine persönliche Beziehung. Ich hätte bis zum Jahr 1995 jederzeit Papiere als Bürgerin des Commonwealth und britische Bürgerin beantragen können, das ging aber leider irgendwie unter und ich reise nur mit meinem Schweizer Pass.
Können Sie Chinesisch?
Yih, sàam, sei, ng´h, luhk, chàt, baat, baat, gáu, sahp – nein, dazu lebte ich zu wenig lange dort. Mein Vater spricht aber immer noch etwas Kantonesisch.
Sind Sie sprachlich an den deutschsprachigen Raum gebunden?
Überhaupt nicht. Ich habe schon auf Französisch, Englisch, Italienisch und Holländisch gespielt und gesungen. Diese Sprachen beherrsche ich, und in diesen Ländern kann ich arbeiten. In Holland zum Beispiel habe ich zwei Jahre lang gewohnt. Es ist immer eine Mischung aus Leben und Beruf.
Herausfordernde Synchronisation
Sie sprechen jeden Luzerner „Tatort“ zweimal, einmal auf Schweizerdeutsch, einmal in der Schriftsprache. Bedeutet das nicht eine doppelte Arbeit?
Ich verbringe anderthalb bis zwei Tage im Synchronstudio, um die Liz Ritschard zu synchronisieren. Das ist eine ganz eigene Arbeit und Herausforderung. Dabei muss man viele Entscheidungen treffen, was im Hochdeutschen funktionert. Schweizerdeutsch und Hochdeutsch sind zwei ganz verschiedene Sprachen, mit anderem Sprachrhythmus, verschiedenen Ausdrucksweisen und Redewendungen, anderer Melodie. Es ist eine Herausforderung, stehend mit den Kopfhörern über den Ohren am Mikrofon äusserst genau die Nuancen zu finden, die beim Spielen automatisch da sind.
Haben Sie wie so viele Schauspielerinnen und Schauspieler eine Sehnsuchtsrolle, die Sie noch nie spielen konnten?
Ich würde gerne biografische Filme drehen über Frauenpersönlichkeiten, etwa über Golda Meir oder Queen Elizabeth, The Queen Mother, über Präsidentinnen, Politikerinnen, andere spannende Figuren. Das wäre eine grosse Herausforderung. Leider liegt die Aufmerksamkeit auch da eher bei Männerschicksalen, dadurch gibt es nicht unzählige Möglichkeiten. Maggie Thatcher wurde bereits von Meryl Streep dargestellt, und Marie-Antoinette habe ich schon auf der Bühne gespielt. Es gibt da allerdings auch eine andere Seite bei mir, den Schabernack und das Absurde. Ich habe immer Lust auf humorvolle Rollen und es wäre wunderbar, ein Fabelwesen darzustellen, am liebsten ein fieses.
Haben Sie Lust, Regie zu führen?
Bei meinen eigenen musikalischen Projekten gestalte ich das Ganze von A bis Z selber, natürlich in Zusammenarbeit mit meinen Musikern. Ich habe neben den Film-Drehs, die immer grosse und auch eher träge Apparate sind, Lust auf schlanke und bewegliche Projekte. Aber wenn das Richtige kommt, dann würde ich zupacken.
Es heisst, TV-Filme würden heute eher an einem Stück gedreht, ohne Wiederholung von Szenen.
Auch wir beim „Tatort“ stehen natürlich unter Zeitdruck, aber wir verfügen über mehr Zeit als bei anderen TV-Produktionen. Man kann davon ausgehen, dass eine Szene zwei- bis siebenmal wiederholt wird.
Politisches Engagement
Sie engagieren sich auch politisch. Sind Sie ein politisch denkender Mensch?
Ich bin ein politisch fühlender Mensch. Ich setze mich ein, wenn mir etwas wichtig ist, beispielsweise die Menschenwürde.
Sie treten dagegen an, dass Ihr Wohnkanton Zürich abgewiesenen Asylsuchenden, die nicht ausgeschafft werden können, keine Sozialhilfe mehr leisten will.
Da bin ich total dagegen. Ich unterstütze ein Komitee, das diese Vorlage ablehnt. Am 24. September findet die Abstimmung statt. Ich stelle fest, dass viele Menschen sehr emotional reagieren, aber nicht richtig informiert sind und sich von Angst steuern lassen. Ich bin auf verschiedenen Ebenen tätig, in direkten Begegnungen mit Flüchtlingen, am Schreibtisch, informativ auf der Strasse oder auf Sozialmedien.
Kommissarin Liz Ritschard ist an Informationsständen beim Verteilen von Flyern anzutreffen?
Ich habe schon früher Flyer verteilt. Es ging dabei meist um das Thema Flüchtlinge. Es fliehen so viele Menschen in die westliche Welt, die Schweiz ist nur eines der Länder. Ich sehe das als direktes Erbe der Kolonialisierung und unseres westlichen Wirtschaftssystems, von dem die „erste“ Welt profitiert. Ich fühle mich in der Schuld. Hilfe ist klar ein Fass ohne Boden, und dennoch fühle ich mich dazu verpflichtet, denn ich habe einfach nur Glück, dass ich hier mit einem Schweizer Pass leben kann und nicht auf Hilfe angewiesen bin. Das Thema ist sehr komplex. Wenn ich in einem Notzentrum helfe, denke ich immer, es könne doch nicht sein, dass 15 Minuten von meinem Wohnort entfernt für Menschen Lebensbedingungen herrschen, die wir uns selber niemals zumuten würden. Da kann ich nicht wegschauen.
Schauspieler helfen häufig grosszügig. Sandra Bullock will jetzt eine Million Dollar für die Hurrikan-Opfer spenden.
Das kann ich leider nicht. Aber ich kann im Notzentrum Lebensmittel verteilen, die wir von Grossverteilern geschenkt erhalten. Wir dürfen vor der Realität nicht die Augen verschliessen. Mir ist das Privileg bewusst, einen Job zu haben, für den ich respektiert werde und in einem sicheren Land zu leben.
Welche beruflichen Ereignisse stehen Ihnen bevor?
Die Ausstrahlung des neuen „Tatorts“ diesen Sonntag, die Vorbereitung für die Dreharbeiten des nächsten im Herbst, ein Konzert mit meinem Crime-Song-Programm und die Premiere des neuen Films von Rolf Lyssy, auf die ich mich sehr freue.
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Die neueste Folge des Luzerner „Tatort“ wird am Sonntagabend, 17. September, ausgestrahlt.