Unter dem Titel «Blicke auf die koloniale Schweiz» legt der Basler Historiker Georg Kreis eine konzise Darstellung vor, wie und durch wen die Schweiz mit dem europäischen Kolonialismus verbunden war. Das Thema rückt heute zunehmend in den öffentlichen Fokus.
Im Nachwort zeigt Kreis auf, wann und wie er persönlich für dieses Thema sensibilisiert wurde. Ähnliche Aha-Erlebnisse dürften sich auch bei anderen Schweizerinnen und Schweizern einstellen, wenn sie sich mit dem Kolonialismus befassen. Dem Schreibenden ist in Erinnerung, wie ihn der Präsident von Singapur lächelnd daran erinnerte, wie er als blutjunger indischstämmiger Bürogehilfe während des Zweiten Weltkrieges beim damaligen Präsidenten des Schweizer Clubs kolonialer Herablassung und entsprechender Behandlung begegnet war. Die vom Zürcher Historiker Jakob Tanner geprägte Formel «Kolonialismus ohne Kolonien» ist ein Begriff, welcher die formale Nicht-Kolonialmacht Schweiz treffend umschreibt.
Ein Verdienst von Kreis’ Werk ist zunächst die einführende Zusammenstellung aller wichtigen Veröffentlichungen zu diesem indirekten schweizerischen Kolonialismus. Daran anschliessend erwähnt er im Kapitel «Siedlungskolonisationen» insbesondere die in Brasilien gelegenen Auswandererkolonie Nova Friburgo, in der die Familiengeschichte zahlreicher Freiburgerinnen und Freiburger auch noch heute präsent ist. Wenig bekannt dürfte sein, dass sich unter den nach der Unabhängigkeit Algeriens verfemten Pieds noirs auch recht viele, im 19. Jahrhundert mit offizieller Förderung angesiedelte Schweizer Bürger befanden.
Kolonialer Akteur Schweiz
Im Kapitel zur schweizerischen Missionstätigkeit in den Kolonien geht Kreis insbesondere auf die Basler Mission und die damit verbundene Missions-Handlungsgesellschaft ein. Letztere ist ein schönes Beispiel, wie schweizerischer Kolonialismus von schon damals geförderter Aussenwirtschaftstätigkeit unterfüttert wurde. Unter dem Titel «Solddienste» interessant ist der Verweis auf die rund 8000 (!) schweizerischen Fremdenlegionäre, welche noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Solde Frankreichs an den kolonialen Ablösekriegen in Indochina und in Algerien teilnahmen.
In aktueller Perspektive bemerkenswert sind die Ausführungen, wie schon damals die Rolle der offiziellen Schweiz in kolonialen Abenteuern diskutiert worden ist. Berechtigterweise macht Kreis auf die Parallele mit der aktuellen Diskussion um die Konzernverantwortungsinitiative aufmerksam.
Auch hier wieder ein höchstpersönliches Aha-Erlebnis: Auf Ersuchen der Kolonialmächte Frankreich und Spanien stellte die Schweiz 1907 den Generalinspekteur, also den Oberbefehlshaber, der mit der inneren Ordnung beauftragten kolonialen Polizeitruppen in Marokko, das bis zur Unabhängigkeit 1956 von Paris und Madrid regiert wurde. Der dazu auserkorene Oberst Armin Müller war ein Cousin des damaligen Bundesrates Eduard Müller, und damit auch ein Cousin seiner Schwester Johanna Müller, einer Urgrossmutter meinerseits.
Postkoloniale Sensibilisierung
Vollends in der Gegenwart landet Kreis im letzten Kapitel. In der Folge von «Black Lives Matter» ist auch in der Schweiz die Diskussion entbrannt, ob und wie manchen bislang unangefochtenen Vorfahren ein Platz im öffentlichen Raum zukommt. So wurde etwa eine Stadtanlage in Neuchâtel, vorher dem Geologen Louis Agassis gewidmet, von dem heute rassistische Schriften bekannt sind, nach Tilo Frey, der ersten nichtweissen Nationalrätin der Schweiz umbenannt.
Ein ähnlicher Fall: David de Pury (1709–1786), aus Neuchâtel stammender Bankier, Diamanten- und Sklavenhändler in portugiesischen Diensten: Sein Denkmal steht noch in seiner Heimatstadt, der er sein Vermögen vermacht hatte. Es ist aber mit einer Tafel versehen worden, welche auf koloniale Verstrickungen in der Geschichte der Stadt hinweist.
Aufarbeitung von Vergangenheit
Von da ist es für den Autor lediglich ein berechtigter Schritt zu den erst gerade begonnenen Kampagnen zur Rückführung von Kunstgegenständen aus schweizerischen Museen in ehemalige europäische Kolonien. Zu Rückführungen allgemein verfügt Georg Kreis über umfassendes Fachwissen, auch als Mitglied der strategischen Leitung der vom Bundesrat eingesetzten, von 1996–2002 arbeitenden Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg.
Parallel dazu fanden bekanntlich die Verhandlungen über die nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern statt, welche 1998 zur Zahlung von 1,25 Mia. Franken schweizerischer Banken an Hinterbliebene führten. Ein Meilenstein in der zeitgenössischen Schweizer Geschichte, ebenso wie die damit zwar nicht formell, aber doch ideell verwandte Aufhebung des Bankgeheimnisses im Jahre 2014.
Georg Kreis: Blicke auf die koloniale Schweiz. Ein Forschungsbericht. Chronos Verlag, 2023, 227 Seiten