Roger Köppel schwadroniert und doziert auf allen möglichen Kanälen. Den Putin-kritischen Medien wirft er «moralisierende» oder gar «kriegslüsterne» Berichterstattung vor. Er behauptet, die Schweiz sei wegen ihrer Beteiligung an Wirtschaftssanktionen jetzt «Partei im Wirtschaftsweltkrieg gegen das russische Volk». Deshalb könne die Schweiz auch keine Friedens- und Vermittlerdienste mehr leisten. Israel mache das besser.
Kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte der weltpolitische Generalist Köppel den Kremlchef noch als «überlegenen Strategen» gepriesen. In einem anderen Beitrag in seiner «Weltwoche», der ausgerechnet am Tage der russischen Ukraine-Invasion erschien, durfte ein angeblich profunder Putin-Kenner der Leserschaft erklären, der Moskauer Machthaber sei eigentlich ein «Missverstandener».
Gegen «moralisierende Medien»
Solche inzwischen peinlichen Parolen sind aus dem sprudelnden Redefluss des Welterklärers Köppel verschwunden. Er ereifert sich stattdessen in seinen täglichen Kanzelreden («Weltwoche Daily»), die einem auch dann per Mail zugeschickt werden, wenn man seine Postille nicht abonniert hat, umso salbungsvoller gegen die «moralisierenden» oder geradezu «kriegslüsternen» Medien hierzulande und anderswo, die sich die Freiheit herausnehmen, den mörderischen Krieg Putins in der Ukraine als Verbrechen zu bezeichnen. Viel klüger und souveräner wäre es, empfiehlt Köppel, sich zurückzulehnen, die Entwicklung ruhig zu beobachten und dann aus unaufgeregter Distanz die Tragödie möglichst objektiv und unter Berücksichtigung aller Facetten zu beurteilen. Die Toten in Charkiw, die Raketenangriffe auf Wohnhäuser in Kiew und die Millionen von Flüchtlingen, die aus der Ukraine strömen, scheinen Köppel nicht weiter zu beunruhigen. Über dieses Elend verliert er kein Wort. Er verkündet seiner Zuhörergemeinde täglich, wie gut gelaunt er sei.
Weil das grausame Geschehen in der Ukraine sich inzwischen für bekennende «Putin-Versteher» (von denen die meisten sich eher als «Putin-Claqueure» entlarven) gegenwärtig nicht für journalistisch knackige Betrachtungen eignet, konzentriert sich der Weltwoche-Chefdenker jetzt mehr auf abstrakte philosophische und staatspolitische Belehrungen. Er doziert über Max Webers Kategorien von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Und er lässt dabei keine Zweifel offen, dass er sich mit seinem Standpunkt der geistig überlegenen zweiten Gattung zurechnet.
Israel als neutralitätspolitisches Vorbild?
Ein anderes Thema in diesem Zusammenhang, für das sich der passionierte Besserwisser in die Schanze wirft, ist die schweizerische Neutralität. Diese sieht Köppel schwer und unheilschwanger verletzt, weil sich der Bundesrat nach kurzem Zögern den Wirtschaftssanktionen der EU und der USA gegen das kriegstreibende Putin-Russland angeschlossen hat. Für ihn ist das ein klarer «Neutralitätsbruch» gegen Russland. Dabei brauche doch die Welt «einen weissen Fleck auf der Landkarte», ein neutrales Land, in dem die Kriegsparteien «ohne Waffen» miteinander reden könnten.
Leuchtendes Beispiel für eine solche neutrale Funktion ist für den Oberanalytiker Köppel Israel. Ministerpräsident Naftali Bennett habe nur deshalb nach Moskau reisen können um zu vermitteln, weil seine Regierung auf Sanktionen verzichte, schrieb er in einem Beitrag für die NZZ. Israel als neutralitätspolitisches Vorbild für die Schweiz? Das mit der Supermacht USA militärisch und politisch am engsten verbündete Land im Nahen Osten? Hatte nicht die israelische Regierung Sharon die amerikanische Irak-Invasion mit herbeigeredet und begeistert unterstützt?
Und haben nach der russischen Ukraine-Aggression nicht auch Macron und Scholz mit Putin stundenlang geredet, um ihn zu einem Waffenstillstand zu bewegen, obwohl ihre Länder bei den Wirtschaftssanktionen voll dabei sind? Wenn Israel ein Beispiel in Sachen Neutralität sein soll, dann vor allem dafür, dass man Neutralität durchaus auch pragmatisch von Fall zu Fall und nicht als dogmatisches Prinzip praktizieren kann.
Überzeugung oder Marktkalkül?
Offenbar hat der Chefdenker in Sachen Ukraine-Krieg und Gralshüter helvetischer Neutralität das ausführliche Interview nicht gelesen oder einfach verdrängt, das einen Tag vor seinem NZZ-Artikel in der gleichen Zeitung mit Marco Jorio, dem langjährigen Chefredaktor des «Historischen Lexikons der Schweiz» zum Thema Neutralitätspolitik erschienen ist. Darin wird kompetent erklärt, dass die Schweiz schon Anfang der 1950er Jahre an Sanktionen gegen Russland mitgemacht hat. Und dass unser Land «allein in den letzten 20 Jahren» an Embargos gegenüber 35 Staaten mitbeteiligt war. Ausserdem, so betont Jorio, halte auch der Neutralitätsbericht des Bundes von 1993 fest, «dass Wirtschaftssanktionen gegen Friedensstörer und Völkerrechtsbrecher mit der Neutralität in Einklang stehen». Auch Im Fall des Iran seien Sanktionen mitverhängt worden, was nicht verhindert, dass die Schweiz in diesem Land erfolgreich gute Dienste zur Vertretung anderer Länder leisten könne.
Man fragt sich, was Roger Köppel dazu treibt, pausenlos seine Meinungen und Belehrungen zur Ukraine-Tragödie und dem vermeintlich «missverstandenen» Kriegsherrn im Kreml zu verbreiten. Glaubt er in seinem publizistischen Furor tatsächlich, was er dauernd predigt? Oder ist das einfach eine opportunistische Marktstrategie, um seine Kerngefolgschaft als zahlende Kundschaft bei der Stange und bei Laune zu halten? Wirft man gelegentlich einen Blick auf die zahlreichen reaktionären, ressentimentgeladenen, von Verschwörungstheorien vernebelten, gegen den sogenannten Mainstream zeternden Kommentare zu Köppels Kanzelreden, so neigt man eher der Erklärungsvariante vom publizistischen Marktkalkül zu.