Eines Tages, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, steigen zwei Männer, ein Rechtsanwalt und ein Arzt, zu einer Alp im gebirgigen Hinterland von Kristiania, dem heutigen Oslo, empor. Sie kaufen dort ein Grundstück und lassen einen weitläufigen, schlossartigen Gebäudekomplex errichten: das Sanatorium Torahus. Man hat in Europa genug von den Militärlazaretten; nun sind Sanatorien Mode geworden, die Wellness-Hotels der Zwischenkriegszeit. Die Bauern von Torahus, welche seit unvordenklicher Zeit ihr Vieh zur Weide treiben, kommen aus dem Staunen nicht heraus: „Sie legten sich auf den Bauch unten im Grase und meinten, alles, was sie sähen, wäre nur ein Traum. Es war doch nicht möglich, dass diese Häuser so stehenbleiben würden?“ Doch der Traum wird wahr. Der Direktor des Sanatoriums stellt Personal ein und rührt die Werbetrommel. Bald kommen die ersten Kurgäste an.
Die oben zitierten Sätze stehen am Beginn von Knut Hamsuns Roman „Das letzte Kapitel“, der im Jahre 1923 erschien. Der überaus produktive norwegische Autor war zu diesem Zeitpunkt 64 Jahre alt und weltberühmt. Im Jahre 1920 hatte er den Nobelpreis erhalten, und so verschiedenartige Schriftsteller wie Maxim Gorki und Thomas Mann spendeten ihm hohes Lob. Dabei deutete nichts an Knut Hamsuns Herkunft und früher Jugend auf eine solch erfolgreiche Laufbahn und auf so glanzvolle Ehrung hin. Als Sohn armer Bauern in Nordnorwegen aufgewachsen, verlebte Hamsun eine harte Kindheit, schloss keine Lehre ab, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und schrieb Trivialromane, die niemand las. Zweimal, 1883 und 1886, reiste er in die USA, sammelte als Tagelöhner und Journalist Lebenserfahrung und suchte als Autodidakt seine Bildung zu erweitern und seinen Stil zu schärfen. Der literarische Durchbruch kam 1890 nach seiner Rückkehr mit dem Roman „Hunger“, dem Bericht vom Scheitern eines Schriftstellers. Mit weiteren Werken festigte Hamsun seinen Ruf als eigenwilliger, aber genialer Autor und gewann sich – ähnlich wie vor ihm Ibsen – auch in Deutschland einen grossen Leserkreis.
Saugarme eines bösartigen Kraken
Im Jahre 1917 erschien Knut Hamsuns berühmtester Roman, der ihm den Nobelpreis eintrug: „Segen der Erde“. Der Autor wendet sich darin einem Thema zu, das sechs Jahre später im „Letzten Kapitel“ in abgewandelter Form wieder aufgegriffen wird: der Natur und ihren Gegensatz, der Zivilisation. Der Pioniersiedler Isak macht mit seiner Frau ein Stück unbesiedeltes Land urbar und erfährt in seiner schlichten Alltagsarbeit die mystische Tiefe des einfachen Lebens. Es finden sich in „Segen der Erde“ viele Passagen intensiv erlebter und dichterisch verklärter Naturverbundenheit. „Korn“, lesen wir etwa, „das war Brot, Korn oder nicht Korn, das war Leben oder Tod. Isak schritt barhäuptig und in Jesu Namen dahin und säte, er war wie ein Baumstumpf mit Händen, aber innerlich war er ein Kind.“
Der Lärm der städtischen Zivilisation liegt weitab vom Hinterland, wo das Leben seinem altgewohnten, ruhigen Rhythmus folgt. Aber eines Tages wird auf dem Grundstück Erz gefunden, und Begierden werden geweckt. Industrie und Kapital tasten sich wie die Saugarme eines bösartigen Kraken voran, zerstören die Idylle und ruinieren den Charakter der Menschen. Der Roman „Segen der Erde“ erinnert von fern an die Geschichten Peter Roseggers aus der Steiermark. Aber in seiner resoluten Abkehr von der Moderne und seiner pathetischen Berufung auf die irrationalen Urkräfte menschlichen Seins nähert sich Hamsun bedenklich der Blut-und Bodenliteratur des Nationalsozialisten. Kein Wunder, wenn dieses Buch zur Lieblingslektüre führender Nazi-Ideologen wurde. So urteilte Alfred Rosenberg in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“: „Der ‚Segen der Erde‘ ist das heutige grosse Epos des nordischen Willens in seiner ewigen Urform, heldisch auch hinterm Holzpflug, fruchtbringend in jeder Muskelregung, gradlinig bis ans unbekannte Ende.“
Karikaturen von Menschen
Doch kehren wir ins Sanatorium Torahus zurück, wo eben die ersten Kurgäste eingetroffen sind. Es sind höchst sonderbare Menschen, die dort ihr Unwesen treiben. Da ist zuerst die Bürolistin Julie d’Espard, ein hübsches, lebhaftes und etwas verwirrtes Ding, das stolz ist auf seinen Namen und darauf, dass es Französisch kann. Das Fräulein geht hin und wieder mit dem lungenkranken und hohlbrüstigen Herrn Fleming spazieren, einem Mann mit seidenen Strümpfen und eleganten Manieren, dem man nachsagt, er sei ein finnischer Graf. Dann gibt es den Herrn Magnus, vom Verfasser meist als „der Selbstmörder“ bezeichnet, ein unfroher und boshafter Mensch, der in der Welt keinen Sinn findet und mit sich Schluss machen möchte, aber dazu nie den geeigneten Augenblick findet. Der Selbstmörder steht in einem schwierigen Verhältnis zu Anton Moll, dessen Gesicht durch eine Schuppenflechte schrecklich entstellt ist und mit dem er sich meist streitet. Von den Damen wäre noch Frau Konsulin Ruben zu erwähnen, „unmenschlich dick und mit herrlichem dunklem Blick, die in Algier eine Schönheit gewesen wäre“. Oder die Mylady aus England, eine vornehme und gemütskranke Dame, Gattin eines Ministers, die sich zwar als Hochstaplerin erweist, auf die der Direktor des Etablissements aber besonders stolz ist.
Alle diese Kurgäste begegnen und meiden sich, führen mehr oder weniger belanglose Gespräche, hegen unbestimmte Hoffnungen und öden sich gegenseitig an. Sie fühlen sich unwohl, aber weder die gute Bergluft noch die ärztliche Pflege lindert oder heilt ihr vermutetes oder tatsächliches Leiden. Es sind Karikaturen von Menschen, die Hamsun auftreten lässt, keine Persönlichkeiten, die sich ein Lebensziel gesetzt hätten. Ihre Individualität gewinnt keine plastische Präsenz, sie bleiben blosse Schemen, Masken in einem düsteren Totentanz. Sie alle sind dekadente Opfer der städtischen Zivilisation, und ihre Krankheiten sind das, was man heute Zivilisationskrankheiten nennt: Neurosen, Depressionen, Allergien, Übergewicht, Bluthochdruck.
Unglücksfälle ohne Ende
Der Tod ist omnipräsent, und er trifft nicht nur die kränkelnden Gäste. „Die Menschen wimmelten durcheinander“, schreibt Hamsun, „und dann begann der Tod zu hausen. Er schlug willkürlich zu, ohne zu trachten, wohin er traf.“ In kurzer Zeit sterben nicht weniger als sieben Menschen, deren Leichen, damit der Ruf des Sanatoriums nicht Schaden leidet, möglichst unauffällig weggeschafft werden. Der Konsul Ruben kommt ins Sanatorium, um seine Frau zu besuchen und stirbt an einem Schlaganfall.
Ein Ochse, der sich losgerissen hat, nimmt eine Dame auf die Hörner und wirft sie in einen Abgrund. Ein Mann verunglückt tödlich beim Schlitteln. Der Arzt fällt in ein Loch, das die Fischer ins Eis gebohrt haben, kann sich zwar völlig durchnässt noch retten, stirbt aber wenig später an Lungenentzündung. An Weihnachten hält der Selbstmörder dem Fräulein d’Espard einen langen Vortrag über die Sinnlosigkeit des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes: „Sehen Sie sich mal den Vollmond an“, lässt Hamsun ihn sagen, „wir finden ihn hübsch, aber er ist so nützlich und träge, er steht nur da und langweilt sich. So geht es mit allem und mit uns allen, wir kommen um, wie wir uns auch drehen und wenden. Aber nicht wahr: Euch ist heute Nacht ein Erlöser geboren. Das sage ich nicht, um grosschnauzig zu sein; es kann gut sein, dass etwas daran ist, am Erlöser und an der Erlösung – die Erlösung von dem Dasein, das wir bekommen und uns nicht genommen haben, die Erlösung von einem Leben, das uns ohne den geringsten Wunsch aufgedrängt ist. Ach Gott, wie mystisch ist das alles!“ Und weiter: „Wir versuchen ja, dagegen anzugehen, wir reisen hierhin und dorthin, um zu entwischen, wir kommen hier ins Sanatorium, aber das scheint ein rechter Unglücksort zu sein, ein Totenhaus, wo einer nach dem andern zugrunde geht und in den Sarg gelegt wird.“
"Er verkam nicht hier oben"
Der Roman „Das letzte Kapitel“, das zeigt sich früh im Verlauf der Handlung, kann nur mit einer Katastrophe enden. In einer Sturmnacht bricht im Hauptgebäude des Sanatoriums ein Brand aus, dem die meisten Gäste zum Opfer fallen. Der Selbstmörder, ausgerechnet er, überlebt. Er will sich zwar erhängen, hat auch schon die Schlinge vorbereitet und den passenden Ast gefunden, aber zuletzt fehlt ihm der Mut.
Es gibt in dieser düsteren Versammlung zivilisationsgeschädigter Existenzen nur eine Figur, die sich als Lichtgestalt von den andern abhebt: der Bauer Daniel. Er lebt mit einer Magd in seinem nahe beim Sanatorium gelegenen Bauernhaus. Er ist jung und gesund, genügsam und zuverlässig. „Er verkam nicht hier oben“, schreibt Hamsun, „er lebte nach seinem Herzen. Hier war Einsamkeit, aber nicht Leere, die Aussicht war prachtvoll: meilenweit über die Berge und mit einer Fülle von Wald dazwischen. Er ging in seiner Arbeit auf; wurde er durstig, so schritt er mit seinem Blecheimer zum Bache, spülte ihn aus und nahm ihn gefüllt wieder mit. Hier war Stille, mit einem Hintergrund von Ewigkeitslauten...“ Zwischen Julie d’Espard und Daniel entwickelt sich ein Liebesverhältnis, was Julie nicht davon abhält, ihre Beziehung zu Herrn Fleming fortzuführen. Daniel klärt die Situation, indem er Fleming, der sich übrigens nicht als Graf, sondern als Betrüger erweist, mit einem Schuss aus seiner Jagdflinte erledigt. Dafür muss Daniel für sieben Jahre ins Gefängnis. Julie zieht in sein Bauernhaus, bringt ein Kind zur Welt, bewirtschaftet das Land und wartet auf ihren Geliebten.
Hilfloser Idiot?
Das Ende von Knut Hamsuns Romans vermag nicht zu überzeugen. Plötzlich muss alles sehr schnell gehen, und es sieht fast so aus, als sei dem Autor die Lust am Schreiben plötzlich abhandengekommen. Die Lust am Schreiben? Weit eher will es scheinen, als sei dieser Roman mit Unlust, ja mit bitterem Ingrimm verfasst worden.
Wir wissen von Hamsuns Biografen und seinem Sohn Tore, dass der Schriftsteller nach der Verleihung des Nobelpreises von einer schweren Lebenskrise heimgesucht wurde. Er hatte ein herrschaftliches Gut im Süden Norwegens erworben und sich mit seiner zweiten Frau Maria und den Kindern dort niedergelassen. Äusserlich gesund und rüstig, plagten ihn Unruhe, Niedergeschlagenheit und Todesahnungen. Er mied die verhasste städtische Gesellschaft, arbeitete in Hotelzimmern, gab seiner Verzweiflung in Briefen Ausdruck. Seiner Frau gegenüber klagte er: „Gott im Himmel weiss, ob ich nicht zum hilflosen Idioten werde, Marie!“ Und an seinen zehnjährigen Sohn schrieb er: „Du kannst mir glauben, ich schaffe es jetzt nicht mehr, schnell ein grosses Buch zu schreiben, ich bin jetzt dreiundsechzig Jahre alt, und in diesem Alter sterben viele.“
Es dürfte sich in der europäischen Literatur kaum ein Werk finden, in dem die Abrechnung mit der Gegenwart so gnadenlos betrieben und die Diagnose des kulturellen Untergangs so schonungslos gestellt wird wie im Roman „Das letzte Kapitel“. Jener Kulturpessimismus, der seit Spenglers „Untergang des Abendlandes“ das Schaffen vieler europäischer Intellektueller begleitete, findet hier wohl seinen radikalsten Ausdruck. Im Roman „Segen der Erde“ hatte Hamsun eine Art von Agrarutopie geschaffen und das Hohelied des Pionierbauern gesungen, der im Schweisse seines Angesichts den Boden bebaut. Mit „Das letzte Kapitel“ schaffte er das spiegelverkehrte Gegenbild: Hier steht die Zivilisation im Mittelpunkt und zeigt in den kränkelnden, moralisch unzuverlässigen Insassen eines Sanatoriums ihr hässlichstes Gesicht.
Hamsun, ein Verehrer Hitlers
Dass die Verweigerung der Moderne in gefährliche Nähe nationalsozialistischer Volkstumsideologie führen konnte, ist offensichtlich. Doch wenige Schriftsteller sind den fatalen Weg zum Bekenntnis für Hitler so rückhaltlos, konsequent und starrsinnig gegangen wie Knut Hamsun. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte der Schriftsteller für das wilhelminische Deutschland Partei ergriffen und mit pathologischem Hass die Niederlage Englands gewünscht.
Den Aufstieg der Nationalsozialisten verfolgte er mit steigender Sympathie. Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, stellte Hamsun sich mit mehreren öffentlichen Stellungnahmen hinter den Diktator, und die Kulturfunktionäre der Nazis vergalten es mit warmem Dank. Als der deutsche Pazifist und Publizist Carl von Ossietzky für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, versuchte er, freilich vergeblich, diese Wahl zu hintertreiben. Er trat in Verbindung mit dem norwegischen Nazi Vidkun Quisling, und als die Deutschen im April 1940 Norwegen überfielen, hielt er an seiner politischen Haltung fest.
Im Jahre 1943 suchte er Josef Goebbels, den grossen Verehrer seines Werks, in Berlin auf, und Adolf Hitler empfing ihn auf seiner Sommerresidenz, dem Berghof bei Berchtesgaden. Der Inhalt des Gesprächs ist überliefert. Der greise, schwerhörige Schriftsteller suchte eine Lockerung des deutschen Besatzungsregimes in Norwegen zu erreichen und redete mit so lauter Stimme auf den monologisierenden „Führer“ ein, dass dieser das Gespräch wütend abbrach.
Nach Kriegsende wurde Knut Hamsun des Landesverrats angeklagt. Die Bevölkerung, die ihn geliebt und verehrt hatte, wandte sich von ihm ab. Der Prozess zog sich über zwei Jahre hin; der dänische Schriftsteller Thorkild Hansen hat den Fall akribisch aufgearbeitet. Der rüstige Greis machte es den Psychiatern und Juristen nicht leicht, und die Verhörprotokolle sind nicht ohne den Reiz des Tragikomischen. Knut Hamsun wurde zu einer hohen Busse verurteilt; seine Frau und die Kinder, ebenfalls überzeugte Nationalsozialisten, wanderten ins Gefängnis.
"Das letzte Kapitel", "Zauberberg"
Die Geistesgeschichte liebt zuweilen aufschlussreiche Koinzidenzien. Ein Jahr nach dem „Letzten Kapitel“, 1924, erschien Thomas Manns „Zauberberg“. Die beiden Romane sind völlig unabhängig voneinander entstanden, haben aber doch ihre Ähnlichkeiten. Gemeinsam ist ihnen Ort und Personal der Handlung: ein Sanatorium im Gebirge, die bürgerliche Herkunft der Kurgäste. Beide Autoren haben mit einem ausufernden Stoff zu kämpfen und neigen zu karikierender Personenbeschreibung. Und schliesslich: Beide Romane enden mit einem Paukenschlag: mit einem Hotelbrand im einen und einem Duell im andern Fall.
Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied. Knut Hamsun nimmt Partei; alle seine Romanfiguren gehorchen dem Auftrag ihres Schöpfers, die These vom zersetzenden Einfluss der Zivilisation auf die Gesellschaft glaubhaft zu machen. Thomas Mann dagegen hält Distanz zu seinen Figuren. Auch bei ihm geht es im Grunde um den Gegensatz zwischen Zivilisation und Natur, wenn er seine beiden Protagonisten, den fortschrittsgläubigen Humanisten Settembrini und den dämonischen Reaktionär Naphta ihren Streit um die Seele des jungen Hans Castorp austragen lässt. Aber der Autor versagt sich jede Stellungnahme, wenn er Hans Castorp in eine unsichere Zukunft entlässt.