Frankreich und Grossbritannien hatten schon seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, vom Beispiel der Portugiesen und Niederländer angefeuert und ermutigt, in fernen Kolonien wundersame Dinge zu entdecken begonnen, die sie bei sich vermissten.
Das aufregendste Dokument einer Reflexion über eine solche «Kulturbegegnung» sind in meinen Augen nach wie vor die «Lettres persanes» des politischen Philosophen und Schriftstellers Baron de Montesquieu (1689–1755). Die 161 Briefe erschienen bereits 1721 als ein anonymer Briefroman. Zwei fiktive Perser, Usbek und Rica, reisen von Isfahan über die Türkei nach Livorno und weiter über Marseille nach ihrem Reiseziel Paris.
In Berichten an Freunde und Vertraute, Haremswächter und Geliebte in Persien oder an einen Vertrauten in Venedig teilen die beiden Reisenden mit, was ihnen in Frankreich auffällt, was ihnen wunderlich oder lächerlich erscheint, was sie missbilligen oder gar inakzeptabel und verwerflich finden. Ein Teil der Briefe besteht auch aus Antworten, die die beiden Reisenden von ihren Briefpartnern erhalten.
Montesquieu setzt uns ein grossartiges Kaleidoskop aufklärerischer Relativierung des Eigenen durch Schilderungen von sichterweiternden Alternativen und Lebensprioritäten vor.
Die Oper wird «fernsüchtig»
Bereits im 17. Jahrhundert wird die Lust auf anders klingende exotische Welten in der neu entstandenen musikdramatischen Gattung Oper spürbar. Im 18. und erst recht im 19. Jahrhundert wird diese voll durchbrechen. Orientalismen, modische Chinoiserien, Japanbegeisterung ebenso wie Faszination für rätselhaft wilde Azteken, Mongolen, Tataren und für ferne Insulaner aller Couleurs erobern die europäischen Bühnen.
Der italienische Verismus, aber auch der russische Realismus dringen in Bereiche vor, welche die tragischen Aspekte und die Missverständnisse von Kulturbegegnungen und unvermeidlich daraus sich ergebende Konflikte ins Zentrum stellen. Den Zauber von «Tausendundeiner Nacht» zu entdecken und deren Sinnlichkeit zu erleben ist das eine. Ein anderes ist es, die Sitten und Bräuche, die Riten und Konventionen, die religionsbedingten Praktiken und ideologischen Fixierungen fremder Kulturen auch zu akzeptieren. Puccinis «Madame Butterfly» ist zur bekanntesten Unglücksgeschichte kolonial-kultureller gegenseitiger Fehleinschätzungen geworden.
In Frankreich hat ein sehr verwandter Stoff Eingang ins Opernrepertoire gefunden. Hier geht es nicht um den «Zivilisations-Clash» zwischen der traditionellen japanischen Kultur und neuzeitlichen christlich-amerikanischen Konventionen, sondern um die Liebesgeschichte und den Konflikt zwischen einem britischen Offizier und der Tochter eines brahmanischen Priesters, der ein Paria ist, also ein kastenloser, am Rande der Gesellschaft lebender Mann, der fundamentalistisch unverrückbar an seinen Göttern festhält.
Auch hier steht die Liebesbeziehung zwischen jungen Menschen, die bereit sind, zu neuem Glück aufzubrechen, auf verlorenem Boden. Der britische Offizier wird als Kolonisator mit seiner Truppe weiterziehen, die Priestertochter wird eine giftige Pflanze zu sich nehmen, um in den Armen des Offiziers Gérald zu sterben. Der Brahmane, der seine Tochter immer schon mehr im Dienst und in Gesellschaft von Göttern und nicht unter Menschen weilend sehen wollte, jubelt über die tödliche Wendung der Dinge.
Léo Delibes (1836–1891) war ein hochbegabter Komponist, Theatermann, Ballettexperte und Orchestrierungsmeister. Mit seiner Oper «Lakmé» – nach einem Libretto der beiden Franzosen Edmond Gondinet und Philippe Gille nach einer Romanvorlage von Pierre Loti (Pseudonym für den Marineoffizier Julien Viaud) – gelang ihm 1883 ein Wurf, der ihn zu den erfolgreichsten französischen Opernkomponisten seiner Zeit machte. In Frankreich ist diese Oper nach wie vor beliebt und wird bis zum heutigen Tag von Sängerinnen mit einer virtuosen Kehle als eine äusserst lohnende und publikumswirksame Herausforderung angesehen.
Indische Sinnlichkeit
Der englische Offizier und sein Freund treffen die schöne Lakmé und ihre Dienerin Mallika an einem geschützten Tempelort, in den die beiden kolonialherrenmässig in unerlaubter Weise eindringen. Es dauert nicht lange, bis Lakmé und Gérald sich ineinander verlieben. Er ist hin und weg von der Schönheit und vom Liebreiz dieser jungen Frau. Ihr Vater, der Brahmane Nilakantha, entdeckt jedoch den Eindringling, der fliehen kann, und schwört darauf, diesen Entweiher des für ihn heiligen Gartens zu stellen und zu töten.
Auf einem Marktplatz, wo der Brahmane mit seiner Tochter als bettelnder «Outcast» auftritt, fordert er seine Tochter zum Singen auf, um den verliebten Engländer in sein Netz zu locken. Gérald wird vom Priester und seinen Helfern angegriffen und verwundet. Lakmés Diener Hadji bringt ihn zu einer verborgenen Hütte im Wald, wo Lakmé ihren Freund mit heilendem Wasser zu pflegen sucht. Frédéric, der englische Freund, findet ihn und erinnert den im Sinnenrausch der Liebe befangenen Gérald daran, dass er bereits mit Ellen verlobt ist, und gemahnt ihn an seine Soldatenpflicht und Offiziersehre. Die sterbende Lakmé, die auf einmal erkennt, dass ihr Gérald nicht mehr derselbe zu sein scheint, erinnert ihren rachsüchtigen Vater daran, dass sie und ihr Geliebter vom Wasser der heiligen Quelle getrunken haben und darum von seiner Rache nicht mehr erreicht werden können.
Delibes hat einige grosse Nummern in seine Erfolgsoper eingebaut. Darunter das berühmte Blumenduett von Lakmé und ihrer Dienerin Mallika oder die grosse Koloraturarie der Lakmé aus dem zweiten Akt, die man unter dem Namen Glöckchenarie kennt. Dazu einige Ensemble- und Chorszenen von schlagender Wirkung, die sich bis heute bei Opernliebhabern hoher Beliebtheit und bleibender Hörertreue bei Wunschkonzerten erfreuen.
Die Glöckchenarie
Die oft auch ausserhalb des Operngeschehens als Konzertarie zu erlebende Glöckchenarie stellt die Sängerin vor gewaltige Aufgaben, denen sich Koloratursopranistinnen der Vergangenheit und der Gegenwart – von Joan Sutherland über Mady Mesplé zu Sabine Devieilhe – mit Bravour gestellt haben. In dieser Arie berichtet Lakmé von einem Hindumädchen, Tochter eines Parias, die im Mondschein durch Mimosensträucher übers Moos streift. Obwohl sie von allen gemieden wird, träumt sie von schönen Dingen und lacht in die Nacht hinein. Sie entdeckt einen verlorenen Wanderer, der durch die Nacht irrt und von glitzernden Augen wilder Tiere beobachtet wird, die sich auf ihn stürzen wollen.
Doch da schlägt das Mädchen mit einem Stab auf Zauberglöckchen, die die Gefahr vom Wanderer abwenden. Der Fremde entdeckt, dass er sein Leben dem Mädchen eines Parias verdankt. Sie sinkt in einen Traum, der Wanderer trägt die Träumende in den Himmel. Da erfährt sie, dass es Wischnu war, der Sohn des Brahma, dem sie in der Nacht begegnet ist. Seit dieser Zeit hören die Wanderer im Wald der Hindus manchmal das leichte Geräusch des Stöckchens, mit dem jemand Zauberglöckchen zum Erklingen bringt und Wunder vollbringt.
Wir hören hier eine Konzertaufnahme mit einer der grossen Koloratursopranistinnen französischer Provenienz. Es ist die wunderbare und bis vor kurzem noch aktive Natalie Dessay. Am Pult des französischen Orchesters Colonne steht der Dirigent Bertrand de Billy. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1995.