In den Massen endlos wartender Fluggäste gibt es immer wieder Einzelne, die ausrasten. Unangenehm! Aber haben sie nicht auch ein bisschen Recht? Die Reisebranche suggeriert ja ihren Kunden, als Individuen umworben und nicht etwa Partikel einer amorphen Masse zu sein.
Er führt als angesehener Pferdehändler ein ruhiges Leben, bis ihm auf seinem Weg vom Brandenburgischen nach Sachsen, wohin er einige Reittiere zu liefern hat, der Junker Wenzel von Tronka mit der Forderung nach einem Passierschein in die Quere kommt. Als er sich in Dresden erkundigt, erfährt der Händler, dass er einen solchen gar nicht benötigt. Darauf kehrt dieser zum Junker zurück, um die beiden Pferde abzuholen die er als Pfand dort lassen musste. Doch in der Zwischenzeit hat man seine Tiere derart geschunden, dass sie als Reitpferde nicht mehr zu gebrauchen sind. Kohlhaas als Händler vertraut auf den Schutz von Recht und Gesetz. Er reagiert deshalb besonnen und sucht auf rechtlichem Weg Entschädigung. Doch die Familie der Tronka weiss dies dank ihrer Beziehungen zu vereiteln. Der Pferdehändler verstrickt sich in langwierige und aussichtslose Rechtshändel. Da stirbt aus Kummer seine Frau.
Die Novelle «Michael Kohlhaas» hat Heinrich von Kleist 1810 nach einem historischen Stoff aus dem 16. Jahrhundert gestaltet. Es ist die Geschichte eines zuerst gesitteten, dann zunehmend blindwütigen Aufbegehrens. Vereint mit weiteren Gedemütigten führt Kohlhaas einen Feldzug gegen seinen Peiniger. Schliesslich zieht ein wilder Haufen von Gesinnungsgenossen brandschatzend und plündernd durch Sachsen. Kohlhaas sieht nicht mehr, dass die Obrigkeit das ihm angetane Unrecht schliesslich anerkennt und ihm sogar zu seinem Recht verhelfen will. Statt Recht will er Rache. Am Ende wird Kohlhaas wegen Landfriedensbruchs hingerichtet.
Man kann die Novelle in einem Satz zusammenfassen: Der schikanierte Rosshändler Kohlhaas kämpft um sein Recht, und als er es nicht bekommt, dreht er durch. Doch natürlich ist die Geschichte komplizierter. Kleist zeichnet seinen Protagonisten als widersprüchliche Figur: Einerseits erscheint Kohlhaas als aufgeklärtes Individuum, das auf seinem Stolz und seiner Würde beharrt und sich Willkür und verächtliches Gehabe der Oberen nicht bieten lässt; andererseits ist er ein tief Verletzter und Empörter, der schliesslich in seiner Rachsucht nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden kann.
Solche Leute, die durchdrehen, gibt es heute in Warteschlangen beim Check-in, beim vergeblichen Warten auf das Fluggepäck und bei anderen Misslichkeiten des modernen Konsumentendaseins. Wie in Kleists Novelle ist es auch hier stets der Einzelne, dessen Emotionen von Enttäuschung und Empörung bis zum völligen Ausrasten eskalieren und im Verlust jeglicher Selbstkontrolle enden. Und wie schon Kohlhaas braucht der Tobende (meistens ist es ein Er) die grosse Bühne. Wer nämlich bei der Suche nach Support einsam am Telefon oder am Computer verzweifelt und daher kein Publikum hat, äussert seinen Frust um etliche Stufen weniger dramatisch.
Das inszenierte Austicken im Gedränge der Abflughalle ähnelt dem Kohlhaas’schen Gewaltausbruch mit seinem Schillern zwischen berechtigter Auflehnung und kalkulierter, demonstrativer Grenzverletzung. Wutbürgerinnen und Randalierer finden es in Ordnung, sich nicht mehr im Griff zu haben, sie sehen sich im Recht mit ihrem überschäumenden Zorn, der die Falschen trifft. Dieses subjektive Recht führen sie als unüberhörbares Drama vor der Masse der Leidensgenossen auf, denen sie damit auch zu verstehen geben, mit ihrer geduldigen Trägheit benähmen sie sich wie dummes Herdenvieh.
Die Betretenheit, die solche Kohlhaas-Epigonen bei unfreiwilligen Zuschauern auslösen, hat damit zu tun, dass ihre Ausbrüche durchaus einen empfindlichen Punkt treffen. Das Ausrasten der Wenigen führt den vielen Geduldigen nämlich vor Augen, dass sie in einer Masse gefangen sind. Gemäss ihren Vorlieben und Erwartungen haben sie alle eine Reise ganz individuell ausgewählt. Veranstalter und Carrier warben mit dem Versprechen, ihre Kunden auf Händen zu tragen. Und jetzt stehen sie in einer Masse, die nach undurchschaubaren Regeln stillsteht oder sich in Trippelschrittchen bewegt.
Es ist diese Undurchschaubarkeit, die demütigend wirkt. Zwar haben alle von Personalmangel gehört und von globalen Verkettungen systemkritischer Störungen. Aber die Gründe für den Stau gerade hier und jetzt bleiben für die Betroffenen opak. Sie wissen nicht, ob sie und ihr Gepäck den Flieger erreichen werden. Das erzwungene Warten erscheint ihnen als Betrug: Als Käufer waren sie die umworbenen Individuen; jetzt finden sie sich als belanglose Bestandteile einer zu grossen Masse wieder.
In «Michael Kohlhaas» hat Kleist die Auflehnung gegen den autoritären Geist zur Zeit der Napoleonkriege in historisch verschlüsselter Form dargestellt – die Zensur der Obrigkeit hätte eine direkte Kritik nicht geduldet. Der rebellierende Pferdehändler wird zur tragischen Figur. Dadurch macht Kleist seinen Kohlhaas zum Exponenten eines immerwährenden aufklärerischen Kampfs des Menschen um seine Rechte und seine Würde.
Von Tragik und aufklärerischem Pathos fehlt bei den Kohlhaas-Momenten in den Abflughallen jede Spur. Die Ausrastenden sind eher gekränkte Narzissten, die es nicht ertragen können, mal nicht Nummer eins, sondern vielleicht Nummer 5237 zu sein. Eine Gemeinsamkeit mit Kleists Kohlhaas allerdings haben sie: So wie der schikanierte und betrogene Pferdehändler erkennen muss, dass ihm sein grundlegendes Recht, Rechte zu haben, verwehrt wird, so erfahren die in der Masse eingekeilten Fluggäste, dass grundlegende Versprechen der Konsumgesellschaft sich sehr rasch in Luft auflösen können.
Den Zorn darüber kann man niemandem übelnehmen. Diesen als grosses Drama aufzuführen, allerdings schon.